Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde, Herr Ministerpräsident.

Zeitgänge sind Spuren und Bewegungen, der Gang der Dinge in jedem Augenblick. Backsteine in der Sonne und Knochen im Kies, Wollnashornknochen, alt wie die Braunkohle, die Knochen der Bauern, Pferde und Soldaten. Insektenlarven in der Fahrzeugspur vom Vorjahr, die Gänge der Maulwürfe in den Wiesen. Das Gras selbst, das auf Gras wächst, seit es Gras gibt.

Jeder Mensch ist ein Zeitgang, zwangsläufig und bewusst-unbewusst mit der Zeit, in der Zeit und gegen sie unterwegs. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, irgendwo im Nichtmenschlichen nehmen die Ketten der Verwandtschaft ihren Anfang, irgendwann enden sie im Nicht-Mehr. Identität, was man ICH nennt, ist steter Wandel, ein unfester Inhalt in dauernder Metamorphose begriffen, die Ich sagt, Ja und Nein oder auch gar nichts. ICH ist, was die Zeitläufe zu- und übriggelassen haben, geprägt von Erfahrungen, Wünschen und Ängsten, Wissen und Ideologien, Trieben, Ahnungen, Ideen… „In Anbetracht auch, dass der Mensch in Wirklichkeit ein Tier ist und mich dennoch, kaum dass er sich umdreht, mit seiner Traurigkeit über den Kopf haut… Nach abschließender Prüfung seiner gefundenen Zimmer, seines Aborts, seiner Verzweiflung, wenn er seinen grausamen Tag endigt und durchstreicht…“ So sagt es César Vallejo.

Das Altern ist ein Zeitgang und das Miteinander in Partnerschaften, das Gegen- und Miteinander in Kollektiven. Straßen, Kämpfe und Kunst sind Zeitgänge und Mecklenburg-Vorpommern ist einer, sichtbar in den kollektiv geprägten Strukturen, dem Abbild des Handelns in der Landschaft, dem fest gewordenen Niederschlag von Geschichte und Ökonomie, Geduld und Gewalt. In Stadt und Landschaft wie in den abstrakten Summen der Bilanzen und Vermögen stecken Arbeit und Elend, vielleicht ein paar Gramm Glück, alles sehr konkret. Wie anders? Nicht zu vergessen die ewigen Kriege und die beharrlich, mit allen Mitteln verteidigten Privilegien. Nicht zu vergessen Güte und Utopien, die Liebe zwischen und zu, das beharrliche Angreifen der „unüberwindbaren, hirnbespritzten Mauer des Geldes“, wie es André Breton verlangte.

Kunst, sagt Paul Klee, gebe nicht das Sichtbare wieder, sondern mache sichtbar. Zeitgänge treffen sich: Nicht nur hier.

Die 20. Kunstschau des KBMV war und ist immer noch ein Experiment, eine schöne Erfahrung. Angefangen mit dem Ausstellungsort als Provisorium fern des Kunstbetriebs und nicht beendet mit dem stachligen Themenbündel „Zeitgänge: Lebensentwürfe und Kunstarbeit in Mecklenburg-Vorpommern“. Ausdrücklich vom Kurator verlangt war der fremde Blick auf das Arbeiten und die Arbeitsbedingungen im Lande, etwas, womit ich bis zu einem gewissen Grade dienen konnte. Dem Kurator wieder ging es um eine Auseinandersetzung mit Ort, Zeit und eigenem Tun, um eine sanft herbeizuführende Struktur, eine Gelegenheit für unvorhergesehene Begegnungen und Reaktionen, für Zeitgänge und Zeitwürmer, bohrende Fragen und mehrstimmiges Antworten, ein Zusammengehen autonomer Positionen, ein Spiel für Kunst, das am Ende mehr hergeben sollte als nur die Summe seiner Teile. Hätte das schief gehen können? Ich glaube, das will ich gar nicht so genau wissen. Ausstellungen dieser Art, das war zu lernen, entwickeln sich ähnlich der Kunst selbst: indem sie sich einer ungefähren Vorstellung nähern, verändern sie diese und treten über diesen Dialog ins Reich des Möglichen ein. Auch werden sie nie fertig.

Ich habe die Künstler nach den mir zugänglichen Arbeiten eingeladen, reagierend auf Sicht, nach Spruch und Widerspruch und, mit Umberto Eco gesprochen, „ohne andere Rechtfertigungen als die Seinsgründe des Begehrens“. Was mich jeweils angesprochen hat, ist auch mein Richtungswunsch an die Künstler gewesen.

29 Künstler sind der Einladung gefolgt und haben 38 Räume mit ihren materialisierten Lebensentwürfen und Wünschen gefüllt, mit ihrer Kunstarbeit und ihren Ansagen zu Zeit und Leben. Jedem stand frei, sich mit dem Ort Weitendorf und mit dem Thema Zeitgänge nach eigener Vorstellung auseinander zu setzen, womit auch immer. Wie es sich gehört, haben die Künstler davon rege Gebrauch gemacht. Ein großer Teil der Arbeiten ist für diesen Ort entstanden, wurde vom Ort verändert und teilweise auch am Ort realisiert. Selbstverständlich ging das ohne ständiges Improvisieren nicht ab.

Es hat mir sehr gefallen, wie die Künstler in den letzten 18 Tagen ihre Räume gefüllt haben und eine Wunderkammer nach der anderen aufging. Wie der unermüdliche TO Helbig die Gänge mit Weiß überzog und die Kunstarbeiten/ Kunsterfahrungen ins Gespräch kamen, die autonomen Teile sich im spannenden Ganzen wiederfanden. Wie in einer parallelen Aktion der von Renate Schürmeyer gestaltete Katalog und damit die Ausstellung noch einmal Gestalt anzunehmen begann. „Zeitgänge“ ist auch eine kollektive Leistung. Meine Wünsche haben sich erfüllt, auch die, von denen ich eingangs noch nichts wissen konnte. Ich hoffe, es ging und geht allen Beteiligten damit ebenso. Seine Zeit nutzen, einem Zeitgang folgen, in dem man ihn anlegt: So sollte es sein. Ich sage Danke und übergebe die „Zeitgänge“ an das hoffentlich reichlich strömende Publikum.

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