Gregor Kunz, Ausstellungseröffnung:
kohle und grafit. Zeichnungen von Maja Nagel, Kunsthaus Raskolnikow, 29.November 2013.


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,

seit längerem schon ist Maja Nagel in Vielfalt unterwegs: in Bildern und Animationsfilm, Installation und Performance. Sie zeichnet und malt, fotografiert, klebt und montiert, stellt gefundene, gemachte Dinge zueinander, zu komplexen Bildstrecken, Bildfeldern, Bildstreifen, zu dem, was sie Augenfutter nennt. "Das Zusammenbringen der Unterschiede, diesen surrealen Zug, den hab ich sehr gerne... Ich weiß eigentlich nicht, was das bedeutet". Es geht am Ende auch immer darum, das zu erfahren. Die Praxis Kunst teilt Erfahrungen mit und verknüpft sie, die Erfahrungen der Künstlerin und die Erfahrungen des Betrachters, unter anderem die, das da mehr ist, als das Sichtbare.
Machen und Wollen benennen Nagels Antrieb, das Machen mit Händen und Augen. Dessen elementarer Kern zeigt sich zuerst in der Zeichnung, in dem also, was sie hier im Ausschnitt sehen können, in konkreten Momenten der Bewegung auf einen nächsten Zustand zu.
Wie in allen anderen Arbeiten auch, entspringen das Was und das Wie der Zeichnungen dem selben Kraftfeld, entsprechen sich also. Der feinlinige, sehr konkrete Zugriff und das abstrahierend Gestische sind assoziative Suche, Weltbau und Interpretation in wechselnder Gewichtung, Umgang und Reden mit dem Unberechenbaren, ein Mit- und auch ein Gegeneinander. Wohin? Auf einen gültigen Ausdruck zu, der mehr sein muss, als die Summe seiner Teile, in dem sich Unbekanntes mitteilt. Und der nie genügt, leider und Gott sei Dank.
Der Weg dahin mag verworren, schwer oder auch einfacher sein, aber eines geschieht dabei wohl immer: Künstler ergreifen, was sie ergriffen hat. Was sie im Dialog mit diesen Dingen dann an sich nehmen und zusammenführen, reagiert und wandelt sich: Ins anders oder überhaupt erst Sichtbare. Kunstarbeit ist eine Art des Erkennens, der Deutung, des Denkens, angefangen mit dem Zugriff und dann weiter über Techniken, Verfahren, Umgang, Betrachtung, Diskussion und Wirkung. Wenn die Künstler taugen, ergibt das etwas, das anders nicht zu haben und noch weniger zu erfahren gewesen wäre. Hier, im Kunsthaus Raskolnikow, sind es gemischte Wesen, Menschentiere als Möglichkeit und Frage, die einer Identität unter anderem: Einfach und schön sollten die Blätter sein, sagt Maja Nagel, doch darunter brodelt es.

Gemischten Wesen sind so alt wie die Kunst. Die Tiere, die von den Rentierjägern der Eiszeit an den Höhlenwänden von Lascaux, Chauvet, Altamira hinterlassen wurden, sind ja nicht Abbild oder wiederholte Natur. Sie sind in Bildern zusammengeführte Eigenschaften, Prinzipien, Wünsche, Ängste, sie bedeuten und bilden miteinander ein mythografisches Programm, das eine Welt zu deuten hatte. Im Prozess der rituellen Rezeption sagten sie ihren Schöpfern, wer sie sein können und also sind. Und einmal in der Welt, haben sie weiter gearbeitet in den Bildern und Texten nach ihnen, bis heute; in der schönen Formulierung von André Malraux: Gegen das Schicksal, das Irdische und den Tod.
Auch die Verbindungen, die Tier und Mensch überschreiten, finden sich sehr vereinzelt schon in dieser frühen Kunst. Gut verborgen an der tiefsten Stelle von Lascaux, fällt seit gut 17.000 Jahren ein ithyphallischer Vogelkopf-Mann vor einem Bison und fällt etwas aus diesem Bison heraus. Was da fällt, weiß heute niemand genau zu sagen. Wahrscheinlich wusste auch der Künstler nichts Genaues darüber. So sicher er seine Figuren formulierte, so sicher formulierte er auch ins Ungefähre. Aber der verborgene Ort spricht es aus: Es wäre wohl etwas sehr Heikles, aber notwendig wäre dies Fallen auch und wichtig.
Arbeit an Bildern, meine ich, ist immer Arbeit an der Emanzipation, damals wie heute, von Brot und gebundener Arbeit unter anderem, und von einer Notwendigkeit auf die nächste zu. Ins Bild kommt, was fehlt und danach verlangt.
Diese letzten zwei Sätze treffen auf Maja Nagels Arbeiten uneingeschränkt zu. Flügelkatzenmann und Bocksmensch, Minosschäfer und Wolfsfrau agieren im vollen Licht und behaupten ihr Dasein vor aller Augen. Dieses Dasein, war zu erfahren, verdanken sie keinem Plan, eher einem Anlass und seinen assoziativen Weiterungen, einer Suche und der Arbeit am Formalen, mit Kohle und Grafit. Ansätze diverser Arbeitsgebiete, Figurationen und Realia, das Feinlineare und die dunklen Ballungen, Schwünge, vagabundierende Lineaturen, Geometrie und Artefakte, die Arbeitsspuren, sollten sich im Blatt finden, auf dem Weg zu einem neuen Gesamt.
Und: Sie wollte einfach zeichnen, und auch das ist ja Grund genug. Aber zum Zeichnen gehört immer auch etwas, das gezeichnet (oder bezeichnet?) werden will. In den Worten Maja Nagels: Etwas wofür die Worte fehlen... Befrage ich wie oben angedeutet ihre Figurationen, erfahre ich: Etwas von ihnen kommt aus einem sehr alten und sehr gegenwärtigen Dunkel, und in diesem Dunkel gibt es noch mehr. Schönheit und Groll, Heiterkeit und Trauer, ein Lichterspiel, das nach seinen Namen sucht.

Damit genug der Interpretation, von meiner Sicht auf die Dinge. Was sie, verehrtes Publikum mit den hier versammelten Arbeiten anfangen, werden Sie selbst herausfinden. Bilder, das ist so ihre Art, wenn sie taugen, brauchen Köpfe, Augen, die sehen und das Potential unterm Schädeldach, um ihr Potential zu entfalten, das helle wie das dunkle... Ich wünsche der Ausstellung viele Besucher und ihnen einen guten Abend. In diesem Sinne: vielen Dank.


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