Gregor Kunz,
Ausstellungseröffnung Mestlin, 8.10.2011


Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde und Künstler,

wie an den Wänden des Kulturhauses Mestlin gut zu sehen ist – außen und innen und um sie herum – sind Muster etwas, das kaum zu vermeiden ist: Sie entstehen, sie bilden sich aus oder werden gesetzt von Interessen und Interessenten, gewaltsam, willkürlich, vernünftig irgendwie, all das mehr oder weniger. Die Landschaft um Mestlin und die Struktur der umliegenden Dörfer sind über Jahrhunderte geprägt worden, sie sind das lesbare Ergebnis kollektiven, weithin blinden Handelns, der halbwegs fest gewordene Niederschlag von Geschichte und Ökonomie, Geduld und Gewalt.
Muster sind eine Form der Ordnung, und schon daher notwendig: Das macht den Umgang mit ihnen nicht leicht. Kunst geht mit Mustern um, entledigt sich ohne zu erledigen, hebt sie auf und erliegt ihnen immer wieder. Für letzteres braucht es keine Gewalt, es reichen Vorgaben und Interessen, der Markt etwa, die übliche Zweckrationalität und gute Absichten: Nein, Kind, es gibt keine Monster...

Das jüngst zum Denkmal erklärte Ensemble um den Marx-Engels-Platz war ein realisierter Gegenentwurf, aus guten Wünschen gemacht und schwachem Material, war nach Absicht und Wirkung ein gebautes Erziehungsprogramm, das in Form wie Inhalt Vorgaben folgend Künftiges einüben sollte, einer ohnehin als unausweichlich gedachten Zukunft quasi im Vorgriff die Gestalt verleihen. Der frühe Vogel, so er Glück hat, fängt den Wurm, wenn nicht, holt ihn die Katze. Es war also, es sollte... Mestlin hat einmal in die Kategorie der gesetzten Muster gehört, aber das ist vorbei. Denn wohin gehört ein Muster, ein aufgestellter, gebauter Entwurf, dessen gesellschaftliches Wirkfeld fort, dessen Zukunft abhanden ist? Mestlin, so stellt es sich dar, ist 1990 aus seiner Zeit und deren Perspektiven gefallen. Unzeitig, unwirklich, fast unheimlich steckt das ehemalige „sozialistisches Musterdorf“ im gerade noch Möglichen, im Spaltraum zwischen den Identitäten, deren letzte Verschwinden heißen kann.
Im Kulturhaus Mestlin nun regelmäßig Kunst zu versammeln, ist so naheliegend, dass auch hier eine Notwendigkeit vorzuliegen scheint, ein Muster, diesmal zwischen, über, unter den Extremen. Sagen wir: Eines irregulären Vogels, der ebenso fliegt, und wiederum zeitig. (Rechtzeitig? Man wird sehen.)

Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor und der Traum der Vernunft ebenso. Es ist immer das Unerledigte, was die Gespenster auf die Beine bringt und in Rage, sie umtreibt und sprechen lässt auf den Wiedergängen, nachts und ebenso am Tage. Eine andere Welt ist einmal gedacht worden, eine andere Welt ist einmal für möglich gehalten worden, eingerichtet nach Kriterien der Vernunft und den Maßgaben der Gerechtigkeit. Auch: Eine andere Welt ist einmal in Gang gesetzt worden, aus Vernunftgründen und Gründen der Gerechtigkeit und mit unvernünftigem Wollen, mit Zwang und Überredung, Einschluss und Ausschluss, Gewalt: Alles zum Wohle des Menschen. Noch jeder dieser Versuche ist gescheitert, an seinen Absichten unter anderem, irre geworden an der Vernunft, am Menschen, an sich selbst. Goya setzte 1794 seinen Satz als ersten Titel über seine Caprichos (dann ins Blatt 43). Er würde gut ins Mestliner Kulturhaus passen, zusammen mit Klees Engel der Geschichte und dem tobenden Hausengel von Max Ernst. Es geht in der menschlichen Geschichte nicht anders zu als im menschlichen Leben überhaupt: Verschenkte Möglichkeiten und ungenutztes Potential kränken und machen bitter.

Ein leeres Kulturhaus ist was? Eine betonte Fehlstelle, eine dauernde Abwesenheit, die ausdauernd fordert: Öffnen und Füllen. Nach den wohlfeilen, jämmerlichen Angeboten des Zeitgeists sind es jetzt wieder die Gemeinde und die Kunst, die in der Pflicht stehen oder in ihren Rechten. Beide, Gemeinde wie Künstler, werden allein und für sich das Haus kaum füllen können, allenfalls temporär besetzen oder bespielen, und vielleicht ist das auch gut so. Aber es mit Sinn versehen, das sollte gehen. Sinn, meinte André Malraux, würde dieser – unserer - realexistierenden Markt-Gesellschaft weitgehend oder auch gänzlich fehlen und wäre nach Lage der Dinge nur noch über die Kunst zu haben. Dass an dieser Aussage Wahres ist, steht für mich fest. Der seit zwei Jahrzehnten fast uneingeschränkt herrschende Markt beruht auf den Partikularinteressen, die er bedient, sein vermutlich reinster Ausdruck, die Finanzindustrie, handelt mit Nichts zum Schaden fast aller. Beides galt bis vor kurzem fast überall als vernünftiges Ziel und Endstufe der Geschichte... Da „der Markt“ gerade von der Weltvernunft zur Bestie mutiert ist, rätselt seine Dienerschaft in der selbstvergessenen Politik wie dieses Monster zu beruhigen sei. Bei Hunden, habe ich mir sagen lassen, hilft Gähnen. Goya übrigens sah sich als Mann der Vernunft, der Aufklärung. Malraux versah in seinem exzellenten Goya-Essay diese Aussage mit einem blauen Fragezeichen. Warum nur? Besieht man die gut 200 Jahre alten Blätter Goyas, dann zog er das Ungeheure, Monströse, das Grauen aus den menschlichen Verhältnissen und arbeitete damit. Ein Bild machen heißt mit Wirklichkeit umgehen, weniger kollegial als rivalisierend realisieren.

Ohne Sinn ist schwer zu leben (und selbst Sterben nicht einfach), auch das ist ein bleibendes Muster. Dass aber Kunst allein diese Leerstelle auszufüllen in der Lage sei, daran habe ich erhebliche Zweifel. Sinn muss in der Gesellschaft für die Gesellschaft hergestellt werden und das kann Kunst allein nicht leisten – wenigstens nicht auf Dauer. Sie wäre damit überfordert und die Künstler sowieso. Allerdings kann und sollte ihr Anteil immer erheblich sein: Eine Antwort auf noch nicht gestellte Fragen zum Beispiel, das Angebot und die Kritik einer Gegenwelt. „Das einzige, was ein Kunstwerk kann“, meinte Heiner Müller, „ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt.“ Kunst kann mehr, aber der Satz ist nicht falsch und gefällt mir. Die Welt – man ziehe um Mestlin den größtmöglichen Kreis: die da also – ist in keinem guten Zustand und dass wir grad in einer kommoden Ecke siedeln, ändert daran nichts.

Was Kunst sonst noch kann und unter Umständen soll – nein, davon werden sie von mir nichts hören. Ich könnte natürlich von ernsthaften Spielern reden und ihren Verhältnissen zur Konsequenz, von eingreifender Formgebung und zugreifenden Gleichgewichtssystemen, von dem, was gegangen ist und just sich umdreht, vom Arbeiten-bis-es-stimmt und von der Macht des Materials, von Türen ohne Haus, den dunklen Stimmen und dunkleren Absichten, von durchwachsenen Mantelfragen und wuchernden Angeboten, dem Zeitstrom im Breitband, darin es rudert, den Brüchen in Strich und Faden, Bau und Nachbau... Nein, nichts davon. Den Teufel werde ich tun. Das sind Beobachtungen, Zuweisungen auch, die gestimmt haben, für mich und im Lichte eines konkreten Nachmittags... Vielleicht noch so viel: ich empfinde die 3tte Ausstellung in Mestlin als angenehm vielstimmig und dieses Muster als ausbaufähig. Ansonsten reicht es mir völlig, wenn Künstler mit ihren Mitteln der Welt etwas Wesentliches hinzufügen, das anders nicht zu haben ist.

zurück