Gregor Kunz,
Ausstellungseröffnung, „Kunst heute“, Mestlin, 27.10.2012


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,

in „Kunst heute“ - Begriff und Sache selbst – steckten ein Versprechen und eine Behauptung, Wagemut oder auch ein bisschen Leichtsinn: Das Gewicht aller Kunst vordem, ihr ungeheurer Bestand und langer Vorlauf wird mit dem „heute“ glücklich zusammengehen, mit jenem Lande- und Absprungplatz der Engel, den man mit „heute“ zu fassen sucht, verankert in einer Verwaltungseinheit von 24 Stunden, die dennoch ein Nu sind, kaum begonnen und schon vorbei, nervöser Antrieb und trauriger Spott zugleich. Kann das gut gehen? Kunst konstituiert das Menschsein, im Heute agieren die Sinne so gut sie es vermögen und teilen sich mit. Kunst bleibt, wenn sie der Welt etwas Wesentliches hinzufügt, das anders nicht zu haben ist. Wann? Irgendwann heute, oder sobald wie möglich, es ist schon nicht anders! So wäre dann Kunst im Stapel der Gestern ein Heute auf Dauer? Wenn alles gut geht...

Sehe ich mich um, sehe ich die Kunst in merkwürdiger Blüte. Mehr Künstler als derzeit dürfte es vermutlich noch nie gegeben haben und mehr Kunstarbeit auch nicht. Vor den vollen Kunsthochschulen stehen die Adepten Schlange und voll sind die Galerien, Museen und Depots. Mit zeitnahen Arbeiten unter anderem, die in der Überschau eine kollektive Kunstausübung nahelegen, miteinander interessante Positionen sind oder sein können, Spiegel, geht man nur nah genug heran, gut irgendwie oder besser noch: wesentlich. Seltsam ist nur: Zwischen Kunst und Gesellschaft scheint die Kommunikation nicht besser zu funktionieren als ehedem, von beiden Seiten. Mengen haben ihre Wahrnehmung in der Welt und wirken, in der Kunst aber führen sie eher zu Überlagerungsrauschen und Verdrängung, stehen sie der Wahrnehmung und Wirkung und vermutlich selbst noch der Entfaltung im Weg.
Daran mag es auch liegen, aber das ist es nicht allein. Verwiesen aufs eigene Ich – eine höchst unsichere Variable - und an eine Gesellschaft in Zerfall und Wandlung, deren Teile sich dem Zugriff immer wieder entziehen, stehen die Künstler heute vor, zwischen aller Kunst vordem, allein letzten Endes und oft mit wenig mehr in den Händen, als einen Karren, den sie schieben dürfen. Die Not des Sagens war vielleicht nie größer und ebenso die Versuchung des Ausweichens.
Eine menschliche Grundkonstante und ein Bedürfnis, aber auch seltsam abgespalten, ist Kunst heute was? In dieser hochkomplexen Gesellschaft eine paradoxe Spezialisierung mit reduzierter, auslaufender, sich immer mehr verdünnender Verbindung zum Kult, zu magischem Denken und doch immer wieder nah am mythologischen Erzählen, gewiss. Und ein ungewisses Wozu. Der Markt sagt nur, was gerade geht bzw. verlangt wird: stapelbare Sammlerware, die immerhin Kunst sein darf, der Kunstbetrieb redet von Preisen und Rängen, Preisgeldern und Dienstjahren, d.h. selten über Kunst und wie jede feste Institution meist von sich, von Zugehörigkeit und Hierarchien.
Die Gesellschaft meldet sich gelegentlich mit A und O oder die Medien melden anstatt: „Deutschlands größter Künstler“ redigiert die „Welt“, oha!. Oder per Facebook: Das gefällt A, B oder C. Meist aber schweigt sie. Hallo? Ist da jemand?

Ja, doch, es sollte gut gehen, schon weil sonst wenig bleibt, was noch gut gehen kann. Das Jahr 2012 ist das 5. Jahr von „Kunst heute“ und signalisiert Bedürfnisse, die über jene der beteiligten Künstler – ihre Arbeit zu zeigen - hinausweisen. Das Bedürfnis nach Antworten etwa, anders in der Sprache und in der Sicht auf die Welt, als derzeit allgemein üblich: Die Märkte beruhigen – Schrägstrich – Die Wirtschaft ankurbeln – Schrägstrich – Kreativwirtschaft & Humptata: Alles wird gut! Ins 5te Jahr geht mittlerweile auch die Bankenkrise, die derzeit Finanzkrise heißt respektive Schuldenkrise, demnächst Depression heißen wird, oder T.I.N.A., Hugo, Alfred u.s.w.: Hier gibt’s nichts mehr! Und die geblieben sein wird, was sie war, ein Versagen der Politik, interessengeleitet oder naturbelassen, vor dem radikalen Agieren der Partikularinteressen der Finanzindustrie und der Geldbesitzer zu Lasten aller.
To big to fall, oder besser: zu wichtig, um Schaden zu nehmen, sollten uns die Städte und Dörfer nicht nur dieses Landes sein, eine gute Bildung für alle, ein intaktes Gesundheitswesen, auch für alle, ein Alter in Würde, eine Kultur jenseits billiger Unterhaltung, und natürlich die Künste. So gesehen ist das Bedürfnis nach Selbsthilfe, das ich in dieser Veranstaltung hier am Werk sehe, und das Bedürfnis, sich zu behaupten, genau das, was dringend gebraucht wird - Wagemut und Leichtsinn inklusive. Kunst ist eine Praxis, die nicht auf Kunst allein beschränkt bleiben muss.

Kunst hat mit Hunger zu tun, in mehr als einer Hinsicht: Ich wiederhole mich da gern. Welcher Art der ist, heute in Mestlin, wird man die Arbeiten der 28 versammelten Künstler befragen müssen, ihre Bilder, Skulpturen, Installationen... Was gehen sie an und wen, wenn sie angehen, und was betrifft, wenn sie betreffen, was haben sie verlangt von den Künstlern und was verlangen sie vom Betrachter?
Der Hunger in der Kunst, meine ich, ist der Hunger nach Sinn und das Verlangen nach Wesentlichem, der Wunsch auch nach einer anderen Welt in der Welt, ihrer Wahrnehmung in Vorstellung und Realität, wie versprengt und verborgen auch immer.
Odysseas Elytis, einer der großen Dichter der derzeit viel gescholtenen Griechen, hat 1977 in Bezug auf die Kunst der Collage seinen Hunger so formuliert: …wenn die Phantasie von zehn Dingen neun verliert, gewinnt sie doch stets das eine Zehntel: ein Nichts, das alles ist. Im Widerstreit mit dem Psychischem unterlag der praktische Mensch von vornherein. Er zerschliß wie sein Hemd – wäre es wenigstens aus Gold gewesen – in dem Augenblick, da der andere – wäre er wenigstens nackt – spürte, daß er sich in etwas Unersetzbares verwandelte. Weswegen ja auch die Kunst entstand: um jenen Teil unseres Selbst Wesenhaftigkeit zu verleihen, der, wenn er so existierte, dann niemals wieder so existieren könnte.
Unter diesem Blickwinkel ist die Geschichte der Kunst nichts anderes als eine Parallele zur Geschichte der Ereignisse, ohne das Moment der Zerstörung. Eine Geschichte, bestehend aus unauflöslichn Ringen. Die Generationen würden ihre Bindung aneinander verlieren wie Körperteile, die das Blut nicht zusammenhalten vermag, wenn sich nicht vom einen zum anderen Jahrhundert eine, stets andersartige Verwandtschaft herausbildete, nämlich eine immer stärkere. Hat sich schon jemand überlegt, wie viele Cousins von Della Francesca oder Vermeer es gab, die niemals in Arezzo oder Delft gewesen sind oder sein werden?
Das wäre eine andere – viel widerstandsfähigere – Dimension der Demokratie.“

In diesem Sinne wünsche ich uns und der Kunst gute Tage.

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