Gregor Kunz, Ausstellungseröffnung:
Maja Nagel, unerlöst, Hoyerswerda, Kulturfabrik, 1.11.2019



Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,

Maja Nagel ist seit den frühen 80er Jahren in der Kunst unterwegs, in Zeichnung, Malerei und Collage, mit Performance und Installation und ihren bewegten Figuren im Animationsfilm; erfolgreich, wenn Qualität der Maßstab ist.
Es gehe um's Machen und Wollen mit Händen und Augen, Kopf und Körper, um das Erkennen, das Erfassen. Dieser Kern zeigt sich in der Zeichnung zuerst, elementar in der Spur, wenn die Hand Striche setzt, Schwünge, Flecken, konkrete Momente der Bewegung auf einen Zustand zu. Das abstrahierend Gestische wie der feinlinige, sehr konkrete Zugriff, der folgt, sind Suche, Begegnung, Weltbau und Interpretation, Umgang mit dem Unbekannten. Das Auge folgt, auch wenn es führt.
Ich höre, sagt sie, sehr auf das Material, die Form. Es ist ein Dialog mit den Dingen, ein Kreisen. Sie könne nicht rein abstrakt arbeiten, es brauche die Figur und ihre Spannung, das Stoffliche, Angreifbare. Sie könne das spielerisch machen, aber es brauche das Betreffen: „Es muss mich angehen“.
Was immer sie anfange, es kommt vom Bild her, sagt Nagel, und es führe ins Bild zurück. Das Bild fasse, was mit Worten nicht zu fassen geht, spüre im Ungewissen das Fassbare auf. In der schnellen, hochkonzentrierten Zeichnung fließt etwas zusammen, wird gültiger Ausdruck, in dem sich Unbekanntes mitteilt. Zuerst der Künstlerin, dann auch den Betrachtern –.
Es braucht Intensität, damit die Welt zum Material wird, und es braucht Intensität, damit die Welt im Material bleibt, in Strich und Farbe, Form und Figur, den Bildraum trägt. Ohne Vorlauf ist diese Intensität nicht zu haben, sie braucht die Erfahrung mit dem Material und die Erfahrungen des gelebten, reflektierten Lebens, Weltwissen. Sie verlangt verinnerlichtes Formbewusstsein, Gespür, ein gutes Handwerk. Künstler sollten etwas zu sagen haben und das auch können, wissen, was das Blatt verlangt.
Intensität ist beseelte Erfahrung. Kunstarbeit ist Arbeit in Permanenz. Was sie beschäftige, greift dann aus, erfasst alles, das Sehen vor allem, das Aufnehmen. Vorhaben setzen sich um in Reihen, Mustern, Rastern, seriell. Dazwischen entstehen Einzelstücken, Solitäre. Wenn sie ans Realisieren gehe, gebe es einen Plan, wenn der Arbeitsprozess an ein vorläufiges Ende komme, wäre der noch da, verändert allerdings, aufgehoben in der Arbeit, sich ähnlich oder auch nicht... Wenn sie ergreift, was sie ergriffen hat, beginnen die Metamorphosen.

Maja Nagel ist in ihren Bildern meist klar und immer deutlich. Jeder Strich ist nachzuvollziehen, jede Geste an ihrem Platz, jedes Ornament. Pfeile sind Pfeile, Gewehre Gewehre, die angedeutete Landschaft ist ganz sicher Landschaft, die Pflanzen sind, was sie sind, lebende Materie, die nicht sagt, was sie denkt... Wie sie Farben setzt, liegt klar zu Tage, was und wer ihre Figuren sind ebenso und auch was sie tun. Dass ihre Bilder, nicht auszudeuten sind oder gar zu leeren, gehört zu ihren Qualitäten.
Eins der hier gezeigten Blätter enthält zwei Gestalten, langbeinig gestreckt sitzt die eine, die andere schreitet über sie hinweg. Der Körper der Sitzenden ist grob gegittert, ebenso der Kopf; die Arme weisen weiß über den Körper hinweg in den Weg der Schreitenden. Dazu kommen vier rostbraune Flecken, in unterschiedlicher Größe getuscht und fünfeinhalb Flecken in Gelb-Grau und ein Bleistiftstrich. Mehr ist es nicht: eine ganze Welt. Die schreitende Gestalt hat Flügel, die sie um sich gelegt hat wie ein Hauptmann der Schwarzen Garde seinen Mantel. Der Sitzenden Kopf und Füße geben etwas ab, Ärger vielleicht, Groll und Trauer, unvermeidliches Mühen, mehr oder minder sichtbar. Irritierender, weil nicht zu fassen, ist der Blick beider. Es kann sein, die Blicke suchen und meiden sich zugleich. Hätten sie in ihren Köpfen Augen, wüßte man mehr. Der nach links ansteigende, leicht nach oben gewölbte Bleistiftstrich bezeichnet Ort und Horizont, das leicht nach links unten abfallende lange Rostbraun kontert und stiftet mit Strich, Sitzender und allem anderen ein Gleichgewicht, das nicht statisch ist. Es vibriert und lässt den Engel gehen. Wohin? Nach vorn. Alles Weitere wird man ihn fragen müssen.

Engel sind Boten, Helfer, immaterielle Zwischenweltbewohner, reine Form aus Licht gemacht, Geister ohne Gewicht und endlich kollektive Projektionen, ehedem der Furcht, allein zu bleiben mit den großen Kränkungen Alter und Tod. Tauchen sie heute auf, verkörpern sie eine Verlusterfahrung, die Gewissheit, das nicht ist, was da sein sollte und dringend gebraucht wird: Geist, Güte, Erbarmen, Rückhalt, wenigstens Sinn.
Dennoch, wenn schon sonst nichts, lässt es sich mit Engeln gut denken, reden, verhandeln, agieren auch. Rafael Alberti, der spanische Dichter, formulierte 1929:

„es kam der, den ich liebte,
der, den ich gerufen.

nicht jener, der schutzlose himmel fegt,
gestirne ohne unterschlupf,
monde ohne heimat,
schnee.
schnee, wie er einer hand entrieselt, ein name,
ein traum,
eine stirn.

nicht jener, der sich den tod
ums haar geschlungen hat.

der, den ich liebte.

ohne die lüfte zu schrammen,
ohne blätter zu ritzen oder fenster zu rütteln.
jener, der sich die stille
ums haar geschlungen hat.
um hier, ohne mir wehzutun,
ein flussbett lieblichen lichts in meiner brust zu
graben und meine seele schiffbar zu machen.“

Es kam, sagt Alberti, „Der gute Engel“. Nagels Engel sind die Anderen, eine lose Gattung, sehr eigen und jeder für sich. Sie kommen aus dem Grenzgebieten von Kunst und Mythologie, letztere verstanden als Netzwerk der Geschichten, die ihren Erzählern sagten, wer sie sind, wo und wozu. Ihre Gestalt ist mehr oder minder menschlich, aber metamorh, im Wandel zum Tier hin oder von ihm weg, gelegentlich auch ins Monströse. Sie sind meist weiblich, aber nicht nur und brauchen ihre Flügel tatsächlich zum Fliegen. Es sind Zeugen, die handeln, Begleiter im Geschehen, teilnehmende Beobachter und regulärer Teil der Welt. Gut und Böse fassen sie nicht, eher ist es umgekehrt; wie alles und jeder unterliegen sie dem einen mit dem anderen, aber da sie Engel sind: nie ganz. Wüsste man ihre Namen, verstände man ihre Sprache – denn die Sprache der Engel sind Namen – doch auch so kann man wissen, was ihnen zusetzt, wenn sie ihm zusetzen: Absolut gesetzte Partikularinteressen, absolut gesetzter Egoismus und die Hochform jeder zeitgenössischen Dummheit, das Nichtwissenwollen.

Ins Bild kommt, was fehlt und danach verlangt. Engel werden sichtbar, wenn sie einen Auftrag haben: etwas auszurichten oder auch an. Dazu haben sie alle Zeit der Welt, anders als wir. Erlösung bringen sie nicht.
Das Blatt „Unerlöst“ handelt davon. Sein Engel ist fast nur Kontur, ein transparentes Wesen, das nicht fliegen wird und laufen auch nicht. Was ihn hält, ist das, was ihn gemacht hat und definiert, eine dicke schwarze Linie, die unten als Boden beginnt, dann aufgeht, die Gestalt umfährt und wieder im Boden endet. Hinter ihm, um ihn und in ihm inszeniert die Zeichenkohle Aufruhr und Verhängnis, ein wüstes Treiben, dem allein die Kontur widersteht. Doch schwankt der Engel, auf und nieder fährt sein Einhornkopf, das Horn spurt Helles in die Finsternis, ein Bündel. Aus seinen vier Brüsten spritzt es dunkel, schwarze Milch. Was daraus wächst, ist der Engel selbst. Zwischen den Flügeln, die heftig schlagen müssen, sitzt ein Auge. Was sieht es?
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX)
„Unerlöst“, sagt Maja Nagel, „passt unbedingt in diese Zeit“. Eine Saat geht auf, gelegt in den letzten 30 Jahren der neoliberalen Zerstörung des Sozialen und der Gesellschaft. „Und das macht Angst. Ich habe das Gefühl, alle Menschen um mich herum sind unerlöst. Das kann so nicht gut gehen.“ Der Wunsch nach Erlösung ist der Glutkern aller Utopien und ohne Sinn ist schwer leben.

Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und ihnen einen guten Abend. Vielen Dank.



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