Gregor Kunz:

Zeitgänge - Lebensentwürfe und Kunstarbeit in Mecklenburg-Vorpommern.


Thesen, Vermutungen, Antworten und (noch mehr) Fragen, Weitendorf und die 20.Kunstschau des KBMV




Zeitgänge: Spuren und Bewegung, der Stand der Dinge in jedem Augenblick. Das Blöken eines Schafs, Backsteine in der Sonne und Knochen im Kies, Wollnashornknochen, alt wie die Braunkohle, die Knochen der Bauern, Pferde und Soldaten. Insektenlarven in der Fahrzeugspur vom Vorjahr, die Gänge der Mäuse im Schnee, im gilben Gras Ende März. Das Gras selbst, das auf Gras wächst, seit es Gras gibt. Zigarettenkippen und Kronkorken vor dem Bahnhof Güstrow, eben noch da vor dem lange/unlängst/gerade geschlossenen Speicher „Aug. Haackert, Kohlen, Baustoffe, Eisen“. Die Schrift ist schwarz auf weißem Grund, verblichen, ausgedünnt, die fehlenden Partikel vagabundieren im Umland: „Wie weit hinkte ich denn hinterher? Zeit, in die Gänge zu kommen.“ (Ken Bruen)
      In den Schülern leben die Lehrer, die Maus lebt in der Katze, der Sand im Fels. Jeder Mensch ist ein Zeitgang, zwangsläufig und bewusst-unbewusst mit der Zeit, in der Zeit und gegen sie unterwegs. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, irgendwo im Nichtmenschlichen nehmen die Ketten der Verwandtschaft ihren Anfang, irgendwann enden sie im Nichts-Mehr, wie es sich gehört mit einem Röcheln. Identität, was man ICH nennt, ist steter Wandel, ein unfester Inhalt in dauernder Metamorphose begriffen, die Ich sagt, Ja und Nein oder auch gar nichts. ICH ist, was die Zeitläufe zu- und übriggelassen haben, geprägt von Erfahrungen, Wünschen und Ängsten, Wissen und Ideologien, Trieben, Ahnungen und Ideen… „In Anbetracht auch, dass der Mensch in Wirklichkeit ein Tier ist und mich dennoch, kaum dass er sich umdreht, mit seiner Traurigkeit über den Kopf haut… Nach abschließender Prüfung seiner gefundenen Zimmer, seines Aborts, seiner Verzweiflung, wenn er seinen grausamen Tag endigt und durchstreicht…“ (César Vallejo) Was wären wir ohne Geheimnis. Verloren vermutlich.
      Das Altern ist ein Zeitgang und das Miteinander in Partnerschaften, das Gegen- und Miteinander in Kollektiven. Straßen, je älter desto mehr, Kämpfe und Kunst sind Zeitgänge und Mecklenburg-Vorpommern ist einer, sichtbar in den kollektiv geprägten Strukturen, dem Abbild des Handelns in der Landschaft, dem fest gewordenen Niederschlag von Geschichte und Ökonomie, Geduld und Gewalt. In Stadt und Landschaft wie in den abstrakten Summen der Bilanzen und Vermögen stecken Arbeit, Elend, Knechtschaft, vielleicht ein paar Gramm Glück, alles sehr konkret. Was auch sonst. Nicht zu vergessen die ewigen Kriege und die beharrlich, mit allen Mitteln verteidigten Privilegien. Nicht zu vergessen Güte und Utopien, die Liebe zwischen und zu, das beharrliche Angreifen der „unüberwindbaren, hirnbespritzten Mauer des Geldes“ (André Breton).
      Kunst, sagt Paul Klee, gebe nicht das Sichtbare wieder, sondern mache sichtbar. Die Zeitgänge treffen sich: Nicht nur hier.

Weitendorf lebt zwischen Weitendorf und Weitendorf. Anfang und Ende sind unbekannt. Die erste Schriftspur 1229 meinte nicht mehr, als das Weytendorp die Erwähnung lohne, das Hiersein, nicht mehr und nicht weniger. Groten- und Lütken-, die Vorsilben Groß- und Klein- lassen eine deutsche Kolonistensiedlung vermuten, am Ende der großen Rodungen von westwärts angeworbenen Einwanderern neben ein bestehendes slawisches Dorf gesetzt. Im Namen stecken vermutlich die Weide – Grasland und Baum – und vielleicht die Erweiterung und die offene Stelle. Der Blick ins weite Umland war wohl nicht gemeint. Der Ort liegt in einer leichten Senke bei 25 m über NN, am Zusammenfluss wenigstens zweier Wasserfäden, das Umland wellt sich bis zu 33 Metern auf. Obwohl… Groß-Weitendorf wird mit der Kirche angelegt worden sein, aber wo Klein-Weitendorf genau gelegen hat, weiß kein Mensch mehr. Vermutet wird es nördlich, in der Gegend um die Windmühle, die es auch nicht mehr gibt.
      Als Grundherren erscheinen v. Barnekow, Witte, Nortmann, Sasse, Sorow, das Kloster zum heiligen Kreuz und die Stadt Laage, nach- wie miteinander. Ein Nebengut des Schlosses Rossewitz wächst sich bis gegen 1500 zur adligen Eigenwirtschaft aus und zieht die Weitendörfer an sich. Die Zuweisung Groß- und Klein- verschwindet und mit ihr verschwinden die Höfe der Bauern, fast alle: Weitendorf wird Gut, seit 1450 mehr oder minder im Besitz der Vieregge und Teil eines Besitz- und Herrschaftskonglomerats aus bis zu 18 Dörfern und Gütern. Aus der Fläche des Guts von 1111,5 ha (1924) lässt sich die Zahl der möglichen Bauernstellen ableiten und damit die ungefähre Einwohnerschaft der einstigen Bauerndörfer angeben. (Grundlage einer vollen Bauernstelle war die Hufe, ihre Größe korrespondierte mit der Bodengüte und variierte mit der Zeit, im hiesigen Rodungsgebiet war’s die flämische mit rund 16 ha, doppelt vergeben, die Hufe im Altsiedelland und die slawische Hufe waren deutlich kleiner.) Die rund 35 Höfe werden bis zu 350 Leute ernährt haben, dazu die Leute des Grundherren, den Pfarrer und seine Haushälterinnen. Für das Jahr 1848 werden in Weitendorf nur noch eine Schmiede, eine Mühle, fünf Hauswirte und eine Schule gemeldet. Besitzer des Ganzen war ein Gustav v. Viereck.
      Mit den Umbauten im 19. Jahrhundert eher kahl denn prächtig geraten, hatte das Gutshaus doch alles Nötige beisammen. Es war mit zweieinhalb Geschossen höher als seine Umgebung und hübsch symmetrisch. Nach heutiger Lage stand es im rechten Winkel zur ehemaligen Berufsschule und der Kirche genau gegenüber, die Wirtschafts- und Wohngebäude bildeten westwärts ein langgezogenes Viereck bzw. standen aufgereiht an der Straße gen Schwaan. Zwischen Gutshaus und Kirche lag einmal ein barocker Park nach französischem Muster, eine in die Fläche gebreitete Fassade mithin und ein Anspruch: Ich ist Mitte und schaut dem Herrgott in die Fenster. Falls er dafür Zeit übrig hatte, schaute der Herrgott vielleicht auch einmal zurück und dachte sich seinen Teil. Vierecke in Weitendorf, so, so.
      Das Gutshaus brannte 1945 herunter, das Gut selbst blieb zur Versorgung der Roten Armee bestehen und wurde dann volkseigen. Der Park ist heute eine Lindenallee und ein englisch geordneter Wald, das heftige Baumarktbunt an der Landstraße pfeift schräge Töne ins Land. Alles wird gut, nur Mut! Der Teufel wird wissen warum.
      In der Betriebsberufsschule des VEG (Z) Saatzucht Weitendorf wurden für die Genossenschaften und Volksgüter der DDR tüchtige Landwirte ausgebildet, reguläre Facharbeiter in der Tier- und Pflanzenproduktion und mögliche Erbauer einer frohen und sonst nicht näher definierten Zukunft. Im Lehrlingswohnheim ist sicher viel geredet worden – in vielen Sprachen übrigens – geträumt, gelärmt und gesoffen, Fug und Unfug getrieben, geliebt. Vorwärts, Kinder… im Frühtau zu Bergen das Haar steht. Jugend ist Trunkenheit und Heimweh, wovon und wonach, das wechselt. Wie man hört, kommen die Ehemaligen immer noch her und schauen und schauen.
      Die Geschichte kennt keine Sieger, nur Ehemals und offene Enden. Es gibt viel Ehemals in Weitendorf. Und die Kunst? Über Kunst wird viel geredet, das ist kein gutes Zeichen. Ein gutes Zeichen ist ihre Versammlung am kunstfernen Ort. Wofür? Für den erfreulichen Ernst der Lage.

Die Provinz Mecklenburg-Vorpommern ist ein Erfahrungsraum. Sie bietet Erfahrungen und Möglichkeiten, die nur hier zu haben sind (wie, allgemein und spezifisch, jede Provinz, verstanden als Kultur- und Geschichtslandschaft außerhalb der Metropolen). Was macht das mit den Künstlern, und wie arbeitet die Provinz in der/in ihrer Kunst? Wenn es stimmt, dass die ganze Person des Künstlers in seiner Arbeit steckt, dann müsste dieser Erfahrungsraum, ein Niederschlag von Geschichte, Ökonomie, Gesellschaft, Erfahrung und Wissen, Gefühl und Geschmack, müssten Stadt, Land, Fluss und See etc. in dieser Arbeit anwesend sein. Anwesend, nicht unbedingt sichtbar.
      Eine eher minimalistische Definition von Kunst als einer „Essenz aus gelebtem Leben und Kreativität“ (Klaus Biesenbach) fasst diesen Aspekt jedenfalls mit ein. Kunst fügt der Welt Wesentliches hinzu, das anders nicht zu haben ist, wäre eine maximalistische Variante, die Plastikpop, Gefühlsdekoration, pseudonaive Blankoentnahmen und gut gemeinte Absichtserklärungen jedenfalls ausschließt. Nach Maßgabe meines einfachen Osteisenbahnerverstandes nicht eben alles, aber doch viel von dem, was überall zu machen geht.
      Ich habe mein Vermuten formuliert, mit Fragen versehen und mitsamt einer Einladung nach Weitendorf an einige 30 Künstler verschickt,. Die Antworten kamen zögernd: Ja und Jein, Themenwechsel und Schweigen. In einer Stimmencollage, geschnitten und montiert, hört sich das so an:

Das „Draußen“ ist mein Zuhause, der Ort, an dem ich mich niemals einsam fühle und immer ganz bei mir bin. Mecklenburg ist der ideale Ort, um zu sich selbst zu finden – eben weil hier nichts ist. Hier passiert nur das, was du selber tust… Ich denke, man richtet sich sein Leben so ein, dass es einem die Erfahrungen bringt, die man braucht… Eigentlich möchte ich nur malen. da ist mir der Ort egal. Aber ich habe auch schon erlebt, dass der Ort doch nicht egal ist. Dieses Land hat meiner Arbeit einiges an Ruhe, Klarheit, Geradlinigkeit gebracht. Ich lebe als Teil der Natur, in ihr und mit ihr. Das macht etwas mit dir, mit den Bildern. Das wache Ausgesetztsein fließt in die Bilderwelt ein, unwillkürlich, nicht vordergründig. Der Einfluss hält an. In den letzten ca. 10 Jahren stellte ich beinah erstaunt fest, dass Natur, Landschaft und eben die besondere Rezeptur dieses mir mehr und mehr entgegenkommenden Landstriches Raum in meinen Bildern und Skulpturen finden. Es gab und gibt Anlehnungen an geologische Besonderheiten der durch die Eiszeiten verformten Flure, eine große längerweilende Arbeit zur Ostsee formt sich aus. Raum und Platz sind in dichter besiedelten Regionen einfach nur Luxus… Aufs Land zu ziehen, hat meine künstlerische Arbeit doch auch verändert – oder zumindest weiter in eine bestimmte…

(45 Minuten sorgsam ausgewählten Schweigens, der Leser geht derweil essen… Anm.d.M.)

… Richtung entwickelt. Es ist der existentielle Erfahrungshorizont, das Arbeiten am Haus und auf dem Hof, das Holz machen, das Heizen, Zäune bauen, Tiere versorgen – die Arbeit neben der Arbeit – all das gibt wichtige Impulse für das, was und wie sich meine Malerei weiterentwickelt. Ich habe gedacht, ich bin zurück in meiner Kindheit… Egal wo ich lebe, ich gehe immer Kompromisse ein. Es gibt keinen idealen Ort. Voraussetzung ist ein ausgewogenes Verhältnis von Vor- und Nachteilen. Mein Wohnort muss mir das Gefühl vermitteln, angekommen zu sein. Dann kann ich sagen: Ich lebe gern hier! In der Provinz ist man ganz zurückgeworfen auf sich selbst. Mitstreiter leben im Land spärlich verstreut. Das, was ich gegenwärtig mache, habe ich erst hier entwickelt. Meine Inspiration ist nicht die Landschaft, wenn ich in ihr vielleicht auch manchmal etwas wieder finde, was ich künstlerisch bearbeite. Früher in den Städten war ich viel zu Fuß unterwegs, das fehlt, ich muss mich bewegen. Hier muss ich gehen, ohne ein Ziel zu haben. Die Zeit, die ich hier verbracht habe, ist die anstrengendste und wichtigste meines Lebens. Ich brauche die Weite des Raumes, den offenen Himmel, die Vielfalt in und Nähe zur Natur um mich wohlzufühlen, ganz bei mir zu sein. Täglich gehe ich ans Meer. So beginnt der Arbeitstag: der Blick zum Horizont. Es mag unterbewusst Einflüsse geben. Ein externer Betrachter mag Einfärbungen erkennen. Allerdings herrschen Besonderheiten in den Produktionsbedingungen, die zwangsläufig zu Anpassungen...“ (Ende der Aufzeichnung, Anm.d.K.)

Man richtet sich sein Leben so ein, dass es einem die Erfahrungen bringt, die man braucht: Die Annahme hat Tiefe, auch wenn sie eher ein Ideal formuliert, einen Wunsch, und/oder Rationalisierung ist. Redend über Gründe und Bedingungen eigenen Tuns, lernt man sie kennen. Heiner Müller: „Wir haben die Wahrheit nicht, und die Realität ist nicht die Wahrheit. Der Raum zwischen Realität und Wahrheit ist der Ort der Kunst. Diesen Zwischenraum füllt Kunst als Praxis.“
      Wer fragt, kriegt Antworten, unter Umständen, aber nicht unbedingt auf die Fragen, die er gestellt hat, sondern eher auf Fragen, die den Gefragten gerade umtreiben. Gelegentlich passt das ganz gut zusammen. Kein Minderheitenvotum, sondern eigentlich immer mit dabei, war eine Abwehr der Fragen – nicht nur hierzu - direkt oder über die Büsche am Wege. Beides enthält aber gleichwohl immer ein Abarbeiten, wenn nicht am Ort, dann am Begriff der Provinz. Diese Unlust erscheint mir merkwürdig – merkwürdig unschuldig u.a. – der eigenartig abrufbereite Rechtfertigungsfuror weniger. Auch hier scheint ein Zeitwurm drin zu sein, der heißt „Ich auch“ und nagt und nagt. Dabei ist es allein die Arbeit des Künstlers, die sein Tun und Lassen zu rechtfertigen hat. Antwort zu geben auf Fragen, die noch keinem eingefallen sind, ist die Art der Kunst.

Von fern sieht man den Wald besser, vielleicht ist es auch nur das: jeder den seinen, jeder einen anderen. Wie die Bäume hinterm Haus aussehen, weiß, wer sie gesehen hat. Wenn sie eines Tages fehlen, fällt der Himmel herunter. „Es ist 7 Uhr 15, Informationen am Morgen im Deutschlandfunk mit Fritz Reuter, gerade geht über Deutschland die Sonne auf…“
      Hier über vereistem Schnee und Tieren, Bäumen, Baumreihen und Baumgruppen, einem anatomischen Baumtheater der schnellen Abfolgen – vorn – und des langsamen Ziehens hinten. Viele Pappeln. Der Schnee glänzt orangegelb, in Flächen, dann Streifen. Einmal liegen große Steine auf dem Kamm einer Bodenwelle wie uralte Eier, braun unterm braunen Winterlaub kleiner Eichen. Dann Flecken, die mehr werden, Inseln mit Staubrändern im Weiß, freigekratzt. Kein Schlachtfeld, die Tiere hungern. Es sind viele, Rehe vor allem. Sie stehen oder liegen, die Köpfe erhoben. Füchse laufen ihren Fuchszielen zu.
      Die mediale Anbindung an die weite Welt liefert Welt ins Haus, aber nicht die Welt. Schnelligkeit der Kontakte, die Vernetzung via Internet, der theoretisch jederzeit mögliche Zugriff aufs Weltwissen etc. kegeln den Wohn- und Arbeitsort nicht aus dem Zentrum. Wo einer sein Zelt stehen hat, ist nicht egal. Entfernungen mögen heute keine große Rolle mehr spielen, Erfahrungen schon. Der weltenweit vernetzte Weltenbürger, überall zu Haus und in allen Sätteln gerecht, ist ein schöner Traum, eine Trostprojektion, an deren reale Existenz zu glauben mir schwer fällt. Schon eher glaube ich an die Wirkmächtigkeit dieses Wünschens in der eigenen Identität. Es kürzt mit der Zeit die Ohren oder zieht sie lang …
      Kollektiv bewohnt der Mensch die Welt und treibt in ihr sein kollektives Wesen, treibt und wird getrieben. Das Individuum siedelt, wohnt, haust an Orten, freiwillig und zwangsläufig. Dort ist es dann auch zu finden, zwischen Fuchs und Borke, neben der Spur und in den Mitten, in Betten und an Tischen, vor den Puppenkisten mitsamt seinem Mutterbuckel und den Vaterskrücken.

Was in den Zeitgängen wühlt, wird wohl am Leben sein oder ist wenigstens nicht tot. Es ist immer das Unerledigte, was die Gespenster hochbringt und in Rage, umtreibt und klagen lässt auf den Wiedergängen, nachts als auch am Tage. Es geht in der Geschichte zu wie im menschlichen Leben überhaupt: Verschenkte Möglichkeiten, ungeprüfter Verzicht, ungenutztes Potential, jede falsche Ausfahrt kränken und machen bitter. Das Vergangene, ein Substrat der letzten 300 Jahre (wenigstens) lebt nicht nur in den Mentalitäten fort, auch in der Struktur der Dörfer und Städte, mehr oder minder gut sichtbar. Erhard Kästner: „Es ist stark, welche Kraft, Zeit zu verleugnen, die Dinge besitzen und wie leicht sie Gegenwart schaffen: viel leichter als wir, die wir reine Zeitbeute sind.“

Mecklenburg und Vorpommern haben eine Ereignisgeschichte wie die umliegenden Territorien auch: Aufbau und Zerstörung, Konstituierung von Herrschaft, ihre Stabilisierung und Destabilisierung, Krieg, Seuchen und Hungersnöte, Mord und Totschlag, Arbeit nah an der Verzweiflung. In ihrer Wirtschafts- und Sozialgeschichte aber sind sie besonders. Grundlegend: Die relative Leere beider Landesteile zeugt davon.
      Mecklenburg war das Land der Gutsherrschaft, mehr als jedes andere deutsche Territorium, Vorpommern folgte mit knappem Abstand auf Platz zwei. Gutsherrschaft meint, dass der feudale Grundherr nicht mehr nur die Überschüsse bäuerlicher Arbeit abschöpfte, sondern den Landbau mittels der Gutsuntertanen selbst organisierte, auf dem gesamten Territorium der Grundherrschaft oder doch in Teilen.
      Für den Hergang kann Weitendorf als Beispiel genommen werden. Nach den Pestzügen 1350ff wird das noch kleine Gut – ein Freihof, Allod oder Ritterlehen von vielleicht 100 ha – die ausgestorbenen Höfe und deren Äcker an sich gezogen haben, mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, da neue Bauern nirgends zu bekommen waren und schnell schon gar nicht. Eine spätere Aufsiedelung der Stellen hatte sich damit erledigt. Den größten Zuwachs ergaben die Wüstungen der nächsten Katastrophe, des 30jährigen Krieges; 15 von noch 27 Stellen gingen ans Gut. In der folgenden Zeit fielen noch einmal 7 Höfe dem allseits verübten Bauernlegen anheim, per Auskauf oder Vertreibung. Fünf Bauern verblieben, um das Land am Rande des Gutes zu bewirtschaften. Unbekannt ist, warum sie nicht wie üblich vereinzelt und in diese Einöde ausgesiedelt worden sind. Der zuständige Gutsherr kann ein guter Christ gewesen sein – im Rahmen seiner Möglichkeiten – und mag von daher diesem ökonomisch grundiertem Sadismus abgeneigt das Restdorf bei der Kirche gelassen haben.
      Ihren natürlichen Gegner fanden die Gutsherren im Landesherren. Ohne Bauern war kein Staat zu machen, da von den Bauern die Steuern kamen. Ohne Steuern keine Feste, keine Nebenfrauen oder allenfalls maulende, kurzum: kein Hof. Ohne Steuern keine Soldaten, keine Verwaltung, kein Theater und keine Galerien, keine Archive, Schulen und Gefängnisse. Das war der Punkt, um den es sich drehte: Entweder jeder machte seins zu Lasten aller anderen oder der Staat regulierte die Partikularinteressen und sorgte für einen leidlich geordneten Gang der Erzeugung und des Gemeinwesens. Der deutsche Territorial-Absolutismus kam nicht aus Tyrannenlaunen, auch wenn er manchmal so aussah. Mochte der Hof sonst sein wie er wollte; repräsentativ stand er für das Ganze, und indem er Ressourcen an sich zog, ging von ihm Integration aus. Mit einiger Notwendigkeit entsprang der Absolutismus dem Stand der Dinge und war das fortgeschrittenste Verwaltungs- und Gesellschaftsmodell, das zu haben war.
      Der Konflikt eskalierte ab 1708, als die Schweriner Herzöge ihr Geld nun vom Adel wollten bzw. die Bauern dem Zugriff der Grundherren zu entziehen suchten. Diese edle Selbstsucht hatte ihre Stütze in den Bürgern der kleinen Städte und in den Bauern. Auf der Gegenseite stand das Rostocker Patriziat fest zum Adel und die Geistlichkeit schwankte je nach der Lage: Wenn sie auch die Vorteile einer geordneten Landesherrschaft zu schätzen wusste, Steuern zahlen wollte auch sie nicht. Die Auseinandersetzungen währten gut 40 Jahre und drei Herzöge lang, wurden u.a. mit fremden Truppen geführt und endeten 1755 mit dem Landgrundsätzlichen Erbvergleich. Diese ständische Verfassung schrieb die Autonomie der Güter fest, entmachtete den Landesherren und verankerte die Entscheidungsgewalt bei einer Adelskammer.
      Mecklenburg war fortan ein gescheiterter Staat im Stande eines eingefrorenen Bürgerkriegs, also eigentlich gar keiner. Die eine Partei hatte alles eingestrichen, was sie vernünftig und über jede Vernunft hinaus fordern konnte. Jeden künftigen Zugriff hemmte die Nachbarschaft, die an der Adelsrepublik Polen sattsam zeigen würde, als was sie gescheiterte Staaten ansah. Für die andere Partei, die Fürsten und das bisschen Bürgertum, ging gleichfalls nichts mehr. Zu beschränkt waren ihre Machtmittel und zu gering ihre Möglichkeiten, an diesem Zustand noch zu rütteln. Bei dieser Konstellation ist es bis 1918 geblieben. Mit einer bezeichnenden Ausnahme: 1848 wurde die Prügelstrafe ab und 1852 wieder angeschafft.

„Das Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin umfasst außer einigen kleinen Exklaven ein zusammenhängendes Gebiet auf der Seenplatte, einen kleinen Teil der Küstenzone sowie des Heidesandgebietes an der Elbe zwischen Dömitz und Boitzenburg. Auf 13.127 qkm wohnen 607.770 Einwohner; die Volksdichte ist daher nur 46. 98,3 Prozent sind evangelisch, 1,3 Prozent katholisch, 0,3 Prozent Juden.
      Das Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz liegt mit seinem Hauptgebiet im Osten des vorigen, ganz auf der Seenplatte, zum kleineren Teil zwischen dem vorigen und Lübeck an der Trave, dazu kommen einige kleine Exklaven. Es hat 2930 qkm und 102.602 Einwohner, seine Volksdichte, 35, ist die geringste aller Bundesstaaten und Provinzen. 98,0 Prozent sind evangelisch, 1,5 Prozent katholisch, 0,3 Prozent Juden.
      In beiden Mecklenburg ist der Boden fruchtbar, das Klima feuchter als in Pommern (zirka 600 mm Regen), auch etwas wärmer (Schwerin: Jahr 8,0, Januar -0,5, Juli 17,3°). Neben dem Getreide wird die Zuckerrübe gebaut, und die Viehzucht tritt mehr in den Vordergrund, besonders auch Pferde und Schafzucht. Die Hälfte der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Handel, Schifffahrt und Fischerei sind in Mecklenburg-Schwerin nicht unbedeutend, Industrie aber nicht nennenswert.
      Vom Boden sind 19,3 Prozent Wald (meist Nadelholz), 52,3 Prozent Äcker, 0,7 Prozent Gärten, 11,9 Prozent Wiesen und Weiden. In keinem Teile Deutschlands herrscht der Großgrundbesitz so ausschließlich und verhindert so völlig jeden wirtschaftlichen und politischen Fortschritt. Die Verfassung ist noch mittelalterlich. Durch diese Zustände ist die geringe Volksdichte erklärlich, die den natürlichen Verhältnissen nicht entspricht.“ (Vaterländische Geographie, 1904)

Die großen Güter produzierten Getreide für den Export, so billig es sich machen ließ. Wer dafür auf den Gütern nicht dringend gebraucht wurde, hatte auf den Gütern auch nichts mehr verloren. Natürlich vermehrten sich die Mecklenburger wie andere Leute auch. Da aber die Zahl der Stellen in den Grundherrschaften der Herzöge – dem Domanium – wie die Aufnahmefähigkeit der Städte begrenzt war, blieben nur Seefahrt und Auswanderung. Der Abgang auf die Schiffe des Ost- und Nordseehandels lief auf eine Art Seenomadentum hinaus, der im 18. Jahrhundert verbreitete Dienst auf den holländischen West- und Ostindienfahrern setzte die Leute weltweit ab oder verbrauchte sie. Eine Fahrt im Dreieck Holland – Westafrika – Surinam – Holland dauerte an die 20 Monate und beförderte erst holländische Handelsware, dann Sklaven und zuletzt Kaffee und Zucker: „…wenn eine Schiffsequipage von vierzig Mann binnen den vier Monaten, welche man hier (in Surinam) gewöhnlich verweilt, nur acht bis zehn Tote zählt, so wird dies für ein außerordentliches Glück gehalten“ (Nettelbeck). In Europa immerhin senkten der Kaffee und seine Surrogate die Sterblichkeit, wurden mit ihnen doch das Abkochen des Wassers üblich.
      Die direkte Auswanderung ging bis in die 1870er überwiegend nach Nord-Amerika, dann, im Sog der Industrialisierung, meist ins Ruhrgebiet und nach Berlin. Der Anteil der Mecklenburger und Pommern an den rund 11 Mio. Deutschstämmigen in den USA (1905) dürfte bedeutend, ihr Anteil an den 160 000 Arbeitern in Berlin (1906) groß gewesen sein.
      Als das billigere Getreide aus Russland, Argentinien, den USA – kurzum: der Weltmarkt - die Gutswirtschaften unter Druck zu setzen begann, besserte das die Verhältnisse nicht. Unsere privileggestützten Agrarkapitalisten – die ungefähre Hälfte war mittlerweile gut bürgerlich - warfen lediglich ihren Adam Smith aus den Schlossbibliotheken und konvertierten von fanatischen Anhängern des Freihandels zu ebenso entschiedenen Anhängern des Schutzzolls. Nicht ohne sich dabei vehement jede andere Einmengung des Staates in ihr Geschäftsfeld verbeten zu haben, mittels Jugendschutz- und Arbeitszeitgesetzen etwa. Erfolgreich. Es ging wie es immer geht, wenn zwischen Wirtschaftslagen und Interessen die Ideologien ausgehandelt werden.

Im schwedisch/preußischen Vorpommern sah es ähnlich aus, was den Anteil des Gutsbesitzes anging. Im brandenburgisch-preußischen Bereich war der Adel einer gewissen staatlichen Beschränkung unterworfen und in den Machtkompromiss des Absolutismus eingebunden worden, was bei den Gutsuntertanen und späteren Tagelöhnern aber auch nur sehr eingeschränkt ankam. Den Bürgern und übrig gebliebenen Bauern verschaffte das immerhin einige Rechtsicherheit. Über dem gutsbesitzenden Adel stand immer noch Gott und, wichtiger noch, ein König. Warum Gott und König im Volksglauben gut sein mussten, findet hier eine Erklärung. Sie reduzierten Willkür und Angst.
      Im ehemals schwedischen Teil ähnelten die Verhältnisse denen Mecklenburgs und hatten auch ähnliche Folgen. Als Schwedisch-Pommern 1815 von Preußen eingehandelt wurde, lag das Kind schon tief im Brunnen und sagte da nicht mehr viel. Indem der Großgrundbesitz große Teile des Landes unter die alleinige Verfügung Weniger brachte, sorgte er für die dauerhafte Armut der Vielen und der öffentlichen Hand, zwang zur Auswanderung und verhinderte die Entwicklung anderer Gewerbe, namentlich der Industrie: „Fruchtbar sind Vorpommern, Rügen, der Pyritzer Weizacker… In Vorpommern und im Odertal Zuckerrüben, im Odertal auch Tabak. – Pommern hat unter allen Provinzen (Preußens) den meisten Großgrundbesitz (64% des Grundbesitzes entfällt auf Güter von über 150ha). Industrie nur in einigen Örtern von Bedeutung, namentlich in Stettin mit großen Schiffswerften („Vulkan“) und Maschinenfabriken.“

Geschichte ist in der Provinz anders sichtbar, als in den Metropolen, schon weil mehr von ihr liegen geblieben ist bzw. noch steht. Über vorhandene Strukturen und das ausdauernde Eigenleben der Mentalitäten, das dauerhaft Unerledigte, dürfte sie auch anders wirksam sein. Für ihr Wirken in der Kunst wird gelten, was auch für den Einfluss der Erfahrungen gilt. Es ist anwesend, aber nicht unbedingt sichtbar.
      Gefragt, was ihr Bewusstsein mit dieser mehr oder minder starken Prägung anfängt, geben die Antworten der befragten Künstler meist einen deutlichen Bescheid: Nichts. Die Geschichte ihres zeitweiligen oder dauernden Umlands hat sie kaum beschäftigt oder beträfe sie nicht, ihre Anwesenheit in der Landschaft wird als Natur wahr- und angenommen. Das ist in Ordnung – du kriegst, was du siehst und das ist nicht wenig – und bleibt doch seltsam genug. Mit den Gründen ihres Hierseins hat die Geschichte ja weithin zu tun: der Platz, die Stille, die Weite, die Natur… Es geht sie also an.
      Kunst weiß, Künstler sollten von der Welt wissen. Nicht unbedingt genauestens Bescheid über Elektronik und Sudoku, selbst wenn sie damit arbeiten, aber über das Funktionieren von Gesellschaften, die Möglichkeiten des Menschen in ihnen und für sich, wie der Mensch beschaffen ist. Am Nichtwissen lässt sich gut was ändern, schwierig wird’s erst, wenn es ins Nichtwissenwollen jenseits weiser Beschränkung kippt. Der Mangel an Urteilskraft, meinte Immanuel Kant, sei eigentlich das, was man Dummheit nenne. Medien, Politik und Wirtschaft leben nicht schlecht davon.
      Anders formuliert: Mit seinem verwirklichten, wahr- und angenommenen Ich und dessen konkretem Umfeld, mit seinem Vorrat an dingfestem Wissen und Können, den gemachten Erfahrungen kommt man weit. Aber es ist mehr drin. Zumindest in der Kunst und in einem langen Künstlerleben. Heiner Müller: „»Was ist das, was in uns hurt, lügt und mordet?« Es ist die Aufgabe von Kunst und Literatur, herauszukriegen, wie der Mensch beschaffen ist. Was in diesem Tier zu dem führt, was wir so als Geschichte erleben.“

Falls jemand immer noch eine Nutzanwendung von und konkret dieser Geschichte sucht: Die von Schröder und Clement ins Werk gesetzten Arbeitsmarktreformen „Hartz I-IV“ waren dem Grunde nach ein groß angelegter Angriff auf die Löhne in Deutschland, eine Maßnahme zu Gunsten der Exportwirtschaft und zu Lasten der Lohnabhängigen und der Binnenwirtschaft. Die gleichzeitig vorgenommene Deregulierung der Finanzwirtschaft kappte endgültig die eh schon sehr schwache Rückbindung dieser „Eliten“ an die Gesellschaft und ihr allgemeines Wohl. Aus der Geschichte nicht nur Mecklenburgs ginge zu lernen, was dergleichen heißt und bedeuten kann. Aber das wollte wohl wieder einmal niemand. Hemingway: „Die Reichen sind anders als du und ich. Sie haben mehr Geld.“
      Und die Kunst? Kunst geht nach Brot. Brot und Kunst gehören gleichermaßen der Binnenwirtschaft zu, abgesehen von den harten Fladenbroten aus ägyptischen Königsgräbern und einem bestimmten Segment der ausschließlich für den Markt produzierten Sammlerware. Wenn Wirtschaftförderung Kunstförderung ist, dann jedenfalls nicht diese.

Natürlich waren Mecklenburg und Vorpommern auch immer ein Ziel der Einwanderung, in den letzten 1000 Jahren immerhin drei Mal in erheblichem Maße. Im 6. Jahrhundert zogen slawische Stämme ein, sahen sich um und blieben im Lande Mekelenburch. (altsorb. für „Große Burg“)
      Bis etwa 1200 kamen Siedler aus dem westlichen Deutschland dazu, aus Dänemark, Holland und Flandern. Den gewaltigsten Schub brachte das Ende des Weltkriegs II, 1945ff; rund 700.000 Flüchtlinge und Vertriebene aus Hinterpommern, Ostpreußen und Schlesien erhöhten die Gesamtbevölkerung auf 2,1 Millionen. Sie unterzubringen und sinnvoll einzubinden, dürfte schwierig gewesen sein. Die Bodenreform, die Aufteilung der Güter in Siedler- und Neubauernstellen, bezog auch von daher ihre Notwendigkeit und Legitimation. In den 40 Jahren DDR setzte sich der Zuzug fort, übertroffen allerdings wieder vom Weggang, nach Westen u.a. und in die großen Städte. Seit 1990 hat sich das Tempo des Fortzugs weiter erhöht. Aktuell leben im Lande noch 1,6 Mio. Menschen, darunter an die 400 bildende Künstler, hier geboren oder zugezogen: Mehr denn je.

Künstler aus Mecklenburg dürfte es in allen Zeiten gegeben haben, desgleichen Künstler aus Pommern. Die Kirchen sprechen dafür, die Städte und die Wahrscheinlichkeit. Vermutlich sind die künstlerischen Potentiale in der Welt ziemlich gleich verteilt, sind Talente und der Drang die Welt auf diese Weise in den Griff zu nehmen, in Norddeutschland seit je so verbreitet gewesen wie anderswo auch. Nur waren die Verhältnisse der Kunst und mehr noch der Kunstausübung lange nicht günstig. In seinen „Neun Anmerkungen“ zur Kunst in Mecklenburg-Vorpommern benennt Rolf Schneider vor allem die Armut des Landes als Grund: „Ästhetik hat mit Kommunikation zu tun, und zur Kunst gehört auch jener materielle Überfluss, der bis zum Luxus reichen kann. In der Armut gedeiht Ästhetisches nicht sehr gut…“
      Für den Umgang mit Kunst wie für ihre Erzeugung braucht es zuverlässig volle Teller und ein sicheres Dach über dem Kopf, gesicherte freie Lebenszeiten, Bildung und eine Umgebung, die Kunst und Künstler zumindest toleriert. (Die Hartz-Gesetzgebung ist auch von daher kunstfeindlich) Darüber hinaus braucht es eine interessierte Minderheit, potentiell oder real, eine Verabredung, dass Kunst nötig sei, Personen wie Institutionen, die bereit sind, für Kunst zu zahlen. Für Kunst vor allem, die mehr ist als Ästhetik.

Solange es Höfe gab, war die Kunstpflege vor allem deren Sache. Kostbare Sammlungen zusammenzubringen, prächtige Bauten errichten zu lassen und ein gutes Theater zu haben, gehörte zum Beruf des Monarchen; der künstlerische Ruhm eines Landes und seiner Residenzen wurde wirtschaftlicher Kraft und politischer Stärke gleich geachtet, ja, bildeten mit letzteren selbstverständlich eine Einheit. Neigung, gar Begeisterung waren dafür nicht einmal nötig, aber sie erleichterten die Sache natürlich, desgleichen Sachverstand, egal woher der grad bezogen worden war. Weltweit übrigens. Im alten China gehörte das Sammeln von Kunst zu den Tugenden des guten Herrschers, das Gedeihen der Palastsammlungen bestätigte das "Mandat des Himmels", wie Verlust und Verstreuung der Schätze zuverlässig auf den Niedergang wiesen.
      Es ist bezeichnend, dass die Schweriner Sammlung holländischer Malerei vor 1755 zusammengebracht worden ist, u.a. von jenem merkwürdigen Herzog Christian Ludwig II (1683-1756), der sich die längste Zeit seines Lebens mit dem Adel herumzuschlagen hatte. Nach ihm gab es in Mecklenburg wohl noch eine Dynastie mit gewissen Einkünften, aber gewiss keinen Hof mehr, der diesen Namen verdiente, und damit auch keinen der Musen. Was die Herzöge noch tun konnten, werden sie getan haben, aber viel war das eben nicht. Herzog Friedrich, der Nachfolger, suchte Zuflucht bei Gott und im hohlen Anspruch Ludwigslust, schloss das Theater in Schwerin und bereicherte den Kunstschatz durch das Übermalenlassen geerbter Nacktheit. Arbeiten sollten die Leute, beten und nicht verzweifeln: Shit happens.
      Der gutsbesessene Adel hatte einen gewissen Bedarf an Kunstarbeit für private, dokumentarische wie repräsentative Zwecke. Er dürfte einiges an Portraits nachgefragt haben, an fein ausgeführten Darstellungen seltener Pferde und kostbarer Kühe, an Hochzeits-Carmen, skulpturalem Garten- und Gebäudeschmuck, Religionsbedarf und Klavierunterricht. An Kunst von gesellschaftlicher Relevanz und Wirkung hatte er kaum Interesse, an der Förderung von Kunst und Künstlern kaum mehr. Woher sollte es auch kommen? Für Interessen jenseits partikularer Egoismen fehlten der Begriff und der Bedarf, von einer Gesellschaft über die eigenen Familien hinaus fehlte üblicherweise schon jede Vorstellung. Notwendigerweise: Verinnerlicht als Dünkel und codiert in der Gesindeordnung, religiös begründet und gewaltgestützt, beruhte das realexistierende Wirtschaftsmodell der privilegierten Gutsproduktion auf der Verstetigung extremer Ungleichheit, nicht nur der Lebenschancen. Schneiders These bedarf einer Ergänzung: Auch in sehr ungleich verteiltem Reichtum geht es der Kunst nicht gut.
      Mit dem Kunstgebrauch des eher kümmerlichen Bürgertums war es das Nämliche. In der Regel hatte man mit naturnahen Bildnissen seiner Lieben und des liebsten Besitzes sein Behagen, mit Hausmusik und blind- oder goldgeprägten schwarzen Einbanddecken. Wenn man denn Zeit und/oder das Geld dafür übrig hatte. Viel war’s eh nicht. Allein, es lag bei den Bürgern das Problem nicht nur in ihrer Dürftigkeit. Auch dort, wo sie zu Einfluss und Stimme gelangt waren, änderte sich in der Masse an dieser Kunstferne wenig. Von den seltenen Mäzenen abgesehen, waren Künstler den Bürgern eine suspekte Lebensform und, anders als das Verschroten kleiner Kinder in Fabriken, waren ihnen die Künste schon als Mittel des Broterwerbs unheimlich. Auch als Mittel der Weltdeutung. Kunst, die es unternahm, ihre Sicht der Welt in Frage zu stellen, wehrten sie ab, mehr oder minder vehement. Nur die Verfertiger dekorativer Staats- und Statussymbole und die Transporteure christlicher wie nationalistischer Ideologien ernährte das deutsche Bürgertum noch ganz gern mit, auch wenn sie sich der Kunstform bedienten, mit Kunstähnlichem auf dem Markt standen.
      Adel und Bürger nahmen die Kunst (oder was dafür zu haben war) als eine Art Dienstleistung wahr, den Künstler als einen gelegentlich gebrauchten Handwerker unter anderen dieser Art, irgendwo hinter der Kunstschlosserei und dem Tischlern besserer Möbel etwa. Mit der Einführung der Photographie in Norddeutschland (rund 90 Jahre nach der Kartoffel) ging den Künstlern auch dieses Feld und dieser Status weitgehend verloren. Bei den Bauern (Schankwirten, Müllern, Posthaltern, Schnapsbrennern, Landgendarmen…) dürfte sich der realisierte Kunstbedarf auf kolorierte Drucke der Zeit beschränkt haben oder gegen Null gegangen sein, von Tagelöhnern und Gesinde, Handwerksgesellen und Matrosen ganz zu schweigen.
      Ja, Kunstbedarf. Ich halte das Bedürfnis nach Kunst für eine menschliche Konstante. Ist dieses Bedürfnis verschüttet oder abgestorben, durch wirtschaftliche und politische Verhältnisse abgeschnürt und weggeschnitten, beschädigt das den Menschen bis hin zur Verkrüppelung, damals wie heute. Selbst Surrogate sind da noch besser als nichts und beziehen aus diesem Umstand ja auch ihren Erfolg.

Kunst gibt es nach heutigem Wissenstand seit ungefähr 40.000 Jahren. Einen Anfang dürfte das Feuer gemacht haben; erst seine Wärme, die sitzen ließ, dann dessen leidlich verwaltbares Licht. Mit dem flackernden Licht bewegten sich die Schatten an der Höhlenwand und erzeugten Bilder, ein sicheres Wissen, dass da mehr ist als das Sichtbare. Ein anderer Anfang lag im Werkzeug, in der Erfahrung, dass menschliches Tun die Welt verändert - im Guten wie im Bösen, hinzufügt und wegnimmt. Beides, Arbeit und Feuer, machten den Menschen fähig, über sich und die Welt nachzudenken, verwiesen das Denken auf sich selbst. Ein Drittes war die Zeit, die der besser gerüstete und sozial handelnde Allesfresser endlich jenseits der Nahrungsbeschaffung übrig hatte, und dieses Denken fruchtbar werden ließ.
      Das legt den Schluss nahe, dass die Kunst mit der Entwicklung des Hirns, mit der Fähigkeit des Menschen zur Selbsterfahrung, Selbstbewusstwerdung und Selbsterfindung aufs Engste verbunden war und ist. Denn als der Mensch zu malen und zu formen begann, hat er das sofort gekonnt: Die ersten Höhlenbilder sind nie nur Abbild, sie sind Kunst eigener Regel und mehr oder weniger perfekt. Die moderne Hirnforschung bestätigt diese Annahme. Der spielerische Umgang mit Tönen, Farben und Bildern bringt die Neuronen aneinander und ins Netz, die zeitige Beschäftigung mit Kunst und Musik fördert die Intelligenz. Man kann gar nicht früh genug damit anfangen. Kunst ist Luxus und so notwendig wie das liebe Brot.
      Schon die ersten Künstler setzten aus eigener - innerer - Sicht Weltpartikel zu interpretierbaren Welten zusammen und ließen diese wiederum in die Welt wirken. Letztendlich macht das Gehirn eines Menschen mit den eingegangenen Informationen ja eben das: Es führt Getrenntes zusammen, integriert und kombiniert Wissensbereiche und Denkweisen. Mit dem „ersten“ Symbol - ein Handabdruck an der Höhlenwand - und der „ersten“ Metapher - einem Mischwesen aus Tier und Mensch beispielsweise - war das Niegesehene, das Bild, die Kunst in der Welt.

Ins Bild gehen, im Bild den Zeitgang aktivieren: Lichtgängen folgen, auf geordnete Horizonte zu und mit Bäumen im Dreieck. Weiß weht Wind aus Vergangenem her, durchs Strichwerk der Figuren, Atem und Herzschlag. Farbe fällt und weiches Glas. Du machst einen Klecks und weißt was es ist, werden kann, wird, einen genauen Moment lang, wenn der Klecks mitspielt: ein schwarzer Seelenvogel, Insekt in Blau und Grün, die grünrot geflügelten Schlange der Nächte, des Ameisenschreitens Schwarz-Rot. Überall Augen und überall Hände, zu greifen, Schmerz und Gedanke. Nie wirst du allein sein. Vorwärts, Chasseur, der Wald wartet nicht.
      Einmal drin im Bild, ändert sich alles. Dasn Kind sitzt und hört. Was hört es? Das Wachsen der Landschaft in der Landschaft, das eigene Wachsen, Windfall und Regen, das Rotten der Knochen im Feld. Das Kind ist die Frau, wird der Greis sein, wartet aufs Streicheln dunkel das Haar, weiß in der Sonne. Hinten weiden Worte, eine Herde, bis zu den Schultern in goldenem Dunst. Klötze reden, Zeichen würgen, Symbole zittern in den Gegenständen, den gemachten des Menschen. Pappstreifen und Schnur gehen vor und zurück, waten in Kleister. Wegweiser takten die Pampa, sind offene Wünsche, Boote und Boten. Alles wächst zu. Verdrossen hockt ein kleiner Mörder; ein Riese, ein Alb, ein Gebirge steht auf aus der einbehaltenen Handbewegung, gestern beendet, vor Jahren begonnen. Nie hat sie aufgehört.
      Einen Schritt weiter. Steine sind Steine, aber dennoch Vorsicht! Breiter werden die Striche, ein bewegtes Netz, sind Land und Fluss in Fluss und Land, Wolken in ungeheuren Himmeln, Vegetation in Bewegung und Vegetation für sich. Schwarz pulsieren Falten, das Strichwerk knotet Himmelsträger. Fragen heißt antworten: Was fällt, steigt auf? Grundtöne liegen am Grund, darüber knirschen die Balancen, mit Blau und Grün, dann endlich Rot. Dazwischen siedeln unsichtbare Katzen in offenen Kellern, die Aufgänge gegenläufig. Moos atmet, Steine rennen, Sonne rast. Zwischen Dunkel und Dunkel segeln die Inseln, Momente, das Meer steigt. Gestalten, feist und beinlos, Öl in den Schleusen, bleibt fern. Bilder, es könnte, zwischen Arbeit und Schlaf. Was sein wird ist … Heilige Scheiße, näher kommt niemand.
      Ende der Bildbegehung, doch wo ist der Eingang? Trostlos und verloren effizient sind wir ohne das Unbekannte, ohne Geheimnis. Schon wer nicht spielt, verliert sich. Gesehen, verstanden, vergessen: Jeder kennt das. Gute Bilder enden nicht.

Aus Mecklenburg und Pommern gingen die Künstler lange Zeit fort: Caspar David Friedrich aus Greifswald, Philipp Otto Runge aus Wolgast, Georg Friedrich Kersting aus Güstrow. Geboren zwischen 1774 und 1785 studierten alle drei in Kopenhagen und zogen dann weiter nach Dresden und Hamburg. Gehen mussten sie, da fehlende Ausbildungsmöglichkeiten und fehlender Bedarf sie gleichermaßen des Landes verwiesen. Auch dass sie damit ins heikle Leben eines freien Künstlers übertraten, scheinen sie gewusst zu haben. Vor allem Runges und Friedrichs Arbeiten sprechen davon.
      Freie Künstler waren um 1800 nicht häufig. Die Stände-Gesellschaft war überall noch weitgehend intakt, in der Realität und fester noch in der Mentalität verankert. Wer nicht drin blieb, war schnell weit draußen, wer nicht seinen anerkannten Platz hatte, bewegte sich nah am sozialen Tod. Die ständische Ordnung verwies Künstler ins zünftige Handwerk, in ein Amt und an regelmäßige Auftraggeber. Dumm nur, dass dergleichen Stellen immer rar und selten unbesetzt waren.
      Auf der anderen Seite gab es seit einigen Jahrzehnten eine bildungsbürgerliche Szene, eine Art Korrespondenzgemeinschaft der akademisch-intellektuellen Berufe. Diese Verwaltungsbeamten, Professoren, Theologen, Juristen, Lehrer, Literaten saßen recht ungleich verteilt in den diversen deutschen Staaten und verständigten sich in Briefen und publizistisch über vernünftige Verwaltungsanstalten, Volkserziehung, verbesserten Landbau, versehrende Orthodoxien, Politika (vorsichtig) und, natürlich, über Kunst und Literatur. In ihrer jüngsten Kohorte mischten sich Emanzipationsstreben und Religiosität, Nostalgie und Fortschrittswünschen, Ratlosigkeit, Ängste und Witz zur Romantik, der ersten deutschen Jugendrevolte.
      Interessenten gab es also und nicht alle waren ohne Einfluss und knapp an Mitteln. Ganz chancenlos musste der Schritt ins Freie daher nicht mehr erscheinen, illusionsgestützt konnte er gewagt werden, wenn es denn sein musste, weil die Alternative Kaufmann geheißen hätte oder Seifensieder. An dieses Publikum wandten sich, besser noch, in diesen Diskussionszusammenhang traten Friedrich und Runge mit ihren Arbeiten ein. Runge: „Meine Freunde wissen am besten, wie sehr isoliert ich hier bin, und wie sehr ich wünschte, jemand in der Nähe zu haben, der in irgendeiner Kunst oder Wissenschaft gemeinschaftliche Ideen hätte. Alle hiesigen Künstler müssen um’s Brot arbeiten, und noch dazu ist für’s Bildermachen Hamburg ein schlechter Ort.“ Sich einen besseren Ort denken können, gehört zu den Voraussetzungen der Kunst.

Friedrichs Landschaften waren zum einen Zugriff und Aufnahme, Bewältigen des Gesehenen, ein genauer Weg vom Auge über den Kopf in die Hand, die den Stift hielt. Zum anderen waren sie Montage und strenge Komposition, Vorstellung, Botschaft und Ausdruck des Ich und der historisch gefassten Zeit: Sinn-Landschaften. Friedrich: „Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“ Der Künstler soll und unterlasse… Der Ton hat etwas vom Pfeifen im stockdunklen Walde, wen wundert’s, das Gelände war neu.
      Ähnlich arbeitete Runge an seinen Portraits. In seinen Allegorien steigert er die Metaphorik weiter bis in die Bilderschrift hinein, die er auch so nennt: Hieroglyphik. Im Ansatz findet sich das auch bei Friedrich, hier freilich zurückgebettet in Landschaft. Schiffe sind nie nur Schiffe und Bäume im weiten Feld des Baumhaften öfter mehr als Bäume, Hecken stehen als Zwischenhorizonte und die wenigen Menschen als Träger von Sinn bereit.
      In den Arbeiten Friedrichs, Runges und – weniger deutlich – Kerstings stecken Vorhaben und Wollen, vorgewusste und gewünschte Welt, Sehnsucht und Ideologien. Alle drei mochten den Zufall nicht und hielten auf Systematik. Im Mit- und Gegeneinander der Arbeitsprozesse aber, im Dialog mit dem Material veränderte die Arbeit das Vorhaben, ermöglichte und beschädigte das Vorhaben die Arbeit. Am Ende wusste das Werk mehr und anderes als sein Schöpfer, öfter jedenfalls als vordem üblich. Oder es war mit dem Künstler gleichauf gescheitert, ein Huttengrab oder sonst eine christlich-neudeutsche Vision.
      Fürs Gelingen mag „Wir Drei“ stehen. Angelegt als ein Bild der Liebe und der Seelengemeinschaft, ist es das auch, seinem Gegenstand, den versammelten Biographien nach, in seiner Komposition, in den Farben und der Symbolik. Vertrauen, Zuneigung, Kraft, Dankbarkeit und Harmonie sollte es ausdrücken, und das tut es auch. Zugleich aber lässt es Spannungen sprechen, kommen Angst, Schwäche und Misstrauen zu Wort. Es spricht? Es sprechen: Runge, die Malerei und der Betrachter, miteinander im Zeitgang, wie denn anders… Unheimlich Wahres. Natürlich erregte das Widerspruch, feindselige Abwehr, ergriffene Zustimmung. Die Gehirnhöhlen seien voller Samen, für welche das Gefühl erst die Blumenerde und Treibscherben bilde, meinte, nein, diesmal nicht Friedrich, nicht Runge, sondern Goethe. So geht das zu mit der Kunst.

Es wäre also aus Schwedisch-Pommern mit Friedrich und Runge die Moderne in die Bildende Kunst gekommen? Aus dem randständigen Rest wie mit Goya aus dem finsteren Spanien, gewundenen Weges aus den Provinzen? Es sieht ganz so aus.
      „Meine Hauptqual und Pein aber ist, wie ich nun vom Wissen und Fühlen zur Form übergehe, ohne das beides ersteres darüber verliert...“ (Ph.O.Runge an seinen Bruder Daniel) Die romantische Kunstarbeit – Werk und Programm - veränderte den Stellenwert des Ich in der Kunst. Das Ich wurde Träger und Teil der Botschaft, weit mehr als vordem, das Ich setzte eine Kunst eigener Regel und eigenen Rechts, gewann und verlor. In den Bildern spricht nicht mehr Gott oder ein Kanon, in den Bildern sprechen sich Prozesse aus, die Prozesse der Kunstarbeit und ihrer Bedingung, die Prozesse in der Gesellschaft. Zu wem? Ein freier Künstler ist ein schwarzer Schimmel, nicht nur aus Gründen der Ökonomie.

Ob einer Künstler wird, weil er muss, will oder kann, bleibt eine gute Frage. Runge hatte am ehesten die Wahl. Sein Vater war Reeder, sein Bruder Daniel konnte ihn unterstützen und tat das auch, Runge selbst stellte seine Schwindsucht von anderem frei. Er habe sich mit seinem Bruder in Hamburg auf Leben und Tod verbunden, schreibt er 1801, „denn die Kunst soll doch den Künstler nicht ernähren, sondern der Künstler die Kunst“. Die Maxime ist gut, freilich wurde und wird sie im allgemeinen eher aus Not nachvollzogen, denn aus Einsicht gelebt.
      Was den Seifensieder Friedrich senior vermochte, seinen Sohn in die Kunst abwandern zu lassen, wird Friedrich junior gewesen sein, der nicht anders konnte, getrieben von Hoffnung, geschoben von Not: der des Sagens und dann der des Brots. Kersting fand sein Unterkommen an der Porzellan-Manufaktur in Meißen, Runge starb im besten Poetenalter, Friedrich lebte von Ankäufen, Unterricht, der Unterstützung durch Freunde, so wie nach ihm die meisten Künstler, schlecht.
      Noch einmal Goethe: „Zum Rasendwerden, schön und toll zugleich… das will alles umfassen und verliert sich darüber immer ins Elementarische, doch noch mit unendlicher Schönheit im einzelnen. Da sehen Sie nur, was für Teufelszeug… was da der Kerl für Anmut und Herrlichkeit hervorgebracht, aber der arme Teufel, hat’s auch nicht ausgehalten, er ist schon hin, es ist nicht anders möglich, wer so auf der Klippe steht, muß sterben oder verrückt werden, das ist keine Gnade.“ Mit beiden Beinen fest in der Luft, da sollte noch was zu machen sein.

Helle Wasser, von Maisstengeln dunkel durchstochen im Ackerarchipel, in den Lachen scheint Himmel, aufgelegt in jähen Wechseln, hell und dunkel, ein gedeckter, nasskalter März, ein Mach-dass-du-weiter-kommst. Hier endlich siedelt ein Grau ohne Makel, nur für Sekunden, wie stets.
      Hohe Gräser büscheln zartes Ocker auf, skandieren im Wind: demnächst, na wenn schon, demnächst. In den Gräben aschener Schnee, dahinter Kranichweiden, schwere Vögel mit Trauerrand laufen glücklich verpaart, unglücklich in Herden allein. Gegen den rostbraunen Bürstensaum ferner Erlen schieben sich Erdhügel vor, regellos, dann wieder in Linie, in den Koppelpfählen, den Hausbalken knallt demnächst das Frühjahr. Unterm müden Orange hängender Weiden liegen Kästen gestapelt, ein schiefer Turm, rostig rot unter hellem Wellblech, leicht verschoben. Bienenkästen, da sitzen sie drin und reiben ihre klammen Pfoten…
      Dann Grün: Moos und Ölfarbe, helle Flechtenflecken in dunklem Beton, geleerte Flaschen am Weg – immer noch eine – oben in den Pappeln lockere Mistelkugeln, unten die Gummistiefel der Männer, hinten Ginster und matte Föhrengruppen im backsteinroten Morgen. Unterm Bauwagen grinst die Gespensterkatze, schwarz und weiß, schaut aus fest geschlossenen Augen. Dunkel sind die Fenster, am Blau der Bretter schabt das Jahr und Regen fleckt die steifen Wattejacken; die Männer rauchen, reden leise, wiegen sich, die Kettensägen im Arm.
      Schon länger weg, abgetaucht, auf der Flucht sind die Buchstaben, Löcher im angeplatzten Verputz der Bahnhöfe. Pflanzenstengel schwingen in Winterdürre, ein jäh angehaltener Vormarsch an der Bahnsteigkante. Vor den zugenagelten Fassaden zwischen Spandau und Schwerin stehen die immer gleichen Kuhfänger, festbetoniert, sich dran zu halten, wenn die Welt sich weiter dreht, wieder ein Stück fort ruckt… „Vorsicht, schnelle Vorbeifahrten: … ohrsich, elle, elle, ahrten, ahr, aaah“: Ay, Sir!
      Vorsicht auf der A 19 zwischen Laage und Schwaan: Es schlagen die zerfetzten Plastikplanen um sich, ein Hund läuft auf der Fahrbahn, bellt nicht, beißt die Zähne zusammen; zwei Trolle und sieben totgefahrene Rehe tun was sie müssen, sie liegen; standhaft stehen die vierundzwanzig Zinnsoldaten im Sog der fallenden Klapptafeln vor den Möbelmärkten und Trinkhallen der Republik, Postkartenständer klirren im Winde… Ist das Kunst, oder kann das weg?

Künstler kamen erst wieder ins Land, als die Industrien anderswo groß und die Realitäten der neuen Städtekonglomerate fest geworden waren, umgeschlagen in eine neue Qualität des Reichtums und der Armut, der Arbeit, der Mobilität und der Kommunikation.
      „Die den notwendigen Lebensbedarf erzeugten, hatten Mangel daran; bei denen, die ihn nicht erzeugten, war er im Überfluß. »Das sind«, sagte ein Mitglied des Instituts, »unvermeidliche ökonomische Fügungen.« Das große pinguinische Volk besaß weder Tradition mehr, noch geistige Kultur, noch Kunst. Die Fortschritte der Zivilisation offenbarten sich in der mörderischen Industrie, der ruchlosen Spekulation, dem scheußlichen Luxus. Die Hauptstadt bekam, wie alle Großstädte jener Zeit, einen kosmopolitischen, kapitalistischen Charakter. Es herrschte eine grenzenlose, regelmäßige Hässlichkeit darin. Das Land erfreute sich völligen Friedens. Das war der Höhepunkt. (…) Die Zahl der Irren wuchs unaufhörlich.“
      Anatole France hat sie so gesehen, die Jahre von 1890 an, die Belle Epoque, seine Gegenwart. Bald wird sie die gute, alte Zeit heißen, kaum dass sie in einem ungeheuren Blutbad verschwunden war. Wer die Jahre vor 1914 nicht erlebt habe, wisse nicht wie schön das Leben seine könne… Wie man die Zeit sah, hing wesentlich vom Platz in der sozialen Hierarchie ab, an den einer gelangt oder in den er hineingeboren worden war. Auch welche Kenntnis man zu nehmen sich gestatten wollte oder konnte. Eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Gegenwart ist auch von daher nicht zu verkennen.
      Computer gab es keine – will man nicht die Rahmen mit den bunten Kugeln oder die Kästen zum Tasten und Kurbeln dafür nehmen – und auch an Atomwaffen und Kernkraftwerke musste noch niemand denken. Aber sonst war um 1900 fast alles, was heute noch trägt, beschäftigt, freut, bedrängt, bedrückt, kränkt, ängstigt schon in Gang, angelegt oder vollzogene Realität: Massenmedien und Sozialgesetzgebung, Fußball und Radrennen, Wahlen, Parlamente und ein dreigliedrig-selektives Schulsystem, Elektrifizierung und Denkmalpflege, Umweltzerstörung und Automobilismus, Bauverbrechen und Zersiedelung, Psychologien und Populismus, eine Massengesellschaft, die keinen Begriff von sich hat.
      Was heute kaum mehr vermisst wird – Militarismus, Klassenjustiz und soziale Diskriminierung, eine harte Spaltung der Gesellschaft nach Besitz, Einkommen und Herkunft – ist so weit nicht weg bzw. gerade in der Werkstatt zur Restaurierung. „Das sind unvermeidliche ökonomische Fügungen“: Die zeitgenössischen Maulhuren finanzstarker Partikularinteressen drücken sich kaum komplizierter aus, wenn sie das gleiche sagen. Was die Irren angeht, wer mag sie nicht? Ähnlich den Künstlern, stehen sie ihrem Zeitalter nahe, aber anders als diese gehen sie in ihm vollständig auf.

Von Kunst ist nicht leicht leben. Nicht anders als den heutigen ging es den Künstlern der vorletzten Jahrhundertwende damit. Sie kamen meist aus der bürgerlichen Mittelschicht, hatten die Akademie absolviert und saßen in den Städten, den Kunstzentren zumal. Hier herrschte ein akademisch geprägter Kunstbetrieb, der sich seit je durch Ausgrenzung definiert und durch Zuwahl ergänzt hat. Betriebe sind so. Es gab wenige gut verdienende Stars, Malerfürsten nach Anspruch, Ausstattung und Gehabe, und viele, die knapp oder auch gar nicht über die Runden kamen. Künstlerische Qualitäten konnten dabei so oder so eine Rolle spielen, der alleinige Grund für den Erfolg, das Scheitern waren sie kaum.
      Rechtens stellt Hugo von Tschudi diesem Betrieb sein schlechtes Zeugnis aus: „Entweder blieben die Maler an der Scholle haften und verkamen in einer mehr oder minder kunstfremden Umgebung, ohne den Rückhalt an Gesinnungsgenossen, indem sie sich dem Geschmack des Publikums anbequemten. Oder sie zogen, um der Gefahr zu entgehen, in eine der zahlreichen Akademiestädte und gerieten so aus der Scylla in die Charybdis. Denn die Kunstakademien haben sich in diesem Jahrhundert jedem gesunden Fortschritt feindlich gezeigt, dagegen aber durch die leichte Zugänglichkeit und schablonenhafte Ausbildung das Künstlerproletariat ins ungemessene gesteigert. (…) Immerhin, die weitaus überwiegende Mehrheit der deutschen Künstler ging durch die Akademie und durch die Akademie ging sie zugrunde oder kam zum mindesten zu Schaden. Die schwächeren Naturen, die mit einem bescheidenen Kapital von Originalität anständig hätten wirtschaften können, wurden erbarmungslos nivelliert und die stärkeren Begabungen sahen sich wenigstens aufgehalten…“
      Zielgruppenorientierte Spezialisten aus dem Umfeld der Akademien gab es vermutlich reichlich, See- und Uniformstücken, exotische Erotik- und Tiermalerei, historisches Genre und kulinarische Stillleben wurden ja nachgefragt. Wer diesem Markt fern stand und/oder zum Rein-Raus-Spiel des immerhin fraktionierten Betriebs keinen Zutritt hatte, blieb auf Freunde und familiäre Unterstützung angewiesen. Oder auf einen Nebenjob: Unterrichten, Kunsthandwerken, Entwerfen von Drucksachen und Werbung, Wändestreichen und Steinmetzarbeit oder auch ganz was anderes.
      Das Bedienen eines eher kunstfremden Marktes – dass es einen anderen gibt, ist eine Hoffnung, die nicht aufhört hat, oder? – als auch das Jobben in Kunstnähe binden Energien, ziehen vom Eigentlichen ab, von dem, was X, Y, Z überdies leisten könnten, wenn denn… Deutsche Künstler im drohenden Schatten eines harten Dreipfundbrotes, wie Thomas Theodor Heine sie sah und in den Simplizissimus stellte: „Eigentlich müsste man Franzose sein oder tot oder pervers, am besten ein toter, perverser Franzose – dann könnte man leben!“ Mecklenburg oder Pommern, das Land und das Meer lagen dann doch näher.

Um 1900 wurde Friedrich mitsamt seinen Landschaften wieder entdeckt, kippte der Historismus langsam seitlich weg und in eine aufgehaltene Tonne. Eine neue Welle der Romantik war fällig und kam: als Ausprägung des Zeitgeist in gruppendynamischen Ismen, als Jugendbewegung, aber nicht nur. Ein kleiner Teil des gebildeten Bürgertums redete seltsam unkonkret von Lebensreform und ein noch kleinerer Teil machte sich an konkrete Projekte. Irgendwo dazwischen bildeten sich die Künstlerkolonien heraus, eine Mischung aus lockerer Kunstgruppierung, Landkommune, Zeitflucht und illusionärem Neurertum. So auch in den Großherzogtümern und der angrenzenden preußischen Provinz, in Schwaan, Ahrenshoop und Hiddensee.
      Es trafen sich Stadtflüchtige, industriebefremdete Leute im Heimweh nach einer Zukunft, die lange zurück lag, die Sehnsucht hatten nach dem besseren Leben, dem Richtigen im Falschen, nach Kindheit, dem Echten. Gut möglich auch, dass sie nichts gesucht hatten außer Zufriedenheit und niemand ihnen gesagt hatte, dass die in Mecklenburg nicht häufiger zu finden ist als in Pommern (Anhalt und Amerika, Thüringen und Tannu-Tuwa, Sachsen und Sizilien und New South-Wales usw.) Was es gab, war ein einfacher Platz zum Arbeiten und Abstand zur üblichen Misere, vielleicht ein erfülltes Leben trotz allem. Aus Illusionen kann etwas werden, aus Zeitfluchten wird eher nichts. Man kommt nicht weg, meine ich.
      Die Kolonie Ahrenshoop schloss sich mit dem Tourismus kurz, den sie selbst hervorgebracht hatte, und bezahlte den Handel mit einer rasanten Transformation zum Badeort mit Art-Appeal. Dieser Vorgang heißt Gentrifizierung und begegnet heute häufiger, war aber ehedem nicht beliebig wiederholbar. Für Leute, die ihren Ort erhalten wollten, wäre das ohnehin nicht in Frage gekommen, noch weniger für Einzelgänger, die Künstler üblicherweise sind.
      Was blieb, war immer die Arbeit im Rückzugsraum und die Präsenz der Arbeit dort und anderswo, wenn möglich. Ernst Barlach brachte aus Berlin seinen Namen nach Güstrow mit, seinen Ruf, Freundschaften und Verbindungen, seine Reichweite. Wenn es so geht, dann war der Arbeitsort Güstrow womöglich das Beste, was Barlach passieren konnte. Zumindest bis in die 30er Jahre, dann machte ihn seine Bekanntheit zur bevorzugten Zielscheibe auch der hiesigen Nazis… (Eine Mischung aus Rudelmut und Irrsinn, griffig kodiertem Irrationalismus, zwanghafter Pro-Sklaverei-Opposition und gesinnungsmaskierter Geschäftstüchtigkeit wird in einer fundamentalen Wirtschaftskrise zum annehmbaren Weltdeutungs- und Handlungsmuster. Nee, das kann uns nicht mehr passieren. Aus-ge-schlos-sen!)
      Anderen, wenig oder kaum bekannt, bot Norddeutschland eine gewisse Deckung, wenigstens solange sie sich anders nicht auffällig machten. Künstler zogen denn auch aus den Metropolen her und in die Dörfer. Nicht sehr viele vermutlich. Denn wer von der Kunst ließ, konnte wie immer vieles machen.

Einige sind geblieben, andere kamen ab 1945 hinzu, auf der Suche nach einem sicheren, auf dem Weg an ihren Platz, eigenfüßig oder geschickt oder beides. Ab den 50ern gab es in der DDR ein Ansiedlungsprogramm auch für Künstler, für Künstler im Beruf und Absolventen der Kunsthochschulen.
      Für die meisten Berufe existierten Lenkungskommissionen, die nach Abschluss des Studiums für eine gleichmäßige Verteilung zu sorgen hatten und damit eine Art Studiengebühr erhoben, die in drei Jahren oder auch lebenslänglich zwischen „Kap Arkona & Fichtelberg“ abzuleisten war. Die DDR hat dir das Studium ermöglicht, die DDR braucht dich da und dort: die Zahnärztin in Güstrow, den Lehrer in Neubrandenburg, den Agraringenieur in Weitendorf… Etwa so. Bei den Künstlern lief es etwas anders. Wenn Bezirke, Städte, Institutionen Künstler brauchten, machten sie ihnen Angebote, eine gute Wohnung, ein Atelier. Später gab es wohl auch hier Vermittlungskommissionen. Für den Anteil der Kunststudenten pro Abiturjahrgang existierte ein Schlüssel, für die Ansiedlung von Künstlern in den Bezirken vermutlich auch. Wer selbsttätig einzog (was so einfach auch nicht war), hatte wie alle vordem seine Gründe: Sehnsucht, Hoffnung und Verdruss.

Für Kunst und Künstler galt die DDR zeit ihrer Existenz als ein schwieriges Gelände, zu Recht und zu Unrecht. Ihr jede Kunstfreundlichkeit und Kunstfähigkeit abzusprechen, war nach 1990 eine gängige und ist auch heute noch eine gern absolvierte Übung. Künstler, die in ihr lebten, stehen unter Generalverdacht, ihre Arbeit unter hohem Abwertungsdruck. Zutiefst provinziell wären sie gewesen, alle miteinander mehr oder minder korrupt, kaum der Rede wert und weniger noch des Aufhebens: dunkle Männlein, dunkle Weiblein hinterm Mond. Großes gedeihe nur unterm Grundgesetz und könne nur in Freiheit blühen, begründeten etwa die Macher der Berliner Ausstellung „Sechzig Jahre. Sechzig Werke.“ ihre Ausgrenzungspraxis mit einem Ausgrenzungsbeschluss.
      Verwundern kann das nicht. So werden Reviere verteidigt, durch Anpissen unter anderem. Die Plätze im Kunstbetrieb sind begrenzt und eine behauptete, ausgeübte Deutungshoheit zeitigt Prestige und gutes Geld. Auch das ist nichts Neues. Goethe: „Wie man denn niemals mehr von Freiheit reden hört, als wenn eine Partei die andere unterjochen will und es auf weiter nichts angesehen ist, als dass Gewalt, Einfluß und Vermögen aus einer Hand in die andere gehen sollen...“ Nur der verdiene Freiheit, der täglich sie erobern müsse; dies wird in allen Weltteilen gegolten haben, für Kunst und Leben, und dürfte heute noch gelten.
      Kunst war in der DDR wichtig, ihre Notwendigkeit stand für keine der irgend beteiligten Seiten je in Frage. Als ein spätes, legitimes Kind der Aufklärung und der Arbeiterbewegung (entbunden von der Roten Armee), schätze dieses kleine Land Bildung im Allgemeinen und Kunst im Speziellen sehr hoch, beides aus meist achtbaren und oft genug unzuständigen Gründen. Künstler war ein privilegierter Beruf. Anders als vor- und nachdem mussten Privilegien hier allerdings bezahlt werden. Verlangt wurde unbedingte Loyalität, etwas, das Künstler vielleicht leisten können, die Kunst jedoch nicht.
      Keiner sei Maßstab für alle, jeder nur Maßstab für sich und für die mehr oder weniger verwandten Gemüter; diese Ansicht Friedrichs war in der DDR kaum diskutabel. Die Kunst sollte dienen, dem Fortschreiten im Humanen irgendwann in der Zukunft, dem Fortschritt ganz allgemein, dem Volke, der Notwendigkeit, der Gesellschaft, der Produktivität, der Lebensfreude, dem Frieden, der Arbeiterklasse, dem Sozialismus… Was in der üblichen Verkürzung auch hieß: den diversen Vorhuten und Avantgarden, den Parteien und Massenorganisationen, den bewaffneten und unbewaffneten Organen (SED, CDU, NDPD, LDPD, FDGB, DBD, DFD, DSF, VdgB, NVA, VP, MfS, ABV, NAW, VMI und so weiter bis zu ASK Dynamo und BSG Hansa: In kryptischen Kürzeln erstarrte Zeitgänge einer verschollenen Logik, die mittlerweile durch eine andere ersetzt worden ist).

Der Organisationskern des Projekts DDR wähnte sich an der Spitze, am Ende wenigstens im Sog eines unaufhaltsamen Fortschritts und überdies auf wissenschaftlich gesichertem Terrain, verhielt sich aber wie eine Kirche, nicht nur zur Kunst. Sein Kunstbegriff war vormodern und lief unter dem Label „Sozialistischer Realismus“ auf eine Montage aus angewandter Romantik, kanonisierter Klassik und bürgerlichem Akademismus hinaus, auf einen Katalog von Forderungen und Geboten in wechselnder Gewichtung. Korrekt definierte Ilja Ehrenburg den „Sozialistischen Realismus“ denn auch als eine „schwarze Orchidee“. (Ein Katalog von Forderungen, Ge- und Verboten und gleichfalls ein großer Sack, in den viel hineingehen musste, war übrigens auch das Gegenmodell des Westens, „Informel“.)
      Künstler sollten als Volkserzieher wirken, als Verschönerer des Lebens aller, als Verkünder ewiger Wahrheiten respektive der jeweils gültigen Orthodoxie, originell und freiwillig, versteht sich. Vermutlich aus demselben frühsozialdemokratischen Bildungspathos stammte auch eine groteske Über- wie Unterschätzung des Kunstwirkens, die in dauerndem Misstrauen, im steten Verdacht ihren Ausdruck fand. Der Kommunist Picasso hielt Kunst für eine Emanation von Trauer und Schmerz: „Die Trauer eignet sich zur Meditation, und der Schmerz liegt dem Leben zugrunde“. Damit konnten die Vulgärmarxisten der Kriegsgeneration nichts anfangen. Schmerz und Trauer, was sollte das denn heißen? Schmerz und Trauer, saß den meisten Zeitgenossen im Nacken und mussten abgewehrt werden wie Schuld und Scham. Kunst ist Widerspruch, sie widerspricht und ergänzt die Welt oder ist Dekoration, aber mit den Widersprüchen hatten sie es nicht so, schließlich waren sie im Besitz der Wahrheit, ach.
      Solange diese bemühte Selbstgewissheit einigermaßen intakt war, standen Kunst und Künstler mehr oder minder unter strenger Aufsicht, allfälliger Beobachtung, den untauglichen Maßnahmen der Lenkung und Leitung. Immerhin, wenn die Künstler geprügelt wurden, dann auch aus ehrlicher Achtung oder aus Liebe: Zur Sache, weniger zu ihren Trägern, die verletzliche Menschen waren und mit einer evolutionären Erblast geschlagen, dem Schmerzempfinden.
      Auf der anderen Seite bot die DDR Probleme, Reibungsflächen, Konflikte, Widersprüche in Bündeln, über die nur privat oder gar nicht gesprochen worden ist. Subtexte waren in der DDR eine offene Form der Kommunikation. Man wusste immer, wann gelogen wurde, wie weit und warum, auch wenn geschwiegen wurde, geschwiegen werden musste. Der Kunst war Aufmerksamkeit sicher, nicht nur von staatlicher Seite und, da Anfeindung eine Form der Anerkennung ist, auch diese. Wichtiger noch: Aus dem Erfahrungsdruck DDR, aus der Spannung zwischen stets anwesender Utopie und tätiger Wirklichkeit war Energie zu ziehen, was der Kunst zugute kommen konnte. Konnte, denn Alltag und Irrsinn kosteten auch.
      Eigenartig genug waren die Künstler auch in der DDR „frei“, was nicht nur freiberuflich mit der Kunst umzugehen hieß. Ihre Kollektivierung mussten sie schon selbst besorgen, wenn es denn sein musste; in der gängigen Form von Künstlergruppen war die aber nicht gern gesehen. Mit den niedrigen Mieten und billigen Lebensmitteln lag eine Grundvoraussetzung des Kunstmachens sozialpolitisch fest. Zusammenstöße mit der Kulturpolitik und staatliche Disziplinierungsversuche machte das sehr wahrscheinlich: Allein übers Geld war eine konditionierte Künstlerschaft eben nicht zu haben. Es war die Utopie selbst, die ihren Verwaltern regelmäßig vor die Füße spuckte. Heiner Müller: „Das einzige, was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt.“
      Es gab das Herumpfuschen an Biographien, Schikanen und Kriminalisierung, ein aus-dem-Land-drängen, das Verbandsprivileg und Korrumpierungsangebote, dazu Neid und Missgunst der Künstler selbst, instrumentalisiert und naturbelassen. Ein sehr heikler Punkt war immer das öffentliche Herzeigen, der notwendige Dialog mit der Öffentlichkeit. Fast alle Galerien waren staatlich oder kommunal. Selbsthilfe immerhin war in begrenztem Umfange möglich.
      Was es nicht gab, waren die zwei geschlossene Blöcke des Feuilletons, Schwarz und Weiß. Lutz Dammbeck: „Hier eine klare konterrevolutionäre Avantgarde und dort die Staatskünstler, diese saubere Trennung gab es nie. Es gab immer Brücken und Stege, über die munter hin- und hergegangen wurde, von dem einen mehr, vom anderen weniger.“ Wer sich nachträglich in diese Klischees einordnen lässt, diese Klischees bedient, tut sich keinen Gefallen. Ob nun als heroisch, widerständig, verweigernd, nonkonform, alternativ oder als Märtyrer verhandelt: Meist verstellt das die Person und immer verdeckt es die Arbeit, das also, worum es gegangen ist. Vermutlich sind diese außerkünstlerischen Kategorien genau deshalb so beliebt.
      Es gab in den Kunstszenen der fraglichen Jahre lebhaftes Interesse am Projekt Sozialismus und komplettes Desinteresse, Abwehr und Taktieren, glückliches Partisanentum und unglücklichen Opportunismus, oft genug in einer Biographie. Nun gut, was den Künstler auszeichnet, ist die Relevanz seiner Arbeit, nicht sein schöner Charakter. Künstler haben gemacht, was Künstler machen, wenn sie Künstler sind: Kunst, für und gegen die Gesellschaft. Was der Dresdner Künstler Eberhard Göschel über diese Zeit sagt, gehört dick unterstrichen: „Und es gibt gar nichts zur Entschuldigung, wenn jemand nicht das gemacht hat, was er wollte.“
      Und die Staatskunst, über die so viel geredet wird? Wer den Wünschen von Staat & Parteien etc. nachkam – originell, freiwillig, in Züchten, versteht sich – hatte den Nutzen sofort in Mark und Pfennig, auch den Schaden, gleich und für immer. Einige (keine Ahnung wie viele) hat die Erde verschlungen, einigen hat es das Werk und den Namen beschädigt, einige gingen tragisch zu Grunde (Was war Hans Grundig für ein guter Maler, aber nach 5 Jahren KZ Sachsenhausen musste seine Partei ja Recht haben. Er bemühte sich und starb daran).
      Wem es bei der Kunstausübung nur um die Schinken gegangen ist, der hat nur rational gehandelt und trotzdem Recht behalten. Oder? Ich fürchte, ja! Wer konsequent auf dem Seinen bestanden, auf Haltung, Form und Stil beharrt und sich die Freiheit genommen hat, ein Künstler der Moderne im Sozialismus zu sein, durfte sich nach 1990 belehren lassen: Da pisst der Hund drauf. Siehe oben. Pfui Geier, ein toter, perverser Franzose, weiß Gott, das wär’s.

„Was mir hier als Aspekt noch fehlt, ist diese Blase, in der wir uns befunden haben, wie in einem Treibhaus… Das war ein Kleinbiotop, eine gezüchtete Kultur, auf Nährboden angesetzt… Du hattest immer mit denselben Leuten zu tun in dieser Blase, das war auch eine Sumpfkultur.
      Du bist in diesem Koordinatensystem aufgewachsen und hast von daher deine Prägung, deine Weltsicht gehabt. Du hattest dieses Koordinatensystem, das alle geprägt hat, auch die, die dagegen waren. Das war eine Begrenzung, die Naivität gefördert hat. Dieses Abgeschlossensein…
      Du konntest dich nur mit deinen Dingen beschäftigen. Das ist das Gute an der Abschottung, die ein unheimlicher Nährboden war, der gute Blüten trieb, auch sinnlose. Sie war gut für die Konzentration. Deshalb ist auch die Provinz ein Nährboden: Sie zwingt zur Konzentration.
      Vieles musstest du selbst auszuprobieren, herausfinden. Du warst nicht in diesem Strom drin, du musstest improvisieren und das auch können. So wie auf einer Polstation: Die Amerikaner hatten die Technik, aber wenn die ausfiel, holten sie die Russen, denen fiel immer etwas ein, die behalfen sich mit einem krummen Nagel. Und Geld hatte keine Bedeutung.
      Das Bedrückende war, du konntest, auch wenn du da bleiben wolltest, nicht raus, du wusstest auch immer, dass es diese Macht gab, die zuschlagen konnte. Also gab es auch dieses untergründige Angstgefühl, das kannten, glaub ich, auch alle.“ (NN., Künstlerin des Jg. 59, die auch auf dem Lande, aber nicht in Mecklenburg lebt. )

Von den Künstlern in Mecklenburg-Vorpommern heute sind viele von auswärts gekommen: aus Sachsen und Thüringen, Berlin, Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Hamburg, von überallher und aus Mecklenburg. Der Zuzug hält an und ist oft genug Rückkehr. Gründe, Motive, Erwartungen und das Land selbst bilden miteinander ein Muster, ein Heim für Zeit, ein Spiel für Stimmen:

Hier gibt es nichts, was den Himmel abstützen könnte, und dennoch stürzt er nicht ab. Ich bin nicht zugezogen, sondern nach dem Kunststudium zurückgekehrt. Ich komme aus Pommern, bin aber im Westen sozialisiert. Als ich das erste Mal nach MeckPom kam, habe ich gedacht, ich bin zurück in meiner Kindheit. Ich bin in Köln geboren, habe aber im Osten studiert, nämlich in Halle. Ich bekam ein verlockendes Angebot. Die Lebensqualität ist so gut, dass ich mich jeden Abend über mein Leben freue. Es war eine Flucht, vor unerträglichen Repressalien, Enge und Kleingeistigkeit. Aber erst heute ist der Rückzug wirklich: vor dem Lärm des fragwürdigen Kunstrummels und anderem Getöse. Der wirtschaftliche Aspekt stellt natürlich auch einen wichtigen Grund. Die Insel war nicht der große Sehnsuchtsort, aber der Ort, an dem man billig leben konnte. Ich bin froh, keine Miete erarbeiten zu müssen, wenig Geld verdienen zu müssen. Ich führe ein relativ selbst bestimmtes Leben, wenn man davon absieht, dass ich ab und zu Jobs machen muss.
      Ich nenne meine Adresse gern; sie klingt poetisch. Dort lebte ich von Kindheit an. Nach Berlin durfte ich nicht. Mir fehlte immer die Ostsee. Ich hatte immer meinen Kindertraum im Kopf – ein Haus auf einem Dorf irgendwo hier. Meine mecklenburgischen Großeltern waren Segler, meine Eltern auch. Meine Mutter kam als Kind mit ihrer Mutter aus Ostpreußen, mein Vater ist in Greifswald geboren, ich wurde in Greifswald geboren, ging hier zur Schule, studierte. Nach 1990 lebte ich in einem anderen Land, das ich kaum verstehe. Das Licht in Häfen ist immer besonders.
      Die starke Veränderung der Landschaft und des Gefühls durch die Jahreszeiten ist wesentlich. Mich interessieren Ambivalenzen. Ich fühle mich hier lebendiger als in der Stadt. Die Nähe zur Hauptstadt machte die Entscheidung leichter. Ich habe MV verlassen und bin nach Hamburg gegangen. Als ich dann Hamburg verließ, kam ich wieder in MV an. Der Schritt zurück ist im Vorwärtsgehen vollzogen worden. Vor zwanzig Jahren sind wir aus Berlin und Hamburg zugezogen, ins Zonenrandgebiet. Ja, wir sind Zugezogene, weg aus familiärer und urbaner Enge, vor zu vielen Einflüssen, zuviel Belanglosigkeit. Ich bin in Leipzig aufgewachsen, das Leben in der Stadt war für mich normal. Aus irgendwelchen Gründen mochte ich schon immer Dinge aus früheren Zeiten. Ich lebe in meinem Haus wie auf einer Insel. Das Heim für Zeit ist Raum für Raum voller verschieden großer Kisten und Kästen, mit und ohne Deckel.
      Ich kam vor zwanzig Jahren nach Mecklenburg, eher zufällig. Durch mein Leben schon vor der Wende kenne ich das Arbeiten allein, suchend, verborgen, kompromisslos, vor mich hin… Das ruhige Umfeld zwingt mich nicht, stets neu zu erfinden. Arbeiten zu machen, die einfach nur da sind, das liebe ich. Die Entscheidung für die Provinz erfolgte doch ganz bewusst. Nach MV kam ich zum Studium, das Bleiben hatte zwei Ausgangspunkte: zum einen Weitläufigkeit und Großzügigkeit (gerade im Kontrast zum wesentlich dichter besiedelten und auch landschaftlich engeren Süden). Und zum anderen eine relativ hohe Dichte an interessanten Positionen und Persönlichkeiten, die über das Land verstreut leben, viele ältere Kollegen, auch zugezogen und hier sesshaft geworden.
      Wahrscheinlich ist es auch heute in vielen Fällen eine Art des Rückzugs vor einem politischen oder überhaupt einem gesellschaftlichen System. Die erklärten Ziele unserer Gesellschaft (immer mehr Geld, immer schneller, immer der Beste sein...) werden mir zunehmend fremd. Letzten Endes kann man nicht entfliehen, es holt einen alles ein, besonders die Missstände in Politik und Gesellschaft, Lüge und Unverantwortung. Ich empfinde es als extrem wohltuend ein Stück weiter weg zu sein von einer Wirtschaftsblase, vom zwangsverordneten Massenentertainment niedrigsten Niveaus, ständig neu ausgedachten Bedürfnissen.
      Es hat mich hierhin verschlagen. Das Leben bewusst zu gestalten, ist unendlich viel schwerer, als es zu leben. So bin ich hier in Mecklenburg, hätte es nicht geglaubt, hier sesshaft zu werden, habe es nicht geplant, es ist so gekommen. Doch ich gestalte, und es geht mir gut. Ich liebe den Landstrich, in dem ich wohne, eine geistige Heimat bietet er mir nicht. Ich bin gern auf dem Land, ungern in der Stadt. Hier zu leben tut mir und meiner Seele gut. Der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit hat sich erfüllt. Der Himmel fühlt sich gigantisch an. Ich würde überall arbeiten können. Hier liegen meine Wurzeln.


In Mecklenburg werden an die 400 bis 500 Künstler vermutet, um die 300 davon sind im Künstlerbund organisiert und damit statistisch greifbar. Relativ hoch ist demnach das Durchschnittsalter, die 40 bis 70jährigen stellen eine deutliche Mehrheit. Kleinere Künstlerballungen gibt es in den Städten Rostock und Schwerin, die meisten Künstler aber leben auf dem Lande, in Dörfern als auch in Einzelgehöften, wie es aussieht, lieber im Norden als im Süden. Zum Vergleich: Der Regionalverband Dresden des Künstlerbundes Sachsen listet 480 Mitglieder auf.
      Beschaut man die Szene über das zugängliche Material im Internet und in Katalogen von außen, fallen weitere Besonderheiten auf. Der Anteil landschaftsbezogener Bildhauerei, auch der Großplastik im Freiland, ist hoch. In Malerei und Grafik, die auch statistisch dominieren, spielt das Gestische eine große Rolle, sowohl im Bereich des Gegenständlichen als auch des Nichtfigurativen bzw. Informellen und in den fruchtbaren Grenzgebieten dazwischen. Erzählt wird wenig.
      Deutlich ausgeprägt ist die Verbindung zu Land und Landschaft bei der Bildhauerei, was die Ortswahl nahe legt. Die Arbeiten brauchen Platz nach oben und nach den Seiten, ihr Richtmaß steht als Baum im flach gewellten Land, skelettkahl im Winter und als flirrendes, aufgeständertes Blattvolumen zwischen den Eiszeiten. Vermutlich zieht aber auch das Gestische und Informelle einen Teil seiner Energie aus der näheren Landschaft, wurzelt die Farbkultur vieler in Vegetation, abgerollten Steinen, See und Himmel.
      Vorsichtig formuliert: Informelle Bildnerei ist keine leichte Sache; um das theoretisch unendliche Material zu bewältigen, über das reine Ding und übers Ich hinaus zu gehen, um selbstverständlich zu werden, kann sie jede Stütze, jeden Energieschub gut gebrauchen. Auch das Besähen eines Felds steckt da drin, selbst ein Warten, vielleicht auf die Kavallerie. Nach meinem Wissensstand sind nur noch am Realismus mehr Künstler verzweifelt.
      Weiter fällt ein spartenübergreifendes Agieren, ein Arbeiten auf diversen Gebieten auf, die gelegentlich unverbunden bis fremd beieinander stehen. Ob das nun Arbeitsphasen, Übergänge, Versuchsordnungen, zeitweise oder stetige Expansionsbewegungen oder auch Rundumschläge abbildet, steht dahin. Zeitgänge sind es allemal.

Von Kunst ist nicht leicht leben, weder in Mecklenburg noch sonstwo. Dieser Umstand ist älter als die Moderne, eine zu handhabende Konstante von Adams Zeiten her. Wie Künstler heute ihr Leben fristen, steht gleichfalls länger fest, wenigstens seit Friedrich. Was sie dazu brauchen auch: Genug auf dem Teller und ein Dach überm Kopf, freie Lebenszeit, ein Einkommen, das von der Kunst kommen oder anderweitig erwirtschaftet werden kann. Darüber hinaus braucht es eine interessierte Minderheit, potentiell oder real existent, eine Verabredung, dass Kunst notwendig sei, dann Personen und Institutionen, die bereit sind, für Kunst zu zahlen.
      Nach allem, was man hört, besteht die Verabredung von der Notwendigkeit der Kunst weiter. Im Subtext und undeutlicher im Kleingedruckten folgt diesem jederzeit abzufordernden Bekenntnis aber stets die Präzisierung: Wie Wald und Unglück wachsen Kunst und Künstler von allein. Die Bereitschaft für Künstler und Kunstarbeit zu zahlen, steckt seit dem Heraufziehen des bürgerlichen Zeitalters ohnehin in einer Wenn-Dann-Kann-Wenn-Konstruktion fest. In Krisen tendiert die Zahlungsbereitschaft der öffentlichen Hand gen schamgehaltenen Grenzwert. Wenn nichts wichtiger wäre, dann könnten wir: Ja, wenn, dann täten wir’s gerne. Krise ist nicht immer, aber meistens.
      Was von Staat, Privaten und Institutionen ausgegeben wird, ist trotzdem nicht wenig, aber es reicht nicht. Geschätzte 5% der bildenden Künstler leben von der Kunst, von denen wieder einige sehr gut. Im weiten Feld des „Kreativen“ arbeiten rund drei Viertel der Kombattanten an der Grenze zum Existenzminimum (TAZ vom 28.4.2010), die Angabe stammt aus Düsseldorf, kann aber verallgemeinert werden). Gott ja, die Künste schmücken und kosten, und das Kassenbuch, sie recht zu verbuchen, scheint abhanden.
      Wenn man einmal davon weiß und sich diesen Druck wenigstens teilweise vom Hals halten kann, wenn man in der Lage ist, ihn zu nutzen, hat dieser Umstand seine gute Seite: er kann befreien. Folgt man den Ansagen, dem Zeugnis der Arbeiten, gelingt das in Mecklenburg verbreitet ganz gut. Nebenjobs sind häufig, Klagen selten. Freilich besteht immer die Gefahr, dass diese Ökonomie von der Spitze kippt, dass die Anstrengungen zum Broterwerb alle Energie aufbrauchen. Ohne Illusionen ist dieser Weg nicht zu betreten und ohne Fatalismus nicht durchzuhalten. Schade eigentlich.

Ein großes Problem der Künstler heute ist das Publikum, das größere, nah am Verhängnis, ist der Markt. Dazwischen steht der Betrieb, näher an letzterem oder als Teil davon.
      Künstler wollen gewürdigt sein, nicht nur aus Eitelkeit: sie müssen. Um wirklich zu werden, braucht das Werk den Betrachter, vordem ist es Arbeit an sich. Künstler müssen ausstellen, vorführen, zeigen, die Arbeit sprechen lassen. Seit sie sich an ein anonymes Publikum wenden, brauchen sie dessen Bestätigung; es sollten wenigstens einige Betrachter dem Werk gerecht geworden sein und/oder das Werk ihnen. Und wenn es auch nur einer ist, der von außen kommt und sieht. Erst dann ist die Arbeit vollständig und temporär in der Welt. Und der Künstler mit ihr. Es gäbe kein Genie ohne fortwirkende Kraft, meinte Goethe. Dasselbe gilt für Kunst und Künstler.
      Kunst ist u.a. Kommunikation und Kommunikation braucht ein Gegenüber. So gesehen ist sie immer auch eine kollektive Angelegenheit, auch von daher ein Mittel und eine Methode, sich über die Gesellschaft, den Stand der Dinge, das Wesen des Menschen auseinanderzusetzen und gegebenenfalls zu verständigen.
      Wer da spricht und zu wem, auch wann, ist selten genau zu sagen, was da spricht wird meist deutlich. Kunst und Künstler spiegeln Aspekte gesellschaftlicher Prozesse und Möglichkeiten des Individuums in ihnen - sichtbar und wahr genommen oder auch nicht. Was Künstler meinen, geht den Betrachter nichts an, was von dessen Ausführungen ihn erreicht, sind dann seine Angelegenheiten, Bestätigung oder Widerspruch in Form, Farbe, Geste etc. Ob er mit Zustimmung reagiert oder Abwehr oder beidem, hängt wesentlich von seinen Wünschen, Ahnungen, Ängsten, von seinem Begehren ab. Und, natürlich, vom Vermögen des Künstlers, Wesentliches in die Welt zu setzen, dass er etwas zu sagen hat. Ästhetik, Spiel, Amüsement und Spaß in Tüten, Theorieableitungen, Betriebssportfeste und Marktrituale, das kommt alles erst danach… Das Kind sei heiter und runzlig die Kunst.
      Pablo Picasso: „Ein Bild ist nicht von vornherein fertig ausgedacht und festgelegt. Während man daran arbeitet, verändert es sich im gleichen Maße wie die Gedanken. Und wenn es fertig ist, verändert es sich immer weiter, entsprechend der jeweiligen Gemütsverfassung desjenigen, der es gerade betrachtet. Ein Bild lebt sein eigenes Leben wie ein lebendiges Geschöpf, und es unterliegt den gleichen Veränderungen, denen wir im alltäglichen Leben unterworfen sind. Das ist ganz natürlich, da das Bild nur Leben hat durch den Menschen, der es betrachtet.“
      Üblicherweise sind Galerien der Ort der Begegnung, öffentliche mit Bildungs- und Bedeutungsanspruch und private, die meist vom Verkauf leben müssen. Was für die Auswahl, Art, Weise und Richtung der gezeigten Kunst Folgen hat. Ob der Galerien, Ausstellungsmöglichkeiten in Mecklenburg genug sind, steht dahin. Dass sie immer nur einen Teil der Kunstarbeit und Kunstarbeiter zeigen können und wollen, ist sicher.
      Dort, wo Publikum aufläuft, läuft es vermutlich wie überall: Es schaut, schweigt oder redet, erwartet eher Bestätigung denn Erweiterung und Widerspruch und manchmal kauft es. Oder fast wie überall. Kunst, denke ich, wirkt in der Provinz noch anders als in Metropolen, schon weil es weniger davon gibt (oder gerade genug), sie also mit anderer Aufmerksamkeit rechnen kann, aber auch mit anderer Ignoranz rechnen muss. Wenn die Leute kommen, dann selten zufällig, also mit Interessen und Erwartungen, Fragen, konsequenterem Wissenwollen. Wenn das nicht reichen sollte, ist Abhilfe letztlich Sache der Künstler: Bildet Banden und schafft viele Weitendorfs.

Die Marktferne Mecklenburgs verringert die Möglichkeiten, von der Kunst zu leben, lässt aber auch ein anderes, freieres Arbeiten zu. Dort, wo der Markt stattfindet, in den Metropolen, hält sein Hypnosekarussell etliche Gesichter dauernd bereit, den Künstlern zugewandt, dem Publikum und dem Kunstbetrieb. Eins grinst und zwinkert, eins zeigt ein bezaubernd aufgemaltes Lächeln – Du, oh Du, nur Du – eins grimassiert und streckt die Zunge, eins blickt verkniffen missvergnügt und fletscht das strahlende Gebiss, eins spricht mit gekauften Stimmen salbungsvoll „Ja ja, so ist’s“, eins droht und kreischt, rollt mit den roten, den weißen, den Schweinsäugelein.
      Wie es aussieht, beherrscht das Kunstmarktgeschehen, beherrschen Händler, Sammler, Stifter, Berater etc. mittlerweile den Kunstbetrieb, nicht total, aber sehr weitgehend. Das hat unter anderem mit der politisch gewollten Verarmung der öffentlichen Hand zu tun und nicht nur von daher mit dem herrschenden Zeitgeist: Privat geht allem vor, den Katastrophen voran und flott übers gemeine Wohl hinweg.
      „Im Kampf darum, wie Bedeutung hergestellt wird, wie Macht entsteht, Deutungshoheiten behauptet und Eichsysteme für Qualität geprägt werden, haben sich offensichtlich die Gewichte verschoben. Wer hat die Macht im Kunstsystem? Wer entscheidet, was gezeigt wird, was als bedeutend gilt?“ Die Künstler sind es nicht und waren es auch nie; wie bei anderen Produzenten auch, ist ihr Einfluss auf die Verwertung ihrer Arbeit gering und sinkt mit der steigenden Zahl der Angebote; Künstler sind an diesem Punkt kaum in einer besseren Lage als sonst abhängig Beschäftigte. Picasso war ein Genie und Genies sind Sonderfälle. Aber auch er brauchte den Betrieb, schon weil er wie die meisten Künstler gern gearbeitet hat.
      Niklas Maak fährt denn auch fort: „Bisher war die Antwort auf diese Frage meistens: die staatlichen Ausstellungshallen und Museen, vielleicht noch die Biennalen – und weniger die privaten Sammler. (…) Doch seit neuestem gibt es einen neuen, meist schwerreichen Typus von Kunstsammler, der nicht nur Kunst, sondern gleich das gesamte System inklusive seiner Insassen (Kuratoren, Museumsleiter) mitkauft, Museen gründet oder de facto übernimmt, hochdotierte Preise vergibt, die an Künstler gehen, welche dann in ihrer Sammlung auftauchen, und in den eigenen Museen gezeigt werden. So wird eine zweite Kunstwelt aufgemacht, in der Karrieren vollkommen steuerbar werden – und es wundert gar nicht, dass in diesem neuen System immer dieselben Namen auftauchen.“ (FAZ, 2.3.10)
      So neu ist das Auftauchen immer derselben Namen nicht, auch der Betrieb ist schon länger ein selbstreferenzielles Kommunikationssystem, das ein- und ausschließt, auch mit einer gewissen Willkür. Neu ist die Rekrutierung dieser Namen fast ausschließlich über den Markt, der Erfolg und Qualität, Preise und Bedeutungen entkoppelt hat: Sie können, müssen aber miteinander nichts mehr zu tun haben. Eduard Beaucamp: „Unser kapitalistischer Marktzirkus, angetrieben von unvorstellbar großen und frei vagabundierenden Geldmassen, die nach diskreter Anlage suchen, macht mit seinen Zaubertricks aus Adepten im Handumdrehen Künstler von Weltgeltung, die auf Auktionen sogar berühmte Alte Meister zu Zwergen degradieren. Auf dem Markt ist der Kunstverstand verloren gegangen. Ein Stück Barbarei breitet sich aus. Viele Künstler gefallen sich dabei in der Rolle von Bütteln der Spekulation, profitieren von dieser Dressur, und das ahnungslose Publikum will es gar nicht merken, dass hier Kunst nur noch Vorwand ist für ein Roulettspiel.“
      Kunstverstand ist vom Markt nicht zu verlangen, so wenig wie ein Umweltbewusstsein und ein soziales Gewissen. Kunstverstand können Marktteilnehmer haben, ob sie Gebrauch davon machen, hängt von vielem ab. Aber es stimmt: Kaufen und sich kaufen lassen; es gehören immer zwei zum Tango. Zu beklagen ist aber weniger die Wahl des Marktes, zu beklagen ist der Ausschluss, der Anderes und Besseres wenn nicht verhindert, so doch sicher beeinträchtigt. Den größeren Schaden, meine ich, stiftet dieses Markttreiben unter den Künstlern selbst, unter denen, die profitieren und unter denen, die nicht profitieren.

Honoriert der Markt Marktgängigkeit auch nur manchmal, verlangt er doch immer die Unterwerfung unter seine Regeln, zwingt in die Enge eines Geheges, in den Manierismus und in die Wiederholung. Sich wiederholen, meinte Picasso, bedeute den Gesetzen des Geistes zuwiderhandeln, Eskapismus.
      Eskapismus und Wiederholung sind eh stets offene Fallen; sich in ihnen einzuhausen, gleich ob mit offenen oder geschlossenen Augen, rächt sich über kurz oder lang. Ist wer dumm genug – konditioniert oder naturbelassen – mag er denn glauben, was der Betrieb an Bedeutungen hererzählt und sich womöglich noch im Käfig frei gerieren. Welche Knöpfe man drücken muss, damit die Banane kommt, ist leicht zu lernen, vor allem, wenn es nur noch um Bananen geht. Ein intelligenter Zyniker klopft auf Holz und hofft, dass die Idioten mit dem Korb noch eine Weile kommen. Liegen erst genug Bananen im Speicher, wird er die Knöpfe Knöpfe sein lassen und sich an Anderes, Wichtigeres, ans Eigentliche machen, gewiss doch. Irgendwann, das heißt vermutlich: nie.
      Kunst verträgt romantisches Engagement und klassische Egomanie, auch Ironie und Zynismus in mittleren Dosen, sie verträgt Mängel im Handwerk (schon weniger), selbst Dummheit, Gehampel und falsches Voraussetzen. Was sie nicht verträgt, ist Unehrlichkeit. Alle Kräfte der Kunst rühren aus deren Aufrichtigkeit und die Aufrichtigkeit hat, außer im Hirn, ihren Grund auch im Hirnkeller, im Unbewussten, meinte Peter Hacks. Ist der Schaden einmal da, geht er kaum zu reparieren. Wenn Ezra Pound recht hatte für seine Zeit, dann auch für diese: „…das einzige, was taugt, ist das, was gegen den Markt geschrieben wurde. Es gibt kein schlimmeres Gift als das Geld. Wenn einer einen dicken Scheck erhält, denkt er sogleich, daß er etwas geschaffen habe, doch schon bald fließt kein Blut mehr durch seine Adern, sondern Tinte.“ Oder Terpentin.

Junge Künstler, Absolventen und Studenten der Akademien erleben das marktläufige Kunsttreiben als Normalität, seit mehr als anderthalb Jahrzehnten den Erfolg am Kunstmarkt als Erfolg an sich, Qualität aber als Zuweisung und Auswahlkatalog. Was geht ist gut: Groß und dekorativ muss es sein und widerspruchsfrei mit dem Rücken zur Gesellschaft verfertigt, wenn’s unterkomplex, schlicht, besser noch simpel ist, schadet das nichts, das manifest Harmlose sei die Regel, Rätsel sind löblich, auch Scharaden und Mummenschanz, Erfahrungswissen stört, Kritik geht kaum, Dunkelheit und Verneinung sind das Letzte, Utopie ist Gift… Soweit das aktuelle Muster: Schmerz mag dem Leben zu Grunde liegen, aber Schmerz verkauft sich nicht.
      Unter diesem enormen Anpassungs- und Erwartungsdruck dem Eigenen oder wenigstens einer eigenen Position nahe zu kommen und dann dabei zu bleiben, braucht es Stärke. Scheinbar für alle und jeden erreichbar liegt da ein Berg goldener Bonbons und drumherum dehnt sich das Unbekannte. Neo Rauch: „Die Aussicht, mit im Handumdrehen zu fabrizierenden Fotoabmalungen ebenfalls im Handumdrehen Millionär zu werden, ist von allergrößter Verführungskraft.“ (Spiegel, 36/06) In den Ausstellungen junger Kunst findet sich denn auch die komplette Selbstaufgabe neben hinhaltendem Widerstand, in den Gesprächen mit jungen Künstlern verbreitet Ratlosigkeit. Über beidem steht die nahe liegende und doch seltsame Frage: Warum nicht ich?
      Peter Iden, einer der Kuratoren von „60 Jahre…“, kam einer Antwort nahe, als er in Bild.de formulierte: „Das ist eine interessante Frage, generell. Wieso sind nicht andere so bekannt geworden, wie diese, die wir hier nun als Hitparade versammelt haben? Man kann das alles, wenn man will, unter Glück zusammenfassen; natürlich gehört viel Können dazu, aber viele, die viel konnten, sind nichts geworden...“ Das „nichts“ wie das „Können“ sind problematisch, aber „Glück“ klingt nach Einsicht: Im rechten Moment am rechten Ort gewesen zu sein, mit seinem Material in Verwertungsinteressen gepasst zu haben, ganz unabhängig von dessen sonstiger Beschaffenheit und Qualität: ist Glück. Glück im Sinne von Schwein gehabt, Bammel, Dusel, Mehl; egal wie heftig einer dafür auch gestrampelt haben mag.
      Eine Struktur nimmt ihr Material auf, wo sie es findet, und wer einmal drin ist im Betrieb, der bleibt. Diese Struktur besteht aus agierenden Personen und ihren Interessen, die Orte an denen sie ihr Futter findet, sind die Hochschulen, die Akademien: 27 Fördermaschinen mit einem jährlichen Ausstoß von einigen tausend potentiellen Künstlern.
      Zumindest theoretisch hat jeder von ihnen die Wahl, ob er an dem arbeiten will, was nur er machen kann, ob er sich irgendwo einfügt oder ob er sich gleich dem Markt unterwirft. Ersteres muss er freilich erst herausfinden und entwickeln, was dauern kann und oft genug scheitert. Ob das Ergebnis dieser Mühe irgendwann vom Markt nachgefragt wird, ist eine offene Frage. Letzteres garantiert den Erfolg ebenso wenig, geht aber schneller und ist leichter, gegebenenfalls auch leichter abzubrechen.
      Zwischen diesen Polen dehnt sich ein weites Feld der Übergänge und unter allem gähnen die Markenfallen: Rassekatzen und Zierfrauen, aufgeblasene Gummitiere und Hai in Aspik, handgemalte Fotoausschnitte, Mickey-Mouse-Surrealismus und so weiter im Pool des kapitalistischen Realismus, gegenständlich als auch abstrakt, ein Leben lang. Unter seinen Möglichkeiten zu bleiben, ist verbreitetes menschliches Schicksal, aber ungeprüfter Verzicht, mag er auch marktrational geboten sein, ist wie alles nur Funktionale in Vollzug und Ergebnis grauenhaft öde.
      Der Markt fragt nach Ware, die immerhin Kunst sein darf. Das ist der Spielraum, so scheint’s: Gehen oder Bleiben, das Rattenrennen mitmachen, aus- oder gar nicht erst einsteigen. „Häufig wird gefragt: Können sie so was verkaufen? Wer kauft so was? Wer stellt – hängt sich so was hin? Das ruhige Umfeld zwingt mich nicht. Ich muss keine Marktpräsenz hervorbringen, habe die Chance bildkünstlerische Arbeit zu machen, die einfach nur da ist.“ Unbehelligt seiner Kunstarbeit relativ frei nachgehen zu können, ist ein Privileg der Provinz. Provinz ist, wo die Moderne ihren Rückzugsraum hat, ihr Reservat. Willkommen in Mecklenburg.

Sackendes Licht und ein feuchter Geruch nach Früher, nach Distelöl und brennendem Reisig. Nässe steht, erhebt sich, hängt blau im Bruchwerk, in Buschkrätzchen, Insel- und Schilfexistenzen. Grün sprengt ins Bild, gelb und kapern, obsidianweich, locker vom Zeitpinsel geschleudert, schluckt das Geäst, frisst sich in den Himmel, hebt jäh den Boden, eben noch dunkel, dann mantelfarben, sehr alt und verschwunden, weithin.
      Grün? Keine Antwort… Helles Blattgrün von früh an und Blattgrün nach Mittag, ein Brettgrün, ein Staubgrün, und Schiffsschraubengrün, wie’s blüht aus der Bronze in Waren an der Müritz, dann trockenes Holzgrün, Frösche, platt im Kies, uraltes Hemdgrün und frisches Helmgrün, näher am Rot das Grün früher Bahnhofslichter und Binnenreimgrün, das Grün dünner Halme, des geschüttelten Spechts… Man muss sich beeilen, wenn man etwas sehen will, alles verschwindet, so sagt es Cézanne.
      Alles was in Mecklenburg geht, geht auch in Berlin. Die Entscheidung für das Land, die Provinz muss gute Gründe haben. Sich nicht gegenseitig im Licht und auf den Füßen stehen zu müssen ist einer davon. Die Entfernung zu den Märkten ist auch einer. Damit fällt das Arbeiten aus der Zuständigkeit dieser Zensurstelle heraus, erst einmal, und wird damit wahrscheinlicher. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten ermöglichen Märkte Kunst und verhindern Kunst, wie eine Diktatur auch, nur effizienter. Ein Grund ist die Frage: Wie viel Platz hat die Welt für relevante Kunst. In Mecklenburg dürfte der noch eine Weile reichen, gerade auch für Kunst, die auf ihre Zeit zu warten hat. Warten fällt schwer, wenn die Menge an Kunst und Kunstähnlichem sichtbar fast im Minutentakt wächst, begleitet vom anschwellenden Dauerton aufgeregten Geredes, von normiertem Gehampel im Stehen, Sitzen und Liegen.
      Scheitern ist in Berlin wie in Mecklenburg immer eine Option. Aber Scheitern macht in Mecklenburg einfach mehr Mühe. „Und das Meer, was wird aus dem Meer?“ „Weißt du, was das Meer uns kann? Denk an das Geld, damit suchen wir uns ein anderes Meer.“ (Telefonat zweier Mafiosi, TAZ vom 10.5.2010)

Berlin ist die Kunststadt dieser Tage, entsprechen groß ihr Sog. Allein in seinen Kunstschulen reifen rund 5000 schöne Talente heran, etwa 700 davon werden jährlich frei gesetzt. An die 5000 bildende Künstler soll es derzeit hier geben, oder auch 10.000, 20.000… und was der abenteuerlichen Vermutungen mehr sind. Ganze Jahrgänge französischer Kunstschulen berlinern bereits; kein Bus, kein Flieger, der nicht Künstler aus aller Welt in Mengen absetzt, aus dem Spreewald kommen sie in Booten, zu Fuß aus dem Erzgebirge und aus Schwaben im Geländewagen. Gewisser sind die ca. 500 Galerien und die Mitgliedschaft im BKK, rund 2000, unumstößlich aber ist die Ansicht, wer immer „etwas mit Kunst und Medien“ machen wolle, müsse nach Berlin.
      Angefangen hat das Anfang der 90er. Berlin, vor allem der Ostteil, galt als Stadt der Möglichkeiten, der Freiräume und war tatsächlich eine Stadt, in der es leicht war, arm zu sein. Leichter als in München, Stuttgart, Paris, New York. Für Lebenshandwerker aller Art, nicht nur für Künstler, ist das wichtig: es garantiert freie Lebenszeit. Gründungen in Menge waren die Folge und Projekte jeder Richtung, vorzugsweise aber im Bereich der Kultur, der Medien und der Erlebnisgastronomie. Darunter waren auch etliche Galerien, die sich zu vermehren begannen wie der süße Brei vor dem Schlaraffenland.
      Mit den Freiräumen und geringen Wohnkosten geht es freilich zu Ende, seit die Bundesregierung in Berlin sitzt. Sie zog die Ministerien nach, die Parteien, Institutionen, Verbände und sämtliche Lobbyistenvereine, alles eher sperrige Einrichtungen. Ein Heer von Mitarbeitern des tertiären Sektors zog mit und hat seinen Platz im Speckgürtel und in den Innenstadtquartieren gefunden. Die letzte Organisation, die im wahrsten Sinne des Wortes eine Freifläche für ihre rund 4000 Mitarbeiter zugebaut hat, war übrigens der BND.
      Die Folgen sind in Mitte und Prenzlauer Berg zu besehen. Ausgeschrieen als Orte der Kreativität und Selbstverwirklichung, wurden sie zu Wunscherfüllungsautomatenparks, bewohnten Geldanlagen, erstickt im eigenen Fett. Diese Entwicklung setzt sich in anderen Stadtbezirken fort. Zuzügler und Verdrängte füllen den Leerstand mit Projekten und einer Szeneinfrastruktur, die Mieten steigen und verdrängen die eingesessene Bevölkerung, was wieder Zuzüge nach sich zieht und endlich die Aufteilung der Quartiere in Eigentumswohnungen, Eigenheime einer saturierten Mittelschicht in Stapellage quasi. Kreativ und selbstverwirklicht: Du bist was du hast.
      Dem Ruf Berlins als Kreativzentrum der Republik hat das bislang nicht geschadet, seiner Basis schon. In einer der kühleren Besprechung der Situation heißt es denn auch wieder: Jahr zu Jahr wachse das Berliner Künstlerproletariat. (NZZ, 3.2.07)

Es sind vor allem junge Künstler zwischen 16 und 36, die sich in der Hauptstadt ballen. Junge Kunst gilt als ein Wert an sich, spätestens seit den 1860ern, als das Karussell einander ablösender, befehdender Ismen sich in Gang gesetzt hat oder auch schon seit der ersten Welle der Romantik. Da wäre etwas zu erwarten, etwas Neues, neue Formen, neue Gegenstände, ein Gewinn an Erkenntnis eventuell, an Möglichkeiten, an Dingen, an Marktfutter und, na klar, Spektakel, Krawall und Unterhaltung. Dieser traditionelle Bonus ist geblieben, allein, nach Lage der Dinge, von geringerer Deckung.
      Was innerhalb dieser jungen Szenen geschieht, wie produktiv sie unter Umständen sein können, weiß, wer drin ist. Auch was Konkurrenz, Klumpenbildung und das verbreitete Schielen nach dem Erfolg der Erfolgreichen anrichtet. Ihre Fenster, die Galerien, betonen die Nähe und eine gewisse Austauschbarkeit, zeigen oft kühl Kalkuliertes und wenig Dichte. Verbreitet ist eine reine Entnahme von Weltpartikeln, mehr oder minder gekonnt bearbeitet, und eine betriebsame Imaginationsverweigerung, die etwas Gespenstisches hat.
      Es bestehe kein Zweifel, meinte Octavio Paz 1990, dass der zeitgenössischen Literatur etwas fehle: „Dieses Etwas ist die Silbe Nein, eine Silbe, die immer die Ankündigung großer Bejahungen gewesen ist.“ Auch dieser Kunst fehlt sie fast immer; das Zwingende, Begierden und Ängste, all das scheint weit weg. Was A. gemacht hat, hätte auch B. machen können, nichts muss, alles kann und dann genauso gut gelassen werden. Was es gibt, gibt es im Dutzend, womöglich noch in derselben Straße. Dieses nahe Beieinander bringt die eh geringen Differenzen zwischen den Positionen zum Verschwinden, die Quantitäten verdecken die mögliche Qualität. Umso deutlicher bilden sich Trends, Moden, Interessen ab und was am Kunstmarkt gerade geht.
      „Man muß jung vor dem Publikum auftreten und alsdann oft erscheinen“, spottete Goethe 1808: „Dieses Tier denkt, wer viel gibt, muß viel haben, und wer oft bringt, muß reich sein. Und hat man es nur erst dahin gebracht, dass man Bewunderer findet, so wird es auch nicht lange an unbedingt Ergebenen fehlen, welchen alles vortrefflich ist, was den Namen des Bewunderten an der Stirn trägt.“
      Auch in Berlin ist das Publikum ein Problem. Die zahlreichen großen Häuser haben ihre Aufmerksamkeit, ziehen sie aber auch ab. An wen sich die 500 privaten Galerien wenden, zu denen noch eine Menge anderer Ausstellungsorte kommt, ist nicht zu sagen. Das kunstinteressierte Publikum ist zahlreich, aber ohne Übersicht und alsbald satt, die Kritik schon mit der Abbildung des Kunstgeschehens überfordert. Gerade die Menge des Angebots verhindert Wahrnehmung.
      Ob da etwas im Verborgenen wächst, wird sich zeigen, irgendwann, vielleicht in 10, in 20 Jahren oder auch nie. Die Chance, auch mit wichtigen Arbeiten unterzugehen, ist groß. Irgendwann werden Memoiren erscheinen, Bücher über die tolle Zeit, in der Berlin die Kunststadt gewesen ist. Das Schöne daran: Es wird für die Veteranen so gestimmt haben. Derzeit aber hat der Kunstboom in Berlin etwas Bedrückendes, auch Trauriges, für mich jedenfalls. Da geht viel Mühe, gehen Hoffnungen und Möglichkeiten, Lebenszeiten rasant den Bach runter. (Rasant, rasant, Herr Kommandant!)

„Mit logischer Konsequenz ist Berlin der bildenden Kunst eine Hauptstadt des Platten, leicht Verständlichen und Renommistischen geworden; eine Stadt gewissenlos entarteter Denkmalplastik, kleinbürgerlich versimpelter Genremalerei und einer für zuchtlose Kindergemüter bestimmten panoramamäßigen Malerei. Die materielle Täuschung, Abschrift der Natur, vereinigt mit protzigem Eklektizismus, gemalter Patriotismus, Genrehumor, Anekdotisches und Photographisches, Soldatisches und Höfisches: das sind die Charakteristika der neuberlinischen Reichskunst. Das ungebildete Kolonistengeschlecht wollte unterhalten und geschmeichelt sein, nicht belehrt und veredelt, es wollte Marktwerte, nicht Kulturwerte. Es brauchte das Sentimentale, Wohlfeile, Theatralische, das vom Augenblick geborene, das Mittelmäßige und Massenhafte.“
      Dieses Zitat stammt von Karl Scheffler und steht in „Berlin. Ein Stadtschicksal“, in Druck gegangen 1911, sechs Jahre nach Menzels Tod, im Jahr der Übersiedlung der „Brücke“-Leute, ein Jahr vor Herwarth Waldens „Sturm-Galerie“. „Es ist fast phantastisch, wenn man in dem kunstfremden Milieu der (…) Großstadt, im Berlin Antons von Werner, der Siegesallee und der großen Kunstausstellungen ein echtes Talent wie das Liebermanns auftauchen sieht…“ Geschichte wiederholt sich nicht, so oder so. Man wird sehen.

Ins Blaue hinein, mit Türkis an den Fingern gegangen und Kohlenstaub, dem Trauerblau unterm schartigen Nagel, dann sehen ins Blau blauer Stunden, lange …
      Blaue Bäume am Horizont, ein flammendes Fenster, Vögel und Tode, Milchfarben, Telefonate, erhitztes Blech: Nie wird es genug sein. Flussblau, gefasst in Weißes; es sind Sprünge drin, das Erinnerte, auch das Erinnern, das wirkliche Grau. Es regnet und Weiß steigt nach oben ins Blau, Wolke und Stein. Hier waren sie auch, allesamt Söhne und Töchter von Bergleuten, Glaubenshelden und Schustern, in Häusern geboren. Wie sie gingen, sanken sie um. Nichts gleichgültiger als das.
      Du wirst dich noch wundern, im Zeitgang auch du. Granit buchstabieren: Blauspat, Blauquarz und Glimmer, nicht anders als die Druckmaschinen, neuerdings sterbliche Engel, halbfest auf dem Marsch in die Gasform. In den Handflächen, in den Gelenken das Blau wohnt; das Meer auch, ist es still oder tobt...
      Mütter gehen in der Tretspur und Väter verharren, verantwortungsirre im verschobenen Zeitgang, Panzerfressen, angstgeschüttelt, sie winken. Polizisten, Grünkramhändler, Medientussen zu Tausenden und am Rande der Raserei – Waahnsinn! – versammeln die Sprechchöre: Freiheit und Gleichheit, ihr Brüder, olé! Dazwischen wachsen die rostfarbenen Mauern, blaufleckig von Bildern und Schrift, weht feiner Sand. Quadratisch geteilt wiederholt sich der Himmel, wiederholt sich das Tuch zu vier Knoten. Und das Meer? Ja, das Meer... Von äußerstem Blau durch Glasruinen Töne gehen.
      Blau also, von b’lo oder b’law: Ist das Andere im rotwelschen Loch. Ist wer Blau, dann sind Gleichgewicht, Verstand, das Erinnern abhanden. Aber in Wein und Wasser schwappt Wahrheit, flutet frei und steht bisweilen um. Blaue Seiten hat jeder, besser man hält sie zusammen. Ich ist, was in den Lebensprozessen nicht verloren ging. Blau klirrt Geflüster, klirren Lippen im Dunkeln, Gebete, der Aufruf zum Streik, zu den Waffen oder im Gegenteil… Es ist, Kameraden, das Blaue noch immer das Blau der Orange, ein Zeltblau vom Regen nach oben verlängert, ein dämmernder Nachruf. Und der Fisch aus Papier an der Blechdose springt.
      Ein scharfsichtiger Schlaf und ein bereites Wachsein liegen in blauen Stunden nah beieinander, die Lücken sind überbrückt und gleichwohl offen, zwischen Stühlen und Stimmen bereit für das Unbekannte. Vielleicht spricht ein Tier: „Grün, wie ich dich liebe, Grün./ Das Grün auf das wir dann endlich wie wahnsinnig schossen“ (Federico Garcia Lorca/Adolf Endler).

Kunst ist heute auf eine seltsame Art leicht zu machen. Die Kunst aller Zeiten und Zonen steht zur Verfügung, real oder über die Medien, ein offener Steinbruch gigantischen Ausmaßes. In den 200 Jahren einer fraktionierten Moderne sind Mittel, Werkzeuge und Methoden ausgeprobt und immer wieder erweitert worden, desgleichen das Feld des Kunstwürdigen. Auch hungern muss bis auf weiteres niemand. Aber trotzdem, trotzdem…
      Verwiesen aufs Ich und eine Gesellschaft in Zerfall und Wandlung, deren Teile sich dem Zugriff immer wieder entziehen, stehen die Künstler heute vor/ zwischen/ hinter den Zeitgängen aller Kunst vordem, oft mit leeren Händen. Die Not des Sagens, nie war sie größer. Auf Dauer helfen da keine Mätzchen.
      Auch das ist in Berlin gut zu sehen, steht als Folie vor oder hinter fast allem, aber in Mecklenburg desgleichen und überall: Ach, wenn man nur hinkäme ins Überall. Heiner Müller: „Talent ist das erste Privileg, das zweite ist, es zu benutzen.“

Eine menschliche Grundkonstante und ein Bedürfnis, aber auch seltsam abgespalten, ist Kunst was? In arbeitsteiligen Gesellschaften eine Spezialisierung mit reduzierter, auslaufender, sich immer mehr verdünnender Verbindung zum Kult, zu magischem, religiösem Denken und immer noch nah am mythologischen Erzählen, gewiss. Und ein ungewisses Wozu. Kunst für alle, als eine Art universelle Kommunikation, scheint es nicht zu geben. Oder nicht mehr. Kunst von allen gab es wohl nie. Im Dienst der Gemeinschaft entstanden, sind schon die Höhlenbilder eine delegierte Gruppenarbeit. „Alle Teile müssen ihren Platz finden/bekommen, in Form gebracht, Form werden… Es geht um das Unbeschreibbare./ Es ändert häufig seine Form, wächst und schrumpft, verschwindet oder steht unter Wasser. Ich habe den Eindruck es gehört nicht nur zu mir. Andere sehen auch da hin.“ Kunst ist Umgang mit dem Unbekannten. „Etwas sichtbar machen, was sonst verborgen bliebe./ Auf eine Herausforderung reagieren, die Dinge sind ja da.
      Mit Fassen und Akkumulation, Aneignung und Ablösung hatte Kunst schon früh zu tun, und transportable Kunstarbeit war der erste individuelle Wert, auch ein Speicher, schon Besitz: Amulette, Schmuck, Statuetten. Mit Bodenbau und Viehzucht kamen die Steinbeile; arbeitsaufwändig geschliffen und schön und sonst nicht zu gebrauchen, zeigten sie Arbeit an der Form vor, dann Reichtum, betonten den Status und waren eine frühe Form von Geld. Abel erschlug Kain, wenn der seinen Herden im Weg stand, aber Kain begrub Abel unter seinen Äckern. Irgendwo dazwischen begann sich die Kunstarbeit vom gemeinschaftlichen Auftrag zu lösen, sehr langsam, ohne diese auch blutige Wurzel je zu verlieren. André Breton: „Teure Phantasie, was ich vor allem an dir liebe, ist, daß du nicht verzeihen kannst.“
      Kunst hat mit Hunger zu tun, vermutlich in mehr als einer Hinsicht. „Mir wurde im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit deutlich, dass ich in meiner Malerei die Zeit anhalten möchte./ Noch ist mir die Kraft gegeben zu arbeiten, um zu arbeiten.“ Es ist schön (befriedigend, erfüllend etc.) etwas gemacht zu haben, aber dann muss man es wieder tun. Aber dann muss es etwas schöneres, größeres, kleineres, etwas anderes sein, näher dran. „Kunst folgt den menschlichen Zeitlinien und negiert sie gleichzeitig.“ Man kommt nicht ans Ende, wenigstens nicht an ein vorgehabtes. Das Unbekannte hält sich, das Fremde, das nicht auf den Begriff zu bringen ist. "Ob ich davon leben kann? – Eher dafür"

Kunst verändert die Wahrnehmung und rührt ans Bewusstsein. Sie vermittelt Erfahrungen, die anders nicht zu haben sind. Kunst ist eine Erfahrung, die der Künstler macht und der Betrachter. George Braque: „Man muss der Beunruhigung immer Vorschub leisten.“
      Kunst hat auf dem Gebiet des Vorgewussten, der Anwendung bestimmter ästhetischer Gesetze und Theorien wenig verloren. Sie bewegt sich auf dem Gebiet der Entdeckungen, und, wie Jannis Ritsos einmal formuliert hat: „…lasst mich das große Wort aussprechen - auf dem Gebiet der Offenbarung“. Künstler sind notwendig Autodidakten. An den Akademien werden sie jedenfalls nicht gemacht.
      In der Kunstarbeit denken die Sinne, die Hände, der Körper und selbst noch das Material. Anders als die heute übliche Erwerbsarbeit, zerlegt künstlerische Arbeit den Menschen nicht in seine Funktionen, sondern braucht ihn im Ganzen: alle seine Fähigkeiten, sein Wissen, sein Denken, seine Erinnerungen, sein Begehren, seine Ängste. Selbst seine Seele, wenn er eine haben sollte. Kunst gibt es nur, wenn die Kunst reichlich bekommt. Ihre Antworten sind vorläufig und altern nur langsam.

„Gegenstand der Kunst ist jedenfalls, was das Bewusstsein nicht mehr aushält, dieses schwer zu ertragende Paradox der menschlichen Existenz, die Unerträglichkeit des Seins.“ (Heiner Müller) Einen überflüssig aufgeblasenen Betrieb am Laufen zu halten, ist sie jedenfalls nicht da, und auch nicht um einen Markt zu bedienen, sondern einzig um sich in die Welt zu stellen und gegen sie, das Niegesehene, das Wunderbare - . Philipp Otto Runge: „Wodurch soll aber die Kunst wachsen als dadurch, daß es dem Menschengeschlechte notwendig ist, sich ihrer zu bedienen, weil das, was durch sie gesagt wird, auf keine andere Weise gesagt werden kann.“
      Kunst, die sich am Markt ausrichtet, und ein Kunstbetrieb, der sich von der Gesellschaft abkapselt, bewirken ein Schwinden ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Kunst, das wird wieder zu lernen sein, ist Opposition im Sinne von Gegenwelt, schon wenn’s um Belang geht: zwangsläufig. Mit den politischen Ansichten der Künstler hat das wenig zu tun, und noch weniger mit der unlauteren Forderung nach dem politisch oder sonstwie außerhalb der Künste Engagierten.
      „Die guten Dichter“, sagt William Blake, „sind auf der Seite des Teufels“. Für die Kunst gilt eben das. Wo der Teufel seinen Ort hat, ist bekannt - in den Widersprüchen - und auch was der dort treibt: Fug.

Manchmal frage ich mich, was ich stattdessen tun könnte; mir fällt nichts ein. Was geschieht noch, wenn niemand mehr eine Frage stellt und eine Antwort sucht? Wann ist etwas zu ENDE? Manchmal bin ich mit meiner Situation zufrieden und manchmal bin ich verzweifelt. Mir tut das gut. So soll es gehen. Ich denke nicht, dass man da irgendetwas verallgemeinern kann. In Wirklichkeit vergeht die Zeit gar nicht. Wir vergehen.
      Lebensentwürfe: Vorstellungen und Wünsche, die jähe oder mähliche Erkenntnis, dass hinter dieser Welt eine andere ist, dass es Griffe gibt an der Welt… Seine Kunstarbeit machen, all das, was nur dieses unsichere Ich mit seinem halbfesten Körper fertig bringt, so lange es geht und gut. Mit nassen Füßen unter radioaktiven Wolken werden noch die letzten Menschen Weltpartikel zu interpretierbaren Welten zusammenbringen, ritzen in die Bunkerwand, schaben, sprühen, einen geflügelten Panzer etwa, sechsbeinige Schweine, einen Sonnenaufgang, Wünsche und Ängste. Seine Zeit nutzen, einem Zeitgang folgen, in dem man ihn anlegt: Mehr geht nicht. Dafür ist Mecklenburg ein guter Ort.

Gregor Kunz, Februar-Mai 2010/2012 überarbeitet

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Postskriptum: In der Kunst gibt es keine zweite, nur eine erste Wahl. In dieser Kiste kommt dann auch immer weit mehr zu liegen, als zu verarbeiten geht. Platz und Zeit reichen nie. Hier liegt das Problem aller Wettbewerbe: Sie behaupten Rangfolgen und meist auch noch deren nachprüfbare Objektivität, von Platz 1 bis irgendwo im Hinterletzten, wo die Hunde beißen; will heißen: Sie konstituieren/behaupten die Zuständigkeit der Juroren, Kuratoren, Veranstalter etc.. Die 20. Kunstschau des KBMV 2010 ist kein Wettbewerb, wiewohl sie Leistungen zeigt.
      Ein Experiment ist sie geblieben und eine schöne Erfahrung. Angefangen mit dem Ausstellungsort als Provisorium fern des Kunstbetriebs und nicht beendet mit dem stachligen Themenbündel "Zeitgänge: Lebensentwürfe und Kunstarbeit in Mecklenburg-Vorpommern".
      Mein Bild vom Kurator ist weder der autoritäre Macher, noch der "Metakünstler", der die Arbeiten andere als Material nimmt für sein Gesamtbild. Ich habe in den letzten 12 Jahren einige hervorragend kuratierte Ausstellungen gesehen, aber auch genug der letzteren Art, die massiv zu Lasten der Künstler gegangen sind und selbst noch die Kuratoren beschädigt haben, hoffe ich zumindest.
      Mir ging es um eine Auseinandersetzung mit Ort, Zeit und eigenem Tun, um eine sanft herbeizuführende Struktur, eine Gelegenheit für unvorhergesehene Begegnungen und Reaktionen, für Zeitgänge und Zeitwürmer, bohrende Fragen und mehrstimmiges Antworten, ein Zusammengehen autonomer Positionen, ein Spiel für Kunst, das am Ende mehr hergeben sollte als nur die Summe seiner Teile. Hätte das schief gehen können? Ich glaube, das will ich gar nicht so genau wissen. Ausstellungen dieser Art, das war zu lernen, entwickeln sich ähnlich der Kunst selbst: indem sie sich einer ungefähren Vorstellung nähern, verändern sie diese und treten über diesen Dialog ins Reich des Möglichen ein. Auch werden sie nie fertig.
      Ich habe die Künstler nach den mir zugänglichen Arbeiten eingeladen, reagierend auf Sicht, nach Spruch und Widerspruch und, mit Umberto Eco gesprochen, "ohne andere Rechtfertigungen als die Seinsgründe des Begehrens". Was mich jeweils angesprochen hat, ist auch mein Richtungswunsch an die Künstler gewesen.
      29 Künstler sind der Einladung gefolgt und haben 38 Räume mit ihren materialisierten Lebensentwürfen und Wünschen gefüllt, mit ihrer Kunstarbeit und ihren Ansagen zu Zeit und Leben. Jedem stand frei, sich mit dem Ort Weitendorf und mit dem Thema Zeitgänge nach eigener Vorstellung auseinander zu setzen, womit auch immer. Wie es sich gehört, haben die Künstler davon rege Gebrauch gemacht. Ein großer Teil der Arbeiten ist für diesen Ort entstanden, wurde vom Ort verändert und teilweise auch am Ort realisiert. Selbstverständlich ging das ohne ständiges Improvisieren nicht ab.
      Es hat mir sehr gefallen, wie die Künstler ihre Räume gefüllt haben und eine Wunderkammer nach der anderen aufging. Wie der unermüdliche TO Helbig die Gänge mit Weiß überzog und die Kunstarbeiten/ Kunsterfahrungen ins Gespräch kamen, die autonomen Teile sich im spannenden Ganzen wiederfanden. Wie in einer parallelen Aktion der von Renate Schürmeyer gestaltete Katalog und damit die Ausstellung noch einmal Gestalt anzunehmen begann. "Zeitgänge" ist auch eine kollektive Leistung. Meine Wünsche haben sich erfüllt, auch die, von denen ich am Anfang noch nichts wissen konnte. Ich hoffe, es ging allen Beteiligten damit ebenso. Seine Zeit nutzen, einem Zeitgang folgen, in dem man ihn anlegt: So sollte es sein.
      "Zeitgänge" ist so gut, wie die Arbeiten der Künstler, die sie ermöglicht haben. Mein Auftrag war der Blick von außen, der fremde Blick auf das Arbeiten und die Arbeitsbedingungen im Lande. Damit konnte ich dienen. Kunst ist Praxis. Wirklich gegen die Kunst spricht nur das Gerede, das sie nach sich zieht. Danke.

Dresden und Weitendorf, Juli 2010



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Quellen und Literatur:

Antworten und Auskünfte mecklenburger Künstler kursiv

Wilhelm Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Eugen Ulmer, Stuttgart, 1978
Flodoard Frhr. von Biedermann (Hrsg.), Goethes Gespräche, Erster Band: Von der Kindheit bis zum Erfurter Kongreß, Biedermann, Leipzig, 1909
André Breton, Manifeste des Surrealismus, Rowohlt, Hamburg, 1996
Umberto Eco, Über Spiegel und andere Phänomene, Hanser, München, 1988
Adolf Endler, Akte Endler, Reclam, Leipzig, 1988
Anatole France, Die Insel der Pinguine, Piper & Co, München, 1908
Willi Geismeier, Caspar David Friedrich, Seemann, Leipzig, 1973
Eckardt Gillen (Hsg.), Meer, Strand und Himmel als Sehnsuchtsziel und Zufluchtsort der Künstler seit Edvard Munch, Hinstorff, Rostock, 2005
J.W.v.Goethe, West-Östlicher Divan, Dieterich, Leipzig, 1943
Peter Hacks, Essais, Reclam, Leipzig, 1984
H.Harms, Vaterländische Erdkunde, Wollermann, Braunschweig und Leipzig, 1906
J. Nettelbeck, Ein Mann. Des Seefahrers und aufrechten Bürgers Joachim Nettelbeck wundersame Lebensgeschichte von ihm selbst erzählt,
Langewiesche-Brandt, Leipzig, 1913
Sigrid Hinz, Philipp Otto Runge (in: Welt der Kunst), Henschel, Berlin, 1973
Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6.A., Bd. 13, Bibliographisches Institut, Leipzig und Wien, 1908
Heiner Müller, Gespräche 1-3, Suhrkamp, 2008, Krieg ohne Schlacht, Kiepenheuer, 1994
Alfred Philippson, Bibliographisches Institut, Europa, Leipzig und Wien, 1905
Philipp Otto Runge, Die Begier nach der Notwendigkeit neuer Bilder, Briefwechsel und Schriften, Reclam, Leipzig 1978
Karl Scheffler, Berlin. Ein Stadtschicksal, Erich Reiss, Berlin-Westend, 1910
Hugo von Tschudi (Hg.), Ein Jahrhundert deutscher Kunst (Die deutsche Jahrhundert-Ausstellung,
Band I: Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775 - 1875 in der königlichen Nationalgalerie Berlin 1906), Bruckmann, München, 1906
César Vallejo, Funken wie Weizenkörner, Volk und Welt, Berlin, 1971
Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1 u. 2, C.H.Beck, München 1989

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