Gregor Kunz, Ausstellungseröffnung:
Maja Nagel, zeitschläge von weiß bis schwarz – zeichnungen und grafische blätter, Sorbisches Museum Bautzen, 20.6.2021 – 26.9.2021



Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,

Alles beginnt bei Maja Nagel mit der Zeichnung, ihre Kunstexistenz und jede Arbeit, die sie angefangen hat in gut 40 Jahren, ob nun weitergeführt in Malerei, in der Druckgrafik, als Installation oder im Animationsfilm. Zeichnen, so mein Erinnern, war in den 1980ern bei ihr ein Dauerzustand. Ob nun Besuch oder zufälliges Zusammentreffen, Tumult oder Stille: Die Hand war beschäftigt, häufig auf kleinen Zetteln, A5 und abwärts, während der Kopf sah, hörte, sprach, durchaus nicht nur fürs Zeichnen. In der Gegenwart läuft es untergründig ähnlich, doch notgedrungen anders: Augen, Kopf und Körper akkumulieren, während Alltag und Mittelbeschaffung die Lebenszeit besetzt halten; Arbeitszeit am Stück, ein bis zwei Wochen, muss mühsam freigeschaufelt werde, dann arbeiten Hand und Kopf und alles andere mit hohem Druck, aufs Projekt zu und den Stau ab. Notwendigerweise: Maja Nagel verhandelt in der Zeichnung mit der Welt, Existenzielles, was sonst.

Zeichnen kann mit dem Abbild beginnen, als dingnahe Übersetzung, die den konkreten Gegenstand fasst und interpretiert. Ein Stuhl ist ein Stuhl, ist ein Pferd, ist ein Sprung, der nicht endet. Oder das Zeichnen beginnt als Bewegung ins Unbekannte, ins wüste Weiß des Papiers, als suchende Geste der Hand, die dem Bündel der Fragen entgegenkommt – durchaus auch eigenmächtig. Nagels Arbeiten kommen von der einen Seite wie von der anderen, sie bewegen und begegnen sich zwischen diesen Polen. Alletagezeichnungen nennt Nagel aktuell den einen Zugriff, Fehdenfeste den anderen.
Er beginne im Chaos, sagt Paul Klee, es wäre das das Natürliche: Ich bin daher ruhig, weil ich fürs erste selber Chaos sein darf. Ein gewisses Feuer, zu werden, lebt auf, leitet sich durch die Hand weiter, strömt auf die Tafel und auf der Tafel, springt als Funke, den Kreis schließend, woher es kam: zurück ins Auge und weiter. Mit dem ersten gesetzten Punkt, darf man folgern, platzt demnach ein orphisches Weltei, der erste Strich, schwarz oder weiß, setzt Ordnungen in Gang und Bewegung, fordert und folgt Linien, Schwüngen, Knäueln, Bündeln und baut, paradox genug, am Wuchs.
Was immer sie anfange, es kommt vom Bild her, sagt Nagel, und es führt ins Bild zurück. Das Bild fasse, was mit Worten nicht zu fassen geht, spüre im Ungewissen das Fassbare auf. Was grad geschieht, wolle sie sehen. Was grad geschieht, ist nicht sichtbar, noch oder auch nie. Im Bild kann es das werden, sollte es auch. Was in der schnellen, hochkonzentrierten Zeichnung, „in der Bewegung ins Unbekannte“ zusammenfließt und im Dialog der Elemente gültiger Ausdruck wird, teilt dann auch Unbekanntes mit. Zuerst der Künstlerin, dann den Betrachtern. Paul Klee meinte dazu: Auch das Kunstwerk sei in erster Linie Genesis, niemals werde es als Produkt erlebt. Letzteres war der Wunsch Klees und benennt ein Problem, das in den letzten 100 Jahren stetig gewachsen ist: Einem fast schon ausschließenden Interesse an Produkten und Verwertung steht verbreitet ein fatales Nichtwissenwollen gegenüber. Die Zeichnungen sind ein Angebot, seine Annahme eine Hoffnung.

Es braucht Intensität, damit Welt zum Material wird, sagt Nagel. Intensität braucht Erfahrung, kommt aus gelebtem und reflektiertem Leben, aus Weltwissen, redlich erworben und erprobt; so bauen sich gutes Handwerk, Gespür und Formbewusstsein auf. Künstler sollten etwas zu sagen haben und das auch können. Maja Nagel hat und kann. Strich und Geste sind am genauen Platz, und jedes Ding. Pfeile sind Pfeile, Maschinen Maschinen, Hände sind Hände, Schirme und Augen sind, was sie sind und bedeuten. Landschaft ist aktiv, geprägte Prägung, in Pflanze, Ding, Figuren lebt Materie, die nicht sagt, was sie denkt: Wir sind, was wir tun. Wie Nagel die Kohle setzt, liegt klar zu Tage, was und wer sie ist ebenso, und auch ihr Tun: Agieren in Formen und Metamorphosen.
Sie höre, sagt sie, sehr auf das Material, die Form. Es ist ein Dialog mit den Dingen, ein Kreisen. Sie könne nicht rein abstrakt arbeiten, es brauche die Figur und ihre Spannung, das Stoffliche, Angreifbare. Sie könne das spielerisch machen, aber es brauche das Betreffen: „Es muss mich angehen“. Was sie beschäftigt, greife dann aus, erfasst alles, das Sehen vor allem, das Aufnehmen, stiftet das Zusammengehen. Vorhaben setzen sich um in Reihen, Mustern, Rastern, werden seriell. Dazwischen entstehen Einzelstücken.
In den raumgreifenden Zeichnungen klärt Nagel ihr Gelände, fügt und nimmt, immer aufs Neue eine Urlandschaft in Varianten, schrundig, keine Idylle. Zuverlässig agieren die Figuren, fast zwanglos, naturnah, doch hoch konzentriert, eine Nagelsche Spezies, Frauen und Männer, Kinder, Engel und Gerät, das Verhalten in Verhältnissen. Kenntlichkeit gehört zu den Qualitäten Nagels wie das Ausdeutbare, das kein Ende hat. Höchst merkwürdig auch: bei aller Härte, die sie haben können, fehlt in den Figuren weitgehend das Böse, werden sie gemocht. Auch so kommt Utopie ins Blatt, gegenläufig, im Widersprechen.

Fehdenfeste, das Wort kombiniert Unvereinbares in einem Dritten unbekannter Ausdehnung, passt also gut in die Zeit. Fehden sind kein Fest, sondern eher ein Schaden für alle Beteiligten. Überdies haben sie die Tendenz auszuufern in unendlicher Fortsetzung, was auf merkwürdige Weise mit meist nichtigen Anlässen und Begründungen korrespondiert. Wie sonst auch, bleibt nur die Vermutung, es gehe dabei um eine Art Sinngebung des Sinnlosen – wenn auch um eine wenig taugliche. Feste verweist in diesem Kontext auf Feste mit V, die feste Burg, das unbeweglich Rückwärtsgewandte von Kaiser und Tribun, autoaggressiv eingemauert in Antiutopie, gebannt in Fehlstellen. Was die Blätter sehen lassen, prägt der Titel mit: Konflikte und ihre unwahrscheinliche Auflösung, ihr Dauern in gespannten Koexistenzen, tragisch und komisch. Oder? Denke ich die Fehden- weg, bleibt koexistente Spannung, setze ich versuchsweise Freudenfeste, bleibt das gespannte Koexistieren. Fehden- aktiviert die Konflikte. Jeder für sich und Gott für alle: Titel sind wichtig.
Auf der anderen Seite stellen die Alletagezeichnungen das Material, vor unter anderem. Jedermann weiß, was ein Schuh ist, eine Lampe, ein Föhn. Doch treten Landschaft und Figuren hinzu, erfährt man erst, was das ist: eine Zange, das Radio, der Kamm. Und wozu man das braucht, Erdung zum Beispiel, und den genauen Blick. Auch hier gilt: Ohne Sinn ist schwer leben.
Form ist Sinngebung und letzten Endes der Griff nach der Welt, das Gespräch, geht’s gut, mit Allem. Das heißt auch, erfahren wollen, was die Welt von einem will, wollen kann, braucht, zulässt, erträgt. Was der Markt will, die Mode oder Nachbars Katze, kriegt man gesagt und aufgeschrieben bis zum Erbrechen. Alles andere muss gefunden, in aller Regel erarbeitet werden, geprobt und angewandt, vorangetrieben und überschritten. Was den Dialog mit Kunst verlangt, der älteren und der alten, wie mit der grundlegenden Natur, menschlich und außermenschlich. Aus absolut Vagem, sachlich Vagem macht Klee etwas formal ungewöhnlich Bestimmtes, schrieb Hausenstein 1914. Klee, an Kubin, übersetzte: Er ist so gescheit, der Hausen, daß er einsieht, daß man Mut haben muß.
Arbeit an Bildern ist Arbeit an der Emanzipation, von vorgewusster, gebundener, aufgezwungener Arbeit unter anderem, und von einer Notwendigkeit auf die nächste zu, der Erklärung immer ein Stück voraus. Ins Bild kommt, was fehlt und danach verlangt. In den Arbeiten Maja Nagels ist dieser Umstand weithin aktiv, ebenso das Aufrufen von Gegenwelten, das Beharren auf Sinn und Schönheit. In der schönen Formulierung Ernst Blochs unternimmt sie „sichtbar-unsichtbare Expeditionen hin nach Wesen“.

Damit genug der Interpretation, von meiner Sicht auf die Dinge. Was sie, verehrtes Publikum mit den hier versammelten Arbeiten anfangen, werden Sie selbst herausfinden. Bilder, das ist so ihre Art, wenn sie taugen, brauchen Köpfe, Augen, die sehen und das Potential unterm Schädeldach, um ihr Potential zu entfalten, das helle wie das dunkle... Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und ihnen einen guten Abend. In diesem Sinne: vielen Dank.

Mai-Juni 2021



zurück