Gregor Kunz,
Ausstellungseröffnung Tanja Pohl, 17.September 2015, Bitterfeld, Galerie am Ratswall 22



Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,

was ist ein Kopf? Jedermann weiß, was ein Kopf ist, meinte seinerzeit André Breton, kein Freund einfacher Sätze, wie man weiß. Der Spruch prallte gegen einen der neuen Köpfe Giacomettis, eine organisch gemergelte Büste, und überzog sie mit einer schönen Patina, mit den Spuren der Stunde, die entscheidend war. Giacometti würde fortan noch viele Köpfe machen, unter anderem, um zu realisieren, was ein Kopf ist und sein kann. Der große Unbekannte im Spiel? Der letzte Halt vor dem wunschlosen Unglück? Auch das. Vielleicht...
Den Griechen in der Zeit Homers war der Kopf nichts ohne alles Andere, nichts ohne Hand und Fuß, Herz, Leber, Lunge, Milz... Auch daran mag es gelegen haben, dass sie von ihren Köpfen derart großartigen Gebrauch machen konnten. Den gegenwärtigen Helden der Effizienz hingegen scheint der Kopf alles zu sein. Sagen wir: Eine Maschine auf Eiweißbasis, lose mit Augen, Mund, Ohren verbunden, allseits verdrahtet und mit abwegig Naheliegendem befasst, ihrem Spiegelbild und der effizienten Weltverwüstung unter anderem...
Also, was ist ein Kopf? André Breton hatte recht: Nur das Wunderbare ist schön.

Ich kenne Arbeiten von Tanja Pohl seit 2012. Schon unter den ersten Arbeiten, die ich sah, waren diese festen, vielschichtigen Blätter, Unikatdrucke, in denen Linien und Flächen in oder als Mensch und Maschine agierten, in denen die widersprüchliche Symbiose Mensch-Maschine unterwegs war, lesbar als Landschaft, lesbar als Körper, Kopf, Konstruktion und Prozess, lesbar auch als Spannungsfeld aktiver Farben – Schwarz in allen Abstufungen bis zum Verschwinden, heftiges Rot, ein merkwürdig untergründiges Blau- und Graugrün, nächtliches Blau und fremdes Gelb.
Ich habe seither öfter Arbeiten Tanja Pohls gesehen. Sie ist bei ihrem Thema geblieben und das Thema bei ihr. Es war/ist immer spannend, dieser Kontinuität zu folgen und dem Wandel in der Kontinuität, dem langsamen, kreisenden Wandern der Elemente, der Betonung, der Musikalität in den Brüchen nachzugehen und den wirkmächtigen Emotionen im Blatt... (Emotion ist, nebenbei bemerkt, das, was junger Kunst heute oft fehlt: Als wäre die Welt fertig und nichts mehr zu machen, zu wünschen, zu betrauern, zu ändern. Als ginge es in der Kunst allein um kleine Warenproduktion, Darstellung, gesicherte Gesten.) Es gab immer wieder Arbeiten von ihr, die etwas Perfektes, Vollendetes haben und dann wieder diese kreisende Suchbewegungen der Variationen, mählich ins Offene. Es ist dieser Umgang mit dem Unbekannten, vermute ich, der in Bewegung hält und das Ankommen verhindert, das Eintreten in die Wiederholung, in diese stets offene Falle, die Kunst sterben lässt.

„Ich habe meist schon ein Thema im Kopf“, sagt sie. „Aber das kann sich ändern, weil mir das Bild an sich am wichtigsten ist. Wie meine Malerei auch, drehe ich die Drucke. Entweder gehe ich dann direkt mit Stift oder Farbe übers Blatt oder ich verändere die Platte. Auch überdrucke ich so lange, bis ich zufrieden bin, vorerst. Dadurch entstehen Farben und Formen, die nicht geplant waren, daraus, aus diesem Zufall, kann entweder gleich etwas Gutes entstehen oder ich kann wieder darauf reagieren und spiele damit.
Die kombinierte Tiefdruck gibt mir Möglichkeiten, die ich mit keinem anderen Medium hinbekomme. Die Kraft der Kaltnadel bekommt kein Stift hin. Und beim Ätzen ist immer ein hoher Anteil Zufall mit im Spiel. Das Diffuse und Unplanbare ist schon toll!
Ich produziere eigentlich keine Auflagen, sondern unikate Zustandsdrucke. Bei diesen Drucken kann man eine Entwicklung noch sehen, die in der Malerei weitgehend verschwunden oder nur zu erahnen ist.“

Was ist ein Kopf? Bogenlinien im Bündel und Rakelspuren, gefasst in dunklem Ocker, kein Gesicht und mehrere Gesichter, ein brüchiger Turm, ein Hirn, das plötzlich sichtbar wird und wogt im orangeroten Pendelschlag der Maschine, einer Uhr, „die nicht so kompliziert ist daß man sie nicht zerlegen könnte“ (Vitezslav Nezval: Der künftige Krieg)
Ein Bau, alt wie das Verhängnis und niemals fertig, in fahlgelber Ebene aufgerichtet und gegen den fahlgrauen Himmel gerichtet, ein Nicken aus dem Traum, gut oder böse, gleichviel, eine Fabrik auf dem Marsch oder erstarrt im Schlaf... Gewiss am Leben, sagt das Gelb, noch und wieder real, sagt das Schwarz, und unvermeidlich wie Backstein, Ruß, Beton und Eisen, Bäume: Ihr werdet schon sehen, sagt das Lächeln, passt blos auf.
Rot steht wie die Eins im Kalender, der Baum in der Straße, wohin? Gelb fährt aus in den panischen Sonntag, stößt an den Rand, den die Welt gar nicht hat, Augen gehen umher und Füße, Sprengstücken platzen und das Haar bricht, das Haar spricht: Du hier? Wer ist das und wer sonst noch in Kreis und Schrunde...

Künstler ergreifen, was sie ergriffen hat. Was sie nehmen und zusammenführen, reagiert und wandelt sich: Ins anders oder überhaupt erst Sichtbare. Kunstarbeit ist eine aktive Art des Erfahrens und der Deutung, angefangen mit dem Zugriff und dann weiter über Techniken, Verfahren, Umgang, Betrachtung, Diskussion und Wirkung. Wenn Künstler taugen, ist dabei unbedingt mehr als die Summe der Teile zu erwarten. Kunst, meine ich, fügt der Welt etwas Wesentliches hinzu, das anders nicht zu haben ist, sagen wir: Möglichkeiten der Erkenntnis und Möglichkeiten der Schönheit.
So wurzeln Sinn und Sinngebung in der Konstruktion und im Spiel, in der Begegnung erster, zweiter und dritter Natur, im Elementaren. Eins ist im Anderen in den Arbeiten Pohls, Kopf und Landschaft, Körper und Bau sind gleichermaßen der menschlichen Gesellschaftsnatur entnommen wie auf sie bezogen, gerichtet. Sie sind Symptome, Zeichen für Substanz und Defizite, Verluste, Kränkung, Wünsche, An- und Enteignung.
Mir scheint, es gibt in diesen Bildern immer auch etwas Überpersönliches, ein Müssen hinter dem Wollen, das im Bild und mit dem Bild zu wachsen scheint, ein selbsttätiges Leben der Elemente, von Strich und Farbe in Aktion und Reaktion. Dieses Müssen, wo immer es herkommt, ist wichtig: Wenn es um Wesentliches geht, meine ich, reicht das kleine unfeste Ich nicht aus, wenigstens nicht auf Dauer. In Pohls Titeln steckt dann ein (erstes, zögerndes) Benennen, eine Zuweisung, eine Rückbindung, ebenso eine erste Interpretation des Gewordenen.

In was für einer Welt wir leben, wie diese Welt hier beschaffen ist und was von ihr bleibt, die Frage liegt nahe vor diesen Bildern. Sie sprechen vom Leben in der Verwandlung, in verlorener/anderer Identität, vom in der Welt sein und zwischen den Identitäten, vom selbstverständlichen Leben und Sterben nicht nur der Dinge.
Komplexe Gesellschaften zerlegen per Arbeitsteilung und Maschinen Menschen in Funktionen, aber Kunst braucht Menschen im Ganzen, den Künstler und nicht weniger den Betrachter. Diese gemeinsame Arbeit, auch das Abarbeiten an einem wie immer abhandenem Ganzen, das begründet, glaube ich, die Notwendigkeit von Kunst, macht auch das zeitweilig Befriedigende der Kunst wesentlich mit aus und setzt/richtet ihren Stachel. Es ist eine Aufgabe der Kunst, herauszufinden, wie der Mensch beschaffen ist: Was an ihm Mensch ist/sein kann, schon oder noch das Soziale, was es heißt Mensch zu sein in dieser sinnarmen, durchmechanisierten, durchökonomisierten Welt.

Tanja Pohls Umgang mit dem Unbekannten ist erhellend, ihr Umgang mit der Realitäten ist von schönem Ernst. Dass sie offensichtlich nicht vorhat, an ein Ende zu kommen, hat meinen Beifall. Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und ihnen einen guten Abend.

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