Dresden ist eine schöne
Stadt. Dresden ist eine Realität und nicht ganz wahr. Dresden existiert
in der Mehrzahl: als Gemeinwesen, als bebaute Fläche, in den
Vorstellungen der Dresdner und der Besucher der Stadt. Natürlich
existiert Dresden auch auf dem Papier. Die Literatur beiseite gelassen:
Fotos sind so ehrlich, wenn sie lügen, und was immer sie Falsches sagen
- es stimmt. Stadt des Barock, Stadt der Technik, Stadt der Künste und
der Künstler, Stadt am Fluß, Stadt der Widersprüche. Wenigstens
letzteres stimmt ohne Einschränkung. Dresden leidet an seiner
Geschichte, an seiner Schönheit, an seinen Verlusten und an seinen
Realitäten. Die Stadt lebt davon, unter anderem, zehrt davon und wird
nicht satt. Eine Ende ist nicht abzusehen. Womöglich ist das gut so.
Die Stadt der Pläne war in aller Zeit eine andere als die gebaute Stadt
- auch und weiter gut bewohnt, gewiß, von Gespenstern -. Die gebaute
Stadt steckt in der Schleife von Zerstörung und Aufbau. Aufbau ist in
Dresden Wiederaufbau oder Aufbau und Zerstörung in unauflösbarer
Verschränkung. Dresden ist für Architekten eine schwierige Stadt. Viele
Dresdner sind Architekten oder wenigstens Gärtner, mit einer so
heimlichen wie ungeteilten Liebe zu barocker Pracht und zu
biedermeierlicher Idyllik. Die Moderne und Postmoderne treten hinzu mit
konfektionierten New York- als auch Baumarktzitaten, schüchtern und
flegelhaft und undimensioniert, als modische Anschaffung und manifeste
Gewalt der Ökonomie. Manchmal, mit dem Blick auf die nähere
Baugeschichte und auf die ganze Stadt, auch als Architektur.
Dresden ist seit dem 15. Jahrhundert Hauptstadt und war bis 1918
Residenz. Vorher war die Stadt ein Flußübergang mit einer gewissen
Bedeutung im Getreide- und Tuchhandel, Pirna nachgeordnet und weit
hinter Meißen. Leipzig war Handels- und Bürgerstadt und nie Residenz.
Chemnitz wurde Industrie. Leipzig und Dresden bekamen ihre Industrien
im 19. Jahrhundert hinzu - leichte vor allem - mit Chemnitz hatte die
Industrie eine Stadt bekommen und zwar an Hals und Kragen, fest in den
Griff. Ruß-Chemnitz, die Arbeiterstadt. Universitäts- und Bücher- und
Pfeffersackstadt Leipzig. Beamtenstadt Dresden und Kunststadt, Stadt
der Pensionäre... Ganz gestimmt hat das nie. Aber Geschichte wie
Geschichten prägen Stadtbilder, Grundrisse und Mentalitäten. Ähnlich
den Grundrissen, dem Straßennetz setzen Mentalitäten sich fort und
führen ihr Eigenleben. Durchaus mit sich im Streit.
Entsprechend ist der Dresdner Konservatismus keine verläßliche Größe
und hat der Dresdner Modernismus etwas Demonstratives, etwas
Angelerntes: Wir auch. Man möchte seinen Stadtteil grün und sein
Dresden schön und überschaubar, aber irgendwo in diesem Dresden ein
World Trade Center mit 80 Stockwerken - egal wozu - und zwei bis vier
Autobahnen vor der Tür. Nicht vor der eigenen Tür allerdings. Man
möchte das Stadtbild und die Kulturlandschaft, die Dresden vor allem
ist, bewahren und entwickeln; aber wenn’s dem Fortschritt dient oder
wenigstens dem Fortkommen, dann ist alles möglich. Der in den frühen
90ern nachdrücklich geäußerte Wunsch eines Dresdner Oberbürgermeisters
kann da als typisch gelten: Er wolle endlich die Kräne sich drehen
sehen. Wozu und wofür hat er nicht gesagt, aber man darf vermuten, es
ging ihm um das Gute, Wahre, Schöne im Allgemeinen und um ein nicht
näher definiertes Prosperieren der Landeshauptstadt im Speziellen und
um seine Wiederwahl in Permanenz. Nun drehen sich die Kräne schon seit
längerem, heben und lassen herunter, und was am Ende in der Landschaft
stehenbleibt, will öfter keiner gewollt haben. Auf Baustellentafeln
stehen Bauherren und Architekten üblicherweise zu ihren Projekten, an
den fertigen Häusern fehlt diese Unterschrift fast immer. Aber es wird
nichts nützen. Häuser sind Porträts, Denksteine noch nicht Gestorbener;
des Bauherren vor allem und auch der Architekten. Augenscheinlich steht
es verbreitet mit beiden nicht zum Besten. Häuser haben ihre
Geschichten, erzählen und sind ihre Geschichte; das macht ihren
bleibenden Wert aus und ihren Unwert, jenseits des Ökonomischen. Würden
Menschen deutlich älter, als sie üblich werden, wüßten sie das.
In den letzten 13 Jahren hat es noch kein großes Bauvorhaben in Dresden
gegeben, um das nicht heftig gestritten worden wäre. Auf den ersten
Blick sind die jeweiligen Kontrahenten klar geschieden, identifizierbar
und zu benennen. Sagen wir: als konservative Modernisten und
technokratische Macher auf der einen und linksökologisch orientierte
Konservative auf der anderen Seite. Aber läßt man technokratischen
Stumpfsinn, Rechthaberei und partikulare Egoismen einmal außer
Betracht, ist es so einfach wohl nicht. Der Riß geht quer durch die
Lager und durch viele der Beteiligten noch einmal. Dieser Streit währt
schon länger als 13 Jahre und ist Dresdens bester Teil. Ja, könnte man
technokratischen Stumpfsinn, Rechthaberei und partikulare Egoismen
heraushalten... Kann man aber nicht. Was ist schon einfach.
Wenn sie nicht selbst Einwanderer sind, stammen fast alle Bewohner
großer Städte von Einwanderern ab. Die in einer großen Stadt
vorherrschende Mentalität, der Ortsgeist ist nichts autochthones,
sondern ein Mix, lange geschüttelt und immer wieder ergänzt. Die
Geschichte gab das ihre hinzu, die Landschaft, die
Ernährungsgewohnheiten, die Arbeit, die politischen Verhältnisse, die
Religion, Glück und Unglück. Was in diesem währenden Prozeß sichtbar
und hörbar wird, ist etwas jeweils eigenes, unterscheidet die Städte
deutlich, ist Teil ihres Charmes - wie herb und zweckbetont, gewinnend
oder reserviert der immer sein mag.
Als im späteren 19. Jahrhundert die Bevölkerungszahl Europas steil
anstieg und die großen Städte entstanden, kam ein Großteil des Dresdner
Zuwachses aus dem Erzgebirge, aus dem nördlichen (deutschsprachigen)
Böhmen, den beiden Lausitzen und Schlesien. Die Gründe der Ab- als auch
Zuwanderung waren die selben wie heute auch; ausweglose Armut und die
Hoffnung auf lohnende Arbeit, Auskommen, Teilhabe, Aufstieg im
Anderswo. Der Dresdner Autor Karl August Engelhardt (1768-1834) teilte
für seine Zeit nur allzu bekanntes mit: „Bei allem Fleiß aber führen
die Erzgebirger ein kümmerliches Dasein. Brot ist mehr Zukost, und
Mehlspeisen, die Schmalz erfordern, sind seltene Leckerbissen;
Kartoffeln sind die tägliche Mahlzeit für die ganze Familie. Zum
Frühstück, Mittags- und Abendbrot erscheint regelmäßig dieselbe
Schüssel mit Kartoffeln auf dem Tische, und manch arme Frau zählt sie
den Kindern wie Leckerbissen zu; gewöhnlich wird nur Salz dazu genossen
(...) Auch in betracht der Wohnungen behilft man sich auf das knappste.
Es ist nicht selten, daß 3 bis 4 Familien, jede mit einem Herdchen
Kinder, also oft 20 bis 24 Personen in einer Stube hausen, die kaum 6
Meter im Geviert hält.“ (Dieser Schulbuchtext blieb in Varianten fast
das ganze 19. Jahrhundert hindurch gültig, diese hier stammt aus einem
Hilfsbuch für den Unterricht in der Erdkunde, Halle 1885)
Es darf also vermutet werden, daß ein Teil der Dresdner Mentalität von
daher kommt, aus verdrängter, vergessener Armut und inhaliertem
Anpassungsdruck und selbstverständlich aus gepflegtem Stolz. Man war
immerhin nicht in irgendein Gewerbegebiet gezogen, sondern siedelte
nahe der Residenz, wohnte um und neben all der Pracht und war irgendwie
schon fast ein Teil davon. Was das Heimweh mit den Zuwanderern
anstellte, wäre einmal eine besondere Untersuchung wert.
Wie überall war die Sprache der große Integrator. Sächsisch gemeindete
ein, selbst wenn der Fremde hätte fremd bleiben wollen. Spätestens
seine Kinder leiteten zwanglos Dresden von Drehen ab - „Erst stecksten
Finger nei, dann drehsden!“. Ob das heute noch funktioniert, steht
freilich dahin. Die Mundart ist in Verschiß geraten, wohl weil das
Neonblabla von Politik und Wirtschaft, weil Demagogie, Werbesprech und
Durchhalteparolen auf Sächsisch an Wirkung verlieren.
Das Sächsisch der Einwanderungsgesellschaften Dresden, Leipzig,
Chemnitz ist seit dem Mittelalter auf jeweils eigenem Grund
zusammengerührt worden, aus nieder-, mittel- und oberdeutschen
Anteilen, und über einen längeren Zeitraum eingekocht. Die Dresdner
haben zu ihrer Mundart noch das "Nu" dazu oder hinbekommen, vermutlich
als Ausgleich für entgangenes Eigenleben, als Trostkeks oder
Schnuffeltuch. "Nu" heißt Ja, auch: Ja, weiter bzw.: ich kann dir
folgen, habe verstanden, respektive: bin ja nicht blöd. "Nu" kann ein
deutliches Ja sein und ein Ja, das unter Umständen ein mehrdeutiges
Nein ist und eine Bestätigung - von Tatsachen, Meinungen, Werten - an
denen "Nu" eher wenig liegt: Red du nur. Der Dresdner hört das. Wird
dem "Nu" ein "Und" vorangestellt, hat man eine Frage, die deutlicher
Kommentar ist. Bauten wie Ereignisse mit Einschüchterungsabsicht setzt
ein "Und Nu?" wieder ins rechte Licht. "Nu" ist ein gutes Werkzeug, um
Distanzen festzustellen und festzuhalten. Jeder sollte eins haben.
Wie denkt ein Gemeinwesen, eine Gesellschaft? Das Wort Denken trifft
den Vorgang wahrscheinlich nicht. Aber Gemeinwesen nehmen Informationen
auf und verarbeiten sie kollektiv, entwickeln ein Gedächtnis und
Ansichten, Meinungen, Urteile, die gelegentlich zu Handlungen führen.
Nimmt man jedes Individuum als eine Nervenzelle und seine Kontakte als
Verbindungsstücken, dann hat man ein kleines Gehirn aus Gehirnen...
Dessen Intelligenz allerdings und einer verbreiteten Ansicht nach noch
unter der seiner minderen Teilintelligenzen liegt. Und dessen
Teilintelligenzen zwischen Eigeninteressen und den Interessen des
Gemeinwesen stets zu wägen haben.
Städte erinnern nicht nur in diesem Punkt an Schildkröten: sie sind
stur und nicht sehr intelligent, aber es reicht zum Überleben. Oder an
Ameisenhaufen: Beides sind sehr erfolgreiche Lebensformen. Wobei beide
Vergleiche hinken. Für eine Schildkröte ist Dresdens Hirnanteil zu groß
und für einen Ameisenhaufen zu ungleich verteilt. Hinzukommt, daß ein
Ameisenhaufen ein besseres Hirn ist, als die einzelne Ameise hat.
Eine eher abseitige Theorie will in Verwaltung und Stadtrat Hirn und
Nerven eines Gemeinwesens ausmachen; aber das ist zu unernst, um
wirklich in Betracht zu kommen, widerspricht überdies Augenschein und
Erfahrung und wäre auch irgendwie kränkend. Dazu paßt nun wieder, daß
die kollektive Intelligenz Dresden immer dann am besten funktioniert
hat, wenn Autoritäten und Hierarchien vorübergehend abhanden waren - am
Ende des Jahres 1989 und während des Hochwassers 2002. Leider glaubt
der Mehrheitsdresdner ebenso fest an Autoritäten und Hierarchien wie an
die Leitsätze der jeweils gültigen Ökonomieanschauung. Überhaupt glaubt
der Dresdner gerne.
Das war nie anders. Bis ins frühe 16. Jahrhundert war der Dresdner ein
Allerweltschrist, läßlich und fromm nach Gusto und Verlangen. Seine
Kirche war, wie er so dunkel wie sicher wußte, die rechte, richtige und
einzige. Wenn nicht, dann brachten ihm das Kirche und weltliche
Obrigkeit nachdrücklich nahe oder retteten seine Seele anderweitig.
In den Jahren nach 1539 war es mit der Übersichtlichkeit der
Glaubenslandschaft vorbei. Nicht für lange, wie es aussah, und doch für
immer, wie sich in einem langen und schmerzhaften Prozeß herausstellen
sollte. Der Dresdner hatte Protestant zu werden - wenn er es nicht
schon war - oder zu gehen. Viele wurden es aus Überzeugung und gern.
Andere schickten sich drein, notgedrungen oder leichten Herzens. Die
Sache hatte nur den Haken, daß zwar die Kirche jetzt noch immer die
rechte und richtige, die einzige jedoch nicht mehr war. Ihrem Anspruch
tat das freilich keinen Abbruch. Abweichende Andacht und Auslegung der
Schriften, sozialrevolutionärer Überschwang, gar fremde Religiosität zu
dulden, war auch die Kirche der Lutheraner nicht bereit.
Als Kurfürst Friedrich August I, genannt "der Starke", König von Polen
und damit Katholik wurde, war also mit dem Schlimmsten zu rechnen - mit
der Zwangsbekehrung der Untertanen respektive dem finalen Abgang des
Landesherren per Blitzschlag oder ersatzweise Gift, Dolch und Kugel. Es
war kein kleines Wunder, daß es anders kam. August erklärte seinen
Übertritt zur Privatsache und ließ die Sachsen im Glauben unbehelligt.
Fast: August holte Katholiken in die Stadt, hatte mit den
polnisch-litauischen Towarzysz Muslime in Diensten und siedelte wieder
einige Juden in Dresden an. Schon das war mehr, als die guten Dresdner
auszuhalten bereit waren. Rat, Bürgerschaft und Geistlichkeit murrten,
vorerst im Rahmen des gerade noch Schicklichen, und suchten den
widrigen Religionsverwandten das Leben so schwer wie möglich zu machen.
Im Mai 1726 flog diese angespannte Gemengelage aus instabiler
Glaubensgewißheit, Fremdenhaß und Zukunftsangst in die Luft. Eine
aufgebrachte Menge schmiß während zweier Tage den Katholiken die
Fenster ein und drang verwüstend in die Häuser. Wie fatal die Sache
anzusehen war, belegen die eingesetzten Gegenmittel: Militär besetzte
mit vier Regimentern die Stadt, auf den Märkten standen zwei Kompanien
Feldartillerie mit demonstrativ glimmenden Lunten hinter den geladenen
Kanonen bereit.
Daß August selbst wohl ein Freigeist war, dürfte ihm den
vorurteilsfreien und politisch gebotenen Umgang mit Glaubensdingen
erleichtert haben. Ihn zu Lebzeiten so zu nennen, wäre gleichwohl nicht
angegangen. Aber das Bildprogramm des Zwingers ist da sehr deutlich
(und erklärt nebenbei die Vernachlässigung dieser Festarchitektur durch
seine gut katholischen Nachfolger). August bot den Sachsen in gewissen
Grenzen religiöse Toleranz und sah sich am Ende gezwungen, sie zur
Toleranz zu zwingen. Das Beispiel gibt zu denken, zumal dieser
Zivilisationsprozeß ja weiter in Gang ist. In Gang: Sagen wir, weiter
unentschlossen Schritte macht, vor als auch zurück.
Heutzutage wissen rund 70 von 100 Sachsen nicht mehr so recht, wo Gott
wohnt bzw. ob er überhaupt ein Zuhause hat. Von Unglauben kann jedoch
nicht die Rede sein. Die freien Glaubenskräfte respektive
Erlösungshoffnungen hängten und hängen sich entsprechend an anderes: An
megalomanische Verkehrsprojekte beispielsweise, heilende Hände und den
gesunden Menschenverstand.
Die Geschichte des Dresden der kleinen Leute - vor, während und
zwischen den Weltkriegen - hat kaum Platz im Bewußtsein der Gegenwart.
Einige Autobiographien reißen das Thema an - Erich Kästner, Hans
Grundig - und gewiß das eine oder andere Stück verschollener
Belletristik. Die Generation, die das noch kannte, ist tot.
Hans H. beispielsweise und Hans L., Jahrgang 1890 und Jahrgang 1910,
wohnhaft bis aufs Jahr 1984 in einer Neustädter Mansarde über der
Königsstraße, Tür an Tür und auf Hilfe angewiesen.
H. war der ewige Polizist, auch wenn er genau genommen diesen Job nur
von 1920 bis 1949 versah, unter immerhin drei politischen Systemen -
der Republik von Weimar, Nazi-Deutschland und SBZ/DDR. Vor dem lagen
Armee- und Kriegsdienst bei der bespannten Artillerie und der Nachkrieg
bei der Reichswehr. Nach dem war H. Hauer bei der "Wismut AG" und
Informant der Staatssicherheit. H. stammte aus dem Erzgebirge, aus der
Gegend von Frankenberg. H. war ein kleiner Mann, sehr mißtrauisch,
bitter und giftig. Der ehedem reitende Polizist liebte Pferde, Waffen,
Behaglichkeit und Ordnung. Menschen sah er sozusagen als Kenner, als
Realist, wenn nicht gar als Spezialist. Seine Lebensgeschichte erzählte
er häppchenweise und aus einem schwer zu entwirrendem Bündel von
Gründen. Prahlerei gehörte dazu und der Wunsch, sich zu rechtfertigen.
H. hielt sich rechtens für findig und brauchbar und diese Eigenschaften
für einen Wertmesser. Möglicherweise hat seine Findigkeit Leute unters
Fallbeil geführt.
Am Ende, kurz vor seinem nicht leichten Tod, mischten sich Angst und
Haß recht eigen: H. hielt seinen Gesprächspartner für einen Kollegen,
sich selbst für den Gegenstand der Untersuchung. Jeder Mensch ist
kriminell, man muß nur lange genug suchen - dieser Spruch hätte von H.
sein können.
Hans L., der Jüngere, war ein gütiger Mensch. Haß brachte er nicht auf,
nur Abscheu. Er verabscheute seinen Nachbarn, was er etwas verworren
mit dem Auftritt der Polizei an einem 1.Mai Anfang der 30er Jahre
begründete. Aber das war’s nicht.
Geboren 1910 in Dresden, erlebte er als Kind Hunger, als Jugendlicher
Erwerbslosigkeit, als Erwachsener zehn Jahre Krieg und
Kriegsgefangenschaft. 1949 völlig entkräftet entlassen, wurde er in
Frankfurt/Oder mit Hefe und dergleichen Stärkungsmitteln aufgefüttert
und von dort nach Hause geschickt. Als er aus dem Bahnhof trat und zum
ersten Mal die Trümmer sah, brach er zusammen. Immerhin, seine Eltern
lebten, noch immer in der selben Wohnung in Dresden-Neustadt. In den
50er Jahren heiratete er, aber die Frau starb bald. Trotz allem war L.
kein verbitterter Mann. Wenn die Rede auf seine Frau kam, schwammen ihm
die Augen; sonst schauten sie blau, gütig, naiv, spitzbübisch und
selbst, nach der zweiten Flasche Coschützer Pils, etwas verwegen aus
seinem Gesicht eines gealterten sorbischen Dorfbuben. Er erzählte gut,
mit Witz und dem genauen Blick für die wichtigen Dinge, über Brot,
Zigaretten, Wochenlöhne, Ungerechtigkeit, Tod; von der Wahrheit, die in
keiner Zeitung steht. Er hat tapfer gelebt, anständig und hilflos in
seinem Jahrhundert, in seiner heillosen Zeit.
Erna H. wohnte im Neubau, an der Straße der Einheit, die jetzt wieder
Albertstraße heißt. Die 90jährige stand am Fenster und wies mit
zittriger Hand in die Richtung der Elbe, die man nicht sah. "Die
Ti-iere" sagte sie in zittrig singendem Ton: "Die Ti-ie-re...". Die
Tiere wären vom Zirkus Sarrasani übrig geblieben und hätten am Morgen
nach dem großen Bombenangriff am Elbufer im Rauch gestanden, angebunden
an einigen übrig gebliebenen Bäumen und bewacht von einigen übrig
gebliebenen Wärtern. Später wären sie über die Brücke gegangen,
geleitet von ihren Wärtern, wer weiß wohin.
Erna H. hat diese Geschichte unbedingt noch erzählen wollen, wenige
Tage nach ihrem Schlaganfall und eine Woche vor ihrem Tod. Vielleicht,
damit sie in der Welt bleibt, die Pferde, Esel, Kamele, Löwen,
Elefanten und Bären weiterziehen können, begleitet von ihren Wärtern in
rußgeschwärzter Zirkusuniform, entrückt über die Brücken der brennenden
Stadt Dresden - jedes Jahr einen Februar lang, einen winzigen
Augenblick.
Auch Hans H. hatte die Pferde gesehen - nur die Pferde - , noch in der
Nacht, in Panik übers Pflaster preschen, mit donnernden Hufen,
funkensprühend, in vollem Galopp zur Elbe, mit brennenden Mähnen im
Schaumflockengestöber, mit weißen, verdrehten Augen. Im Keller des
Jägerhofs hätten wenig später die Artisten gesessen und gezittert.
"Seitdem weiß ich", so H., "auch Artisten sind feige".
Die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 setzte für Dresden eine
eigene Zeitrechnung ein: Vor der Zerstörung und nach der Zerstörung.
Seither existiert die Stadt in einem so imaginären wie realem Vorher
und einem realexistierenden Nachher, steht hinter dem immer
problematischen Jetzt das verklärte Einst: Das alte Dresden. Und über
allem, hartnäckig und paradox, die Hoffnung, es wäre noch einmal zu
betreten - das Dresden der Bücher, der Postkarten in Schwarz-Weiß.
Einen ähnlich konzentrierten Epochenbruch hatte Dresden vordem schon
einmal erlebt, 1760, als das Augusteische Zeitalter mit einer
Katastrophe zu Ende ging. Die von preußischen Truppen belagerte Festung
war drei Tage aus Kanonen und Mörsern beschossen worden und als die
Preußen den Österreichern wichen, lag ein Drittel der Stadt in Asche,
fehlten für immer „416 gänzlich abgebranndte und 90 ruinierte Häuser“
und 51 Menschen: „Ohne was noch bis dato unter denen Schutt= und
Steinhaufen unbegraben lieget.“ Unbegraben lagen auch die Soldaten, bis
man sie mit den Pferdekadavern einscharrte. Gezählt hat sie niemand.
Die Stadt wurde wieder zusammengeflickt, die fehlenden Häuser über
einen längeren Zeitraum wieder errichtet - einfacher zumeist. Weit
weniger prächtig lebte die Stadt ihr Leben einer Residenz nunmehr
zweiter Ordnung, mit deutlich weniger Einwohnern und knapp bei Kasse.
Der verbliebene Glanz bröckelte. Was der Stadt noch 50 Jahre erhalten
blieb, war das Gefühl latenter Bedrohung. Dresdens Festungswerke würden
gegebenenfalls den Krieg wieder auf die Stadt ziehen, sie aber noch
weniger als vordem schützen können. Das Trauma der Zerstörung hielt
sich noch über die Napoleonischen Kriege hinaus. Es verlor sich erst
mit der Stadt, die es erlitten hatte, als im späten 19. Jahrhundert die
Großstadt Dresden mit ihren Stadtteilen die alten Schlachtfelder und
Massengräber überwuchs. Alte Städte stehen auf Knochen, auf ungezählten
Toden. Man sollte das wissen.
Wann der 13. Februar 1945 nur noch ein wichtiges Datum der
Stadtgeschichte sein wird und nicht mehr Zeitenscheide, ist schwer zu
sagen. Gut möglich, es wird mit dem Bebauen der letzten
Innenstadtbrachen geschehen sein. Möglich auch, es dauert, bis die
letzte der zwischen 1933 und 1945 abgebrochenen Biographien vergessen
ist. Bis die Toten wirklich tot sind, die Trauer verstummt mit den
Zeugen und in ihren Kindern.
Nachdem die Leichen verbrannt worden waren und die Trümmer geräumt, war
Dresden eine Stadt ohne Mitte, eine Stadt der Außenbezirken, eine Stadt
um ein Leere herum. Alles, was nach den Menschen Dresdens historische
wie ideelle Substanz ausgemacht hatte, war weg. Die Frauenkirche, die
Palais und die gesamte Wohnbebauung der Altstadt und der angrenzenden
Vorstädte gab es nicht mehr. Durch die ausgeglühten Mauern von Schloß,
Hofkirche, Kreuzkirche, Sophienkirche, Rathaus, Oper, Galerie,
Kunstakademie und Schauspielhaus pfiff der Wind. Die Kunstschätze waren
in alle Winde verstreut oder vernichtet. Geblieben war eine große
Wiese, auf der verstreut die verbliebenen Ruinen standen und einige
Denkmäler. Kanaldeckel, Verteilerkästen und Straßenpflaster deuteten in
dieser riesigen Schafweide die verschwundene Stadt an, scharf im Detail
für die Überlebenden und als Ganzes kaum mehr zu glauben für den
Fremden. Diese Leere materiell und spirituell wieder zu füllen, war
eine so gigantische wie heikle Aufgabe und ist es bis heute geblieben.
So wie nach 1760 der Zwinger still verfiel, begann noch 1945 der
Wiederaufbau mit dem Zwinger. Wie immer das sonst begründet wurde, war
das vor allem eine Therapie für die todkranke Seele dieser Stadt. In
der sowjetischen Militäradministration müssen kluge Leute gesessen
haben. Selbstverständlich ist auch der Wiederaufbau der Frauenkirche
Therapie, wie gut die Gründe auch sonst noch sein mögen, diesen
grandiosen Bau wieder hinzustellen. Aller anderer Nutzen des Baus ist
da zweitrangig. Die Frauenkirche war das Loch in der Grube, die tiefste
Wunde.
Die Elbe ist Dresdens Grund. Buchstäblich: die historische Stadt und
ein Teil der Vorstädte stehen im Flußbett. Denn vor allem anderen war
der Fluß und seine Ufer: Hänge und Sediment, die rollenden Steine am
Grund, Schwemmland und Schlamm, Röhricht, Gras und Bäume, Getier. Dann
kamen Menschen, die Jagd, die Arbeit, Handel und Krieg. Der Fluß wurde
Hindernis und Verkehrsweg, trennte und verband, schützte und drohte,
zerstörte, ernährte, ließ wohnen. Flußübergänge wurden gesucht und
benutzt, später - vor rund 850 Jahren - eine Brücke gebaut. Sie steht
heute noch da, in anderer Gestalt an gleicher Stelle. Mit der Brücke
faßte die Landesherrschaft Posten und die Kirche. Das Land drumherum
hieß Nisani, vom Fluß wußte man einen sehr alten Namen: Albina, Elbe.
Wer ihn einst benannt hatte, ist unbekannt. In den Dörfern rechts und
links der Elbe sprach man sorbisch. Pieschen, Loschwitz, Prießnitz sind
sorbische Namen und Dresden ist wohl auch einer.
Kann es sein, daß Städte ohne Fluß gar keine richtigen Städte sind? Die
Elbe legt diesen Schluß nahe, aber es ist eher das Gegenteil richtig.
Stadt ist das gänzlich Menschengemachte. Der Fluß und seine Ufer, die
Wiesen und Hänge sind überformte Landschaft, sie halten die Landschaft
in der Stadt und ziehen sie immer wieder hinein; Dresden ist
Stadtlandschaft. Mit dem Fluß bleibt ein Stück Natur notgedrungen bei
sich, das sich nicht ungestraft und schon gar nicht auf Dauer deckeln
läßt. Jeder anmaßende Zugriff rächt sich.
Die Elbe prägt Dresden noch immer. Dresden ist nicht Stadt, sondern
eine Städteansammlung, geteilt und in die Länge gezogen,
zusammengehalten, reguliert und geführt vom dunkel fließenden Wasser.
Die Elbe ist immer noch Dresdens Mitte, ein nicht zu betretendes
Zentrum, das sich queren läßt. Queren die Dresdner die Elbe, dann sehen
sie unwillkürlich nach rechts und nach links, den Fluß rauf und runter:
Wie geht’s uns? Respekt!
Das Dresden links der Elbe wurde Ende des 12. Jahrhunderts planmäßig
angelegt, als reguläre deutsche Pflanzstadt am Flußübergang. Am anderen
Brückenende wuchs sich ein Dorf zum Flecken aus, der Anfang des 15.
Jahrhunderts ein eigenes Stadtrecht bekam. Die beiden Dresden vertrugen
sich nicht, vermutlich von Anfang an. Nach rund 150 Jahren des
Nebeneinanders unterstellte der Landesherr das kümmerliche Städtchen
und seine widerspenstigen Ackerbürger dem linkselbischen Rat. Verwunden
haben das die rechtselbischen Dresdnern wohl nie.
An den Namen beider Dresden hat sich diese Geschichte lange lesen
lassen. Neuen-Dresden hieß die linkselbische Residenz und Alten Dresden
der kleine Ort rechts der Elbe. Die heute üblichen Benennungen kamen ab
1732 in Gebrauch - per Dekret: "auff Ihro Königl. Majästet in Pohlen
und Churfürstl. Durchlauchtigkeit zu Sachsen x. allergnädigsten Befehl
(ist) die über 900. Jahr lang unter dem Nahmen Alt-Dreßden bekannte
Stadt in Zukunft Neustadt an der Elbe zu benennen, und dieserwegen die
behörige Verfügung aller Orten zu ertheilen..."
(Sächsisches-Curiositäten Cabinet III., 1732). Bis ins 19. Jahrhundert
blieb Neustadt bei Dresden gebräuchlich, dann fiel der abgrenzende
Zusatz fort. Ein Fall für sich ist die Neustadt geblieben und die
Neustädter sind es auch. Behaust im Schatten der größeren und reicheren
Residenz, haben sie ihr Selbst- und Sonderbewußtsein auch daher
bezogen, aus Beharren und Trotzdem gemacht.
Ähnlich verhält es sich mit den ehedem selbständigen Stadtteilen, den
überbauten Fluren der Dörfer zwischen Pillnitz und Übigau. Blasewitz
und Loschwitz beispielsweise gehören seit einigen 80 Jahren zur Stadt,
ohne je ganz in Dresden aufgegangen zu sein. Eingeborene Loschwitzer
nennen die Stadtmitte links der Elbe noch immer "die Stadt". Der
Dresdner Konservatismus hat viele Seiten, diese ist eine der
angenehmen.
Große Städte haben eine ungefähre Mitte und mit diesem Zentrum öfter
ihr Ungenügen. Meist hält sich diese Mitte im kaum erweiterten alten
Stadtgebiet auf - in Grenzen noch vom Mittelalter her - als eine
Zeitkonserve und Geisterreservoir, als das Ergebnis mehr oder minder
glücklicher Bauprozesse über Jahrhunderte. Oder sie ist die Frage, die
der letzte Krieg an dieser Stelle hinterlassen und der Wiederaufbau -
in Ost wie West - mehr oder minder unglücklich beantwortet hat. So auch
in Dresden. Stadtmitten sind öfter vorläufige Bescheide, zugestellt mit
Großblöcken und Hochbauten und mit Verkehrschneisen weiter
offengehalten. Stadtentwicklungsdezernenten sollten keinen Dienstwagen
haben und Architekten ihre Gedanken im Laufen verfertigen. Aber das nur
nebenbei.
Auch was in Segmenten drumherum steht, ist weniger gewachsen als in
wenigen Jahrzehnten zusammengebaut und notdürftig angestückt worden.
Ungeheure Mengen Sandsteinquader und Ziegel wurden herangekarrt und
rings um die alte Stadt eilig aufgemauert, mit hergeflößten Wäldern
belegt und mit Schiefergebirgen abgedeckt. Die Baumasse quoll wie der
süße Brei im Märchen, war aber ersichtlich problematisches
Menschenwerk. Sie folgte den Ausfallstraßen und eventuell vorhandenen
Wegen und füllte die Flächen dazwischen - Felder, Wald, Gärten, ältere
Siedlungen und Müllkippen - mehr oder minder dicht aus.
Mehr oder minder dicht: Am Anfang des 20. Jahrhunderts fand dieser
Bauboom ein plötzliches Ende, fiel der Hammer fast über Nacht.
Gelegentlich liegt er heute noch da. Das Unfertige, Zerrissene,
Provisorische der Dresdner Vorstädte resultiert nicht so sehr aus
Vernachlässigung und auch nur zum Teil aus dem Verschwinden der
Industrien, sondern liegt schon in ihrer Entstehungszeit begründet.
Fast alle äußeren Stadtteile Dresdens sind im späten 19. Jahrhundert in
harter Knochenarbeit entstanden, in aller Regel ohne Plan. Die
partikularen Egoismen, Verwertungs- und Spekulationsinteressen zu
steuern, standen oder fielen das Baurecht, die Interessen der
Landesbehörden, des Stadtrats. Dresden hatte in jener Zeit einen
leidlich aufgeklärte Verwaltung und wohl das Glück des Interessenpatts
- aber die Nähte zwischen den Stadtteilen sind trotzdem auch hier gut
zu sehen. Weniger gut zu sehen, aber immer noch zu spüren ist der
jeweilige historische Grund, auf dem die Gründerzeitviertel zu stehen
kamen. Man spürt's beim Gehen: Da ist was Eigenes und da eine Grenze.
Man spürt's am Licht, am Grün, am Bodenrelief, am Straßenraster und man
sieht’s an den Grundrissen, an den Fassaden und ihren Materialien.
Dresdens Farben sind aus Stein und Licht gemischt, aus Baumlaub und
Mode, Elbwasser, Staub und Gewöhnung, aus Ignoranz, Aggressivität und
industriellem Geschrei. Der quasi natürliche Grundton aber, der als
Grundierung in allem zu liegen scheint und die Stadt und ihre
Erinnerungen färbt, ist ein schwingendes Graugelb, die Farbe
verhaltener Melancholie.
Die kommt aus den Brüchen stromauf. Sandstein kann fast weiß sein oder
auch nah am Rot liegen, zeigt aber meist eine Spielart des Gelben: den
fahlen Schein toter Gräser im Januar, die Farbe gelösten Lehms nach
einem Gewitterregen, das Braun trockener Blätter im Spätherbst. Ein
Teil dieser Farben ist nichts weiter als feinverteilter Rost, den
anderen geben Wetter und Jahreszeiten und der Blick des Betrachters
hinzu. Ist es Herbst oder Winter in Dresden und regnet es öfter, ist
der Himmel bezogen, als sollte er geschont werden für später, ist der
Sandstein schwarz und grau, ruppig wie das schmutzige Fell eines
erfrorenen Hundes. Es ist das Alter im Verein mit dem Schmutz, das den
Sandstein Grau bis Schwarz werden läßt. Bescheint ihn die Sonne,
strahlt er warm zurück und ändert seine Farben ins Helle. Nicht
wirklich, aber es scheint so. Im Sommer, wenn das Grün unter Staub
liegt und alles andere auch, hat die Stadt unter den blaßblauen Himmeln
die Farbe vertrockneten Rosinenbrots.
Staubig ist meist auch der Himmel. Dresden liegt unten, der Wind weht
oben, übers Tal weg. Steht der Wind einmal richtig und bläst Staub,
Dunst, Abgase aus dem Tal, dann funkelt der Himmel und die Stadt glänzt
und gleißt. Dann wirkt die Stadt, als wäre sie bei sich selbst zu
Besuch und sieht aus, wie sie – vielleicht – gemeint war.
Wie Dresden riecht, ist schwer zu sagen. Der Kraftverkehr verdeckt mit
seinen Abgasen jeden anderen Geruch jenseits exzessiver
Parfumkonzentrationen. Die Stadt, wenn man sie so anschaut, läßt
eigentlich den Geruch nach warmer Milch vermuten, nach gebratener Leber
mit Zwiebelringen, den Geruch einer umgekippten Seltersflasche - Margon
- den Dunst einer vollen Windel, gemixt mit einigen Spritzern
Spülmittel und einer Prise Baumarktkehricht, verwehtes Terpentin,
überwölbt vom zarten Arom eines gut gebutterten Napfkuchens... In der
Mitte riecht Dresden nach Elbe, aber auch das ist wieder eine Sache für
sich. Zu diesem organischen Grunddunst kommen nämlich die Zutaten der
Jahreszeiten hinzu und die Wechselwirkung des Wasserstandes mit rund
100 Jahren Industrie- und 900 Jahre Stadtgeschichte. Ob die Elbe
stinkt, ist entsprechend seit dem Durchzug der Langobarden umstritten.
Die rezente Politik bestreitet's, die Wirtschaft wirft's der Politik
vor - nächst dem Wetter und der Lohnfortzahlung im Arbeitsfalle etc. -
und der eingeborene Gemeinbürger nickt's gemessen ab: O Du mein
Heimatland, wie riechst du heimatlich. Gerüche wecken Erinnerungen und
sind vermutlich gut fürs Gemeinwesen.
Dresden gilt als Kunststadt und hat ein Problem damit. Der Titel ziert
und wird geführt, der Titel verpflichtet und ist lastender Anspruch.
Gott ja, die Künste schmücken und kosten, und das Kontorbuch, sie recht
zu verbuchen, scheint unauffindbar verlegt. Google immerhin bestätigt,
wenn nicht den Status, so zumindest die Wahrnehmung. Zur Anfrage
"Kunststadt Dresden" fanden sich am 13. Januar 2004 exakt 918 Einträge.
Auch wenn es dabei kaum um Kunst ging, ist das eine ganze Menge und ein
Fingerzeig. So gewohnheitsmäßig verwandt, scheint die Floskel eine
Selbstverständlichkeit, alt zwar, aber nicht verjährt und immer noch
werbeträchtig. Wer städtische und staatliche Unterstützung aktueller
Kunst- und Kulturarbeit einzufordern hat, benutzt den Begriff ebenfalls
und auch die Stadt wirbt mit diesem Anspruch, was angesichts eines
langjährigen Kulturkürzungskurses nicht ohne Witz ist. Widersprüche
treiben Entwicklungen voran. Wohin? In die Kenntlichkeit, auf die
Spitze und ins Lächerliche.
Dresden und die Künste, das Verhältnis war immer problematisch; man
mache sich da nichts vor. Solange es einen Hof gab, war die Kunstpflege
vor allem dessen Sache. Kostspielige Sammlungen zusammenzubringen,
prächtige Bauten errichten zu lassen und ein gefeiertes Theater zu
haben, gehörte zum Beruf des Monarchen; der künstlerische Ruhm eines
Landes und seiner Residenzen wurde wirtschaftlicher Kraft und
politischer Stärke gleichgeachtet, ja, bildeten mit letzteren
selbstverständlich eine Einheit. Neigung, gar Begeisterung waren dabei
nicht einmal nötig, aber sie erleichterten die Sache natürlich sehr,
desgleichen Sachverstand, egal woher der kam... Weltweit übrigens. Im
alten China gehörte das Sammeln von Kunst zu den Tugenden des guten
Herrschers, das Gedeihen der Palastsammlungen bestätigte das "Mandat
des Himmels", wie Verlust und Verstreuung der Schätze zuverlässig auf
den Niedergang wiesen. Dieses demonstrative Mühen um die Kunst, um
Tradition wie Innovation scheint angesichts heutigen Umgangs
eigenartig, auf den Kern gebracht sollte es aber einleuchten: Sind
Kultur und Kunst in schlechten Händen, sind es Land und Gemeinwesen
auch.
August, genannt der Starke, hatte einen hohen Begriff von dieser
Aufgabe eines guten Fürsten und außerdem das Zeug dazu. Er zog Künstler
nach Dresden und nahm sie in den Dienst, kaufte bedeutende und weniger
bedeutende Werke, begründete die Antikensammlung, ließ bauen.
Letztendlich war er es, der Dresden den Ruf der Kunststadt eingebracht
hat. Schon seine Nachfolger konnten dieses Niveau nicht halten, was
nicht allein an ihnen lag. Immerhin, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und
ihres Horizonts taten sie ihre Pflicht und förderten die Künste
ihrerseits.
Die Bürger der Stadt waren an alldem wenig beteiligt und bestenfalls
ein mehr oder weniger erfreutes Publikum. Daran änderte sich auch kaum
etwas, als das Bürgertum zu Einfluß und Stimme gelangte. Von den
wenigen Mäzenen abgesehen, waren Künstler den Bürgern eine höchst
suspekte Lebensform und anders als der Verschleiß kleiner Kinder in
Fabriken, waren ihnen die Künste als Mittel des Broterwerbs ein Greuel.
(Auch als Mittel der Weltdeutung. Christliche und nationalistische
Ideologen ernährte das deutsche Bürgertum allerdings ganz gern mit,
auch wenn sie sich der Kunstform bedienten, mit Kunstähnlichem auf dem
Markt standen.) Entsprechend kam auch August in der
Geschichtsschreibung des 19.Jahrhunderts ziemlich schlecht weg. Seine
Liebe zur Kunst war nicht das wenigste, was man ihm vorwarf, wenn man
ihn einen Verschwender und schlechten Regenten schimpfte, aber
natürlich kamen auch seine sonstigen Vorzüge auf der Minusseite zu
stehen: Seine Toleranz in Glaubenssachen, sein ausgeprägter Spieltrieb,
die Vielseitigkeit seiner Interessen (und Kenntnisse, wie man vermuten
muß), sein nicht zu stillender Appetit, seine Amouren. August hat viel
geliebt und war nichts weniger als ein gekrönter Simpel. Beides paßte
wenig zur "Entstehung des Kapitalismus aus dem Geist des
Protestantismus" (frei nach Max Weber). Kunst ist Luxus, und diese Art
Luxus als Produktivkraft zu begreifen, ist wieder zu lernen.
Kunst gibt es nach heutigem Wissenstand seit ungefähr 32 000 Jahren.
Einen Anfang dürfte das Feuer gemacht haben; erst seine Wärme, die
verweilen ließ, dann dessen leidlich verwaltbares Licht. Mit dem
flackernden Licht bewegten sich die Schattenbilder an der Höhlenwand
und bezeugten, das da mehr ist als das Sichtbare. Ein anderer Anfang
lag im Werkzeug, in der Erfahrung, daß menschliches Tun die Welt
verändert - im guten wie im bösen, hinzufügt und wegnimmt. Beide
machten den Menschen fähig, über sich und die Welt nachzudenken,
verwiesen das Denken auf sich selbst. Ein Drittes war die Zeit, die der
mittlerweile besser gerüstete und vor allem sozial handelnde Jäger
endlich jenseits der Nahrungsbeschaffung übrig hatte, und dieses Denken
fruchtbar werden ließ. Das legt den Schluß nahe, daß die Kunst mit der
Entwicklung des Hirns, mit der Fähigkeit des Menschen zur
Selbsterfahrung, Selbstbewußtwerdung und Selbsterfindung aufs Engste
verbunden war und ist. Denn als der Mensch zu malen und zu formen
begann, hat er das verblüffenderweise sofort gekonnt: Die ersten
Höhlenbilder sind schlicht perfekt. Die moderne Hirnforschung bestätigt
diese Annahme. Der spielerische Umgang mit Tönen, Farben und Bildern
bringt die Neuronen aneinander und ins Netz, die zeitige Beschäftigung
mit Kunst und Musik fördert die Intelligenz. Man kann gar nicht früh
genug damit anfangen. Kunst ist Luxus und so notwendig wie das liebe
Brot.
Schon die ersten Künstler setzten aus eigener - innerer - Sicht
Weltpartikel zu interpretierbaren Welten zusammen und ließen diese
wiederum in die Welt wirken. Letztendlich macht das Gehirn eines
Menschen mit den eingegangenen Informationen ja eben das: Es führt
Getrenntes zusammen, integriert und kombiniert Wissensbereiche und
Denkweisen. Mit dem „ersten“ Symbol - ein Handabdruck an der Höhlenwand
- und der „ersten“ Metapher - einem Mischwesen aus Tier und Mensch
beispielsweise - war das Niegesehene, das Bild, die Kunst in der Welt.
Nach Paul Klee reproduziert die Kunst nicht, was sichtbar ist - "sie
macht sichtbar." Was da sichtbar wird, ist freilich öfter mehr und
anderes, als in der Intention des Künstler gelegen hat. Das Werk ist
klüger als der Autor, zumal wenn der gut ist. Kunst ist ein Prozeß, an
dem die Sinne, die Hände, der Körper und selbst noch das Material
beteiligt sind. Anders als die heute übliche Erwerbsarbeit zerlegt
künstlerische Arbeit den Menschen nicht in seine Funktionen, sondern
braucht ihn im Ganzen: alle seine Fähigkeiten, sein Wissen, sein
Denken, seine Erinnerungen, sein Begehren. Selbst seine Seele, wenn er
eine haben sollte. Kunst gibt es nur, wenn die Kunst reichlich bekommt.
In der Arbeit des Künstlers denken die Sinne, die Hände, der Körper.
Kunst ist unentfremdete Arbeit, nah am Spiel und nah an dem, was in uns
klagt und jauchzt. Ihre Antworten sind vorläufig und altern nur
langsam. So wirkt Kunst auf den Betrachter unmittelbar: Es ist seine
Sache, die da verhandelt wird.
Kunst ist Praxis, eine Praxis, die Theorie(n) nach sich zieht wie die
Unachtsamkeit des Spaziergängers die Hundescheiße an den Hacken. Die
diversen Theorien und Ismen geben bestenfalls ein Leitseil oder dienen
als Strick, sich dran zu hängen. Kunst bewegt sich nicht auf dem Gebiet
des Vorgewußten, der Anwendung bestimmter ästhetischer Gesetze und
Theorien. Sie bewegt sich in unbekanntem Gelände, auf dem Gebiet der
Entdeckungen, und, wie der griechische Dichter Jannis Ritsos einmal
formuliert hat: „laßt mich das große Wort aussprechen - auf dem Gebiet
der Offenbarung“. Künstler sind notwendig Autodidakten. An den
Akademien werden sie jedenfalls nicht gemacht.
Kunst verändert im Austausch die Wahrnehmung und das Bewußtsein. Kunst
vermittelt Erfahrungen, die anders nicht zu haben sind. Kunst ist eine
Erfahrung, die der Künstler macht und der Betrachter. Kunst ist Magie
und Magie hat ihren Zweck und Auftrag, Gründe wie Folgen. Sich mit dem
Teufel oder dem menschlichen Geist ins Benehmen zu setzen, mit der
äußeren und inneren Welt, mit Natur und Übernatur, ist die Kunst der
rechte Ort.
Einen überflüssig aufgeblasenen Betrieb am Laufen zu halten, ist die
Kunst jedenfalls nicht da, und auch nicht um einen Markt zu bedienen,
sondern einzig um ihr Schönes in die Welt zu stellen und gegen sie, das
Niegesehene, das Wunderbare - . „Das Wunderbare ist immer schön, so
unwirklich es auch sei, es ist schön, denn es ist sogar nur das
Wunderbare schön.“, formulierte André Breton diesen Anspruch. Kunst,
auch das wird wieder zu lernen sein, ist Opposition im Sinne von
Gegenwelt, schon wenn’s um Belang geht: zwangsläufig. Mit den
politischen Ansichten der Künstler hat das wenig zu tun, und noch
weniger mit der unlauteren Forderung nach dem politisch oder sonstwie
außerhalb der Künste Engagierten. „Die guten Dichter“, sagt William
Blake, „sind auf der Seite des Teufels“. Für die Kunst gilt eben das.
Wo der Teufel seinen Ort hat, ist bekannt - in den Widersprüchen - und
auch was der dort treibt: Fug nämlich.
Im Begriff Kunststadt steckt eine Utopie. Man stelle sich eine Stadt
vor, deren Einwohner selbstverständlich mit den Künsten lebten, oder
wenigstens etliches an Lebenszeit aufbrächten, ihre Kunstinteressen zu
befriedigen, aktiv und passiv. Eine Stadt, in der die Künste nicht
beiläufiger Schmuck und Sonntagszitat, sondern Rausch- und
Erkenntnismittel wären, Abenteuer und ein selbstverständlicher Teil des
Lebens wie des Glücks. Eine Stadt ohne Identitätsdruck und frei von
Darstellungsproblemen, tolerant, aber nicht im mindesten gleichgültig;
mit sich und der Welt im Gespräch über Sprache und Technik, Harmonie
und Widersprüche, Bilder und Klänge. Die ständig an ihrer
gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, künstlerischen
Alphabetisierung arbeitet, Konflikte aushält und Ungerechtigkeit nicht
erträgt - nirgendwo. Kurzum: eine gebildete Stadt. Das klingt doch
eigentlich sehr vernünftig.
Ist Dresden nun Kunststadt? Unter anderem, ja. Besser: neben den
anderen. In der Stadt steckt ein kleines, vielfach fragmentiertes
Gemeinwesen, das man wohl Kunststadt nennen kann. Wie alle Utopien ist
auch diese nicht ohne Schrecken...
Dresden zu fotografieren ist oft versucht worden. Aber Dresden läßt
sich so wenig fotografieren wie irgend ein Mensch. Keine Fotografie
faßt die Stadt. Und auch alle Fotografien, die je in ihr gemacht worden
sind, fassen sie nicht. Entsprechend ist das Dresden der Fotografien
immer eine Reduktion und ein ungeheures, nicht zu beendendes Puzzle.
Kluge Fotografen wissen das und fotografieren in Dresden Dresden: die
Stadt in der Mehrzahl.
Zu sehen bekommt der Betrachter freilich fast immer eine bestimmte
Auswahl und einen bestimmten Ausschnitt - das Dresden der Vorstellung,
in aller Regel also das Dresden der Sehenswürdigkeiten, das
wiedererkennbare Dresden der Postkarten. Aber auch das ist ein weites
Feld.
Irgendwann vor 1909 fotografierte beispielsweise ein unbekannter
Fotograf im Auftrage des Verlages J. Karlebach, Dresden A9, die
berühmte Stadtsilhouette Dresdens vom linken Elbufer aus. Sein Standort
dürfte das Dach eines Gebäudes am heutigen Käthe-Kollwitz-Ufer gewesen
sein, vielleicht die 1945 zerstörte Kaserne am Sachsenplatz, was auch
den Titel der Aufnahme allenfalls rechtfertigen würde: Blick vom
Sachsenplatz. Die Aufnahme zeigt im Hintergrund die im Dunst
verschwimmenden Lößnitzhänge und vor ihnen die Abfolge der
Altstadtbauten von der Semperoper bis zur Frauenkirche. Rechts davon
schließt das Bild mit einem der Neustädter Ministerien, mit der
heutigen Staatskanzlei. Dieser Teil entspricht in etwa wieder
derzeitiger Ansicht. Im Mittelgrund hat die Elbe ihren Bogen im Gehege
dreier Brücken, deren mittlere 1945 gesprengt und später
überdimensioniert aus Beton neu errichtet wurde. Den Vordergrund
schneidet links ein Stück Straße und eine Doppelreihe kleiner Bäume.
Dahinter beginnt ein tiefer liegendes Gelände, das bis zur Elbe reicht.
Dieses Gelände war nicht das, was der unbekannte Fotograf unbedingt auf
dem Bild haben wollte: Es war nur nicht anders zu machen. Heute sind es
dieser Platz und die ins Bild geratenen Stücken vergangenen Lebens, die
vor allem interessieren: Die ordentlich geschichteten Kohlehaufen und
Steinstapel, die Fachwerkbaracke, die allenthalben herumstehenden
Fuhrwerke, die zwei dösenden Pferde und der eine einsame Arbeiter, der
gerade über den Platz geht. Ein Dampfer verschwindet eben rechterhand
stromauf - man sieht nur noch das Heck - ein zweiter entfernt sich
stromab und ein dritter liegt vor dem Belvedere und läßt den
Schornstein rauchen. Auf der Albertbrücke fahren eine offene Kutsche
und eine kleine elektrische Straßenbahn. Sechs Fußgänger haben es
eilig, auf die Neustädter Seite zu kommen, einer läuft gemessen in die
Gegenrichtung, einer bummelt und einer schaut in den Fluß. Den Schatten
nach geurteilt ist es Mittag, die Wolken lassen für den Abend ein
Gewitter erwarten. Für welchen Abend? Seit fast hundert Jahren verharrt
im Bild das Jetzt. Der Arbeiter ist weitergegangen, vielleicht zu den
wartenden Pferden. Ob er seine Frau schlug oder mehr liebte als seine
Rösser, ob er im kommenden Krieg gefallen und seine Kinder im nächsten,
ob er 1932 zu den 33% Dresdner NSDAP-Wählern gehört oder zu deren
Gegnern, was er dachte, fühlte, hoffte - wir wissen es nicht. Sicher
ist nur das Pflaster, das er trat. Es liegt heut noch an Ort und
Stelle.
Fotos scheinen interessenlos unschuldig und damit besser geeignet als
jedes andere Verfahren, sich und anderen ein reales Bild zu machen.
Aber das stimmt nicht. Man sieht, was man kennt und nur selten mehr als
das. Das gilt für den Betrachter und ebenso für den Fotografen, der ja
meist mit seiner ganzen Persönlichkeit hinter der Kamera steht, mit
seinen Vorstellungen und Annahmen, der Absichten hat oder einen Auftrag
und Wünsche hegt. Das gilt auch für den, der sich selbst zur
größtmöglichen Neutralität verpflichtet und die abzubildende Realität
nur zu spiegeln beabsichtigt. Über seinen Schatten springt niemand,
also auch nicht der Fotograf: Er dreht sich im Licht.
Schon das Interesse des Fotografen wertet die Dinge auf, macht sie
interessant und temporär respektabel für andere. Man könnte den
Fotografen demnach einen Agenten des Interesses nennen oder auch einen
Agent provokateur. Wird ein Mensch ins Reich des bleibenden Papiers
aufgenommen, wird's noch problematischer. Der Mensch auf dem Foto ist
schön - Fotos machen schön - oder wenigstens interessant, bedeutend
(usw.) und, ist nur genug Zeit vergangen, auch fremd, lächerlich, ja
unwirklich. Die Person, den Ort, das Ding? Oder nur das Abbild? Die
Zeit des Fotografen und die des Betrachters verstärkt diesen Effekt
oder schwächt ihn ab, wertet um oder entwertet, verschiebt den Blick.
Fotografien von Dingen, Bauten, Städten bleiben wohl grundsätzlich
interessant, auch wenn das Interesse mit der Zeit zu wandern beginnt.
Die Visitporträts der Urgroßeltern kamen schon den Enkeln reichlich
seltsam vor.
Fotos liefern Informationen, Bildmaterial, das sich benutzen läßt, u.
a. zur erkennungsdienstlichen Behandlung der Wirklichkeit, als
Beweisstück, zum Beleg eines Geschehens, das nicht unbedingt ein
Verbrechen, zur Dokumentation eines Lebens, das nicht unbedingt ein
Leben gewesen sein muß und schon gar nicht dieses. Sie beglaubigen als
Realitätsfragment einen Ausschnitt und eine Annahme von Realität.
Fotografieren heißt zugreifen, sich das Objekt zu eigen machen,
aneignen. Diese Aneignung ist freilich heikel; was Fotograf und
Betrachter davontragen, ist das Abbild vergangenen Geschehens,
vergangener Zustände, eigentlich: vergangenen Aussehens, bestimmt vom
Können des Fotografen, von der gewählten Seite, vom Ausschnitt und vom
Licht. Das Foto ist ein extrem schmaler Ausschnitt von Raum und von
Zeit: ein abgebildeter Moment. Was vordem war, ist im Foto wohl
enthalten, aber selten sichtbar. Was danach kommt oder gekommen ist,
weiß das Foto nicht. Weiß es der Betrachter, verändert das seinen
Blick.
Jede Fotografie ist Fragment, dessen Verknüpfung mit der Realität dem
Wandel unterliegt, bis zur völligen Ablösung. Die Dinge mögen sich
gleich oder wenigstens ähnlich geblieben sein, die Auffassung von und
die Sicht auf die Dinge verändern sich ständig. Fotografien sind
Zitate, Augenblickszitate; Fotografien liefern „Augenblicksgeschichte,
Augenblickssoziologie, Augenblicksteilnahme“ (Susan Sontag). Ihr
Anspruch an den Betrachter bleibt dabei durchaus absolut - das da ist
Erna, die Hofkirche, Dresden, die Realität - jedenfalls solange der
Blick des Betrachters auf ihnen haftet.
Ihr Anspruch: Eine Aufnahme spricht eher selten für sich selbst. Ein
nackter Körper, ein Gesicht, Bäume und Häuser sind was sie sind.
Hermine, die Hofkirche, Dresden sind es erst, wenn der Betrachter von
ihnen weiß. Wenn er Dresden schon einmal gesehen hat oder wenn man’s
ihm sagt: das da ist Gottes Raumschiff, 1738 - 1756 am Standort Dresden
montiert nach Plänen von Chiaveri. Und die Süße da heißt Hermine. Hieß:
Als das Foto gemacht wurde, war sie ungefähr zwanzig und das ist jetzt
rund 90 Jahre her. Der Name steht hinten drauf, mit Bleistift
geschrieben. Vielleicht hieß sie auch gar nicht so, sondern Erna, und
war die längste Zeit ihres Lebens ein fürchterlicher Drachen.
„Fotografieren“ sagt Susan Sonntag, „heißt die Sterblichkeit
inventarisieren.“
Eine Fotografie des Dresdner Fotografen Helmut Schulze zeigt ein Stück
graue Fassade und zwei Tafeln in Rotweiß und dunklem Rotbraun. In der
rechten Hälfte des Hochformats steht die Hauswand nah am Fotografen und
reicht vom Kellersockel bis an den Sims unterm 1. Obergeschoß. In der
linken Bildhälfte weicht sie rasant zurück und verkürzt sich
perspektivisch. Soweit man sehen kann, ist die Fassade aus Sandstein
gemacht und durch tiefe Fugen in Blöcke geschieden, ganz als wäre sie
aus ihnen gemauert. Dies und ein vom oberen Bildrand angeschnittenes
Schmuckelement – ein Rollbeschlag und ein daraufliegendes
Akanthusblatt, gleichfalls in Sandstein – verweisen das Gebäude recht
zuverlässig ins späte 19. Jahrhundert.
Die Tafeln dominieren jeweils eine Fassadenfläche. Die linke ragt frei
in den Raum, scheint aus opakem Kunststoff gefertigt und ist eher
Kasten als Tafel. War vielmehr, da sie so zerstört ist, daß durch sie
hindurch und die eigentlich verdeckte Fassade gesehen werden kann. Ihr
Rot ist eben noch ein Rahmen, auf ihrem Weiß steht in schwarzen
Buchstaben das Wort West zu lesen. Die rechte Tafel ist in ihrem
Metallrahmen an der Wand befestigt, sie scheint aus Glas und glänzt,
als wäre sie eben poliert worden. Ihre gelbweißen Buchstaben ergeben
die Worte Spirituosen, Sekt und Wein, und in ihrer gesamten Fläche
spiegelt sie: einen Baum, vier Autos, zwei Passanten, die Fassaden
zweier Häuser aus der Gründerzeit und ein Stück Himmel. Das Blau des
Himmels schaut nach Abend, seine Wolken sehen nach Sommer aus.
Das heftige Rot des Reklamekastens der Firma West reißt ein Loch ins
gelbliche Grau der Fassade. Ins Rot wiederum ist ein Loch geschlagen,
eine Antwort, die wieder eine Frage ist. Wer und warum? Die Aufnahme
zeigt Farben, Struktur, den Gegensatz, zwei Löcher. Beide Löcher haben
mit Wegnahme zu tun, beide stören. Ein Stein flog und traf mit der
Zigarettenwerbung anderes: Ein Zeichen, ein grobes Vergehen am
Ortsgeist, eine ästhetische Zumutung, ein Gesundheitsrisiko. Wer warf
den Stein, wenn es ein Stein war? Wir wissen es nicht. Denken läßt sich
ja immerhin auch ein Vogel, nah am Wahnsinn oder schon mittendrin - mit
dem Kopf kommt man gut durch die Wand. Denken ließe sich fürs Jahr 98
oder auch 2004 ein junger Mann, dem die Liebste den Laufpaß und das
Bier nicht genug Trost gegeben hat.
Die Aufnahme fügt zum ersten Befund weitere Indizien. Die Autos im
Spiegel sind identifizierbar als Lada, Trabant, W 50, dürften also
spätestens im Mai 1990 gebaut worden sein. Nimmt man die Lupe zu Hilfe,
lassen sich an zwei der Fahrzeuge die Nummernschilder erkennen, wenn
auch nicht lesen. Beide scheinen aber noch aus der DDR zu stammen. Auch
wenn damit noch immer nichts zu beweisen wäre, so ist damit doch ein
Aufnahmedatum irgendwann im Sommer 1990 wahrscheinlich. Die Zerstörung
der einen wie die demonstrative Schonung der anderen Tafel meinte
demnach – wahrscheinlich – ein Symbol und war – vermutlich - selbst ein
symbolischer Akt (Gegen ein Symbol der Landnahme, ein Besitzzeichen,
ein Herrschaftszeichen, gegen das Neue ganz allgemein, den Fortschritt
oder eine seiner Grimassen, gegen die Werbeindustrie, die
Bundesrepublik Deutschland, die Zeitstimmung, den Konsumismus, gegen
das Ende einer Hoffnung, den fatalen Glauben an Wunder oder auch nur
das heftige Rot und das Wörtchen West.... ).
Die 90er Jahre haben Dresden verändert. Farblich vor allem und im
Straßenbild. Schaut man sich Fotografien aus den frühen 90ern an – die
meisten der Aufnahmen in diesem Band stammen aus dieser Zeit – fällt
das sofort auf, desgleichen wenn man seine Erinnerung an die 90er und
mehr noch, wenn man sie nach den 80er Jahren befragt. Häuser sind
verschwunden und andere hinzugekommen, an die Stelle früherer Bauten
oder auf einer der reichlich vorhandenen Brachen. Die 90er sind so lang
noch nicht her, aber es fällt schon jetzt schwer, sich vergangener
Zustände zu versichern. Vor allem die Wiederbebauung freier oder
provisorisch genutzter Fläche verändert Straßen und mehr noch Plätze
radikal. Im guten wie im bösen und öfter in beidem zugleich: Einiges an
Neubau steht zumindest als Baukörper am rechten Ort, stellt Situationen
wieder her und verwächst langsam mit der Umgebung. Anderes steht
unverbunden in der Gegend, mit brutal ausgefahrenen Ellenbogen
sozusagen, als hätten Bauherr & Architekt ums Verrecken keinen
anderen Weg finden können, der Stadt und ihren Bewohnern ihre
Mißachtung zu zeigen: Scheiß auf Dresden. Vielleicht noch schlimmer
sind die Baumarktregale an historischem Ort, die den Ortsgeist noch
nicht einmal zu verneinen in der Lage sind, dieser Faselbeton, der
überall stehen könnte und nirgendwo hingehört, weder nach Peitz noch
nach Peking.
Dresden war in den 80ern eine graue Stadt. Grau ist ungeheuer reich an
Nuancen, aber natürlich nicht jedermanns Sache. Überwiegt der Verfall
die Würde des Alterns und im Patina der Schmutz, dann wirkt Grau
deprimierend. Dresden war in den späten 80ern u.a. auch daher eine
deprimierende Stadt. Heute sind die Dächer der meisten Häuser frisch
eingedeckt und die Fassaden gestrichen, abgewaschen oder mit Sand
gestrahlt, und sehen etliche der sanierten Gründerkästen neuer aus, als
sie je waren. Ein Blick in die Fotografie der eigentlichen Bauzeit - so
bei August Kotzsch - ist da sehr lehrreich. Grau ist der Häuser
natürlicher Teint, zumindest solange es regnet und schneit, aus
Schornsteinen und Auspuffrohren Rauch entweicht, die Nöte und
Hoffnungen hiesiger Menschheit in Mauerwerk siedeln. Natürlich ist die
Illusionsmalerei auf den gelben Wänden der verbliebenen barocken
Substanz gut fürs Auge und eine echte Wiederherstellung, ein
Nachvollzug des seinerzeit so auch gemeinten. Und auch gegen das Weiß
im Stadtbild ist nur einzuwenden, daß mit ihm auch drei bis vier Winter
hätten simuliert werden können und daß Häuser keine Kühlschränke sind
oder wenigstens sein sollten.
Die 90er Jahre begannen in Dresden und der übrigen DDR im Herbst 1989
mit einer Politisierung vieler, die im Namen noch nicht näher
definierter Veränderung erst Massen zusammenführte und dann in
Vereinigungen, Gruppen und Grüppchen fragmentierte. Dem Wegbrechen des
Staates DDR folgten ein euphorischer Frühling der Illusionen und ein
kurzer, schöner Sommer der Anarchie. Freilich, das Straßenfest, das
nach dem Rückzug der Staatsmacht ausgebrochen war, hatte da schon viel
von seinem Charme und von seiner Spontaneität verloren: Spätestens mit
dem Dezember 1989 hatte sich die Bewegung ausdifferenziert und gaben
Politiker und Medien wieder Grundton und Richtung vor. Trotzdem, das
Jahr 90 war großartig, schon weil die Zeit ausdauernd verrückt spielte.
Allein der Januar dauerte ein halbes Jahr - die Tage waren so lang -
und zog einen Februar nach sich und einen März, die kaum nachstanden.
Nach der Währungsunion, dem Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie
und mit dem Eintritt der Fünf Neuen Länder in die Bundesrepublik
Deutschland, begann für die Ostdeutschen ein anderer, ein fremder, ein
zu erlernender Alltag: eine Zeit der Beschleunigung, des Wechsels, des
teils dramatischen Wandels und der mehr oder minder schnellen
Wandlungen. Häuser und ganze Stadtteile wechselten Bewohner und
Besitzer. Läden und Parteien wechselten ihre Auslagen, verließen ihren
Standort und ihr Dasein. Der Autos wurden es deutlich mehr und der
Kinder ebenso deutlich weniger. Menschen wechselten ihre Kleidung,
ihren Partner, ihre Überzeugungen und, wenn nötig, auch ihre
Erinnerungen.
„Wie schon 1848 sollte der Moment der Freiheit und Wahrheit leider
nicht lange währen. Die Politik und Ämter der Staatslenker gingen an
jene zurück, die diese Funktionen im Normalfall überall übernehmen. Die
ad hoc gegründeten Fronten und Bürgerforen lösten sich ebenso schnell
wieder auf, wie sie entstanden waren.“ Was der große Historiker Eric
Hobsbawm da formuliert hat, stimmt als historischer Befund, wird der
Lebenswirklichkeit aber nicht ganz gerecht. Einmal in der Welt, wirkten
Schwung und Einsicht und Illusionen des 89er Oktober weiter. Die
aufgebauten Formen der Beteiligung, der Einmischung in eigener Sache,
die noch existierenden Bürgerforen wieder abzubauen und das Bedürfnis
nach ihnen weitgehend wieder zu verschütten, haben die 90er Jahre
gerade ausgereicht.
Kant hätte diesen Satz wohl als Beispiel selbstverschuldeter
Unmündigkeit gelten lassen: „Vierzig Jahre nur belogen und betrogen...“
Ende 89, Anfang 90 war diese Ansage in Dresden (und auch sonst) häufig
zu hören: „Vierzisch Jahre nur beloochen und betroochen...“ Für
Selbstachtung, Mut und Mündigkeit sprach das nicht, sondern eher für
deren Gegenteil, und auch nicht für eine Selbstbefreiung, die der
Herbst 89 für viele andere tatsächlich war. Dafür ergänzte sich dieser
Satz aber gut mit der fast kompletten Entwertung der Lebensleistung
mehrerer Generationen, die in den überregionalen Medien für etliche
Jahre gern erfüllte Pflicht und in der Politik routiniert betriebenes
Geschäft wurde.
Aus gegebenem Anlaß. Schließlich war der Beitritt nicht nur mit der
Teilhabe der Ostdeutschen an Grundgesetz und Rechtsstaat, sondern auch
mit einer massiven Eigentumsübertragung von Ost nach West und einem
radikalen Elitenaustausch in umgekehrter Richtung verbunden. So
gelangten zum Beispiel 95 Prozent der Firmenvermögen, die von der
Treuhand privatisiert wurden in die Hände westdeutscher Kapitaleigner.
Ähnlich schaut es bei der Verteilung von Immobilien, Vermögen,
Besitzständen aus und mit der Repräsentanz der ostdeutschen Bevölkerung
im Parteien-, Verbände-, Wissenschafts-, Forschungs-, Medien-, und
Sportsystem Deutschland. Der Anteil der Ostdeutschen an der
bundesdeutschen Funktionselite lag 1998 in der Wirtschaft und beim
Militär bei null, in der Verwaltung und der Justiz bei drei, im
Wissenschaftsbetrieb bei sieben Prozent.
Anders, als gern behauptet, war in Ostdeutschland nicht nur Schrott zu
beräumen, sondern auch gut Beute zu machen. Charme hatte das nun gar
nicht mehr und auch an Würde, gar Größe war in diesem Prozeß wenig zu
finden. Schade eigentlich. Aber Verteilungskämpfe sind so. Dort, wo die
Einsichten vom Jahr 89 her, Beteiligung und Teilhabe verschüttet
liegen, liegt auch eine große Kränkung. Wie und bei welcher
Gelegenheit, in welcher Gestalt das wieder hochkommen wird, ist offen.
Das Ob ist keine Frage.
Das furchtbar zerstörte Dresden ist von den Dresdnern wieder aufgebaut
worden; besser: wieder bewohnbar gemacht und in Teilen neu errichtet.
Wieder aufgebaut: das trifft den Vorgang ja nur zum Teil. Wieder
aufgebaut wurden der Zwinger, die Semperoper, die Dreikönigskirche und
neuerdings die Frauenkirche und Wiederaufbau meint auch nur den
gleichen Ort und die annähernd gleiche Gestalt. (Gewonnen ist damit
viel und wieder gut gemacht ist damit nichts, auch wenn diese
Vorstellung als Trostkrücke beim Weiterleben half und wahrscheinlich
notwendig war... )
Eh an „Aufbau“ überhaupt zu denken ging, mußten die ungeheuren
Trümmermengen abgetragen und sortiert werden, mit bloßen Händen
zumeist. Was noch brauchbar war an Ziegeln, Dachblech, Holz wurde
herausgebrochen, herausgezogen, abgeputzt und glattgehämmert,
zugeschnitten; der verbliebene Schutt war abzufahren und liegt als
Hellerberg im Dresdner Norden. Bewachsen mittlerweile mit Bäumen, die
in vergessener Erinnerung wurzeln, im Geruch nach Feuer und Tod. Was an
Ruinen und Ruinenstümpfen noch stand, wurde teils niedergerissen, teils
wieder zusammengeflickt, provisorisch gesichert und abgedichtet - für
Jahrzehnte, wie sich herausstellen sollte.
Die fehlenden Häuser wurden über einen längeren Zeitraum neu errichtet,
einfach zumeist und selten schön, an neu angelegten und viel zu breiten
Straßen und selten in ausreichender Zahl, sehr hell und überdies betont
funktional. Wenn etwas nur funktional ist bzw. sein soll, leidet die
Funktion erheblich. Die ersten Neubauten sollten denn auch mehr sein
als Wohnanlagen. Später ist man davon abgekommen, der Fachbegriff
lautet wohl Sachzwang, die Krankheit ist alt.
Trotz aller Mängel bleibt Dresdens Aufbau im kalten Nachkrieg eine
Leistung wie der Aufbau von Hamburg beispielsweise, von Kiel und
Darmstadt. Es ist heutzutage üblich geworden, über diese Leistung die
Nase zu rümpfen. Man muß dazu freilich das Herz haben und den
entsprechenden Verstand.
Dresden in der Mehrzahl: ist es zu fassen? Es gibt das Dresden der
Fassaden, die vielfach gebrochene Oberfläche, die schönen und die
zerbrochenen Räume, die Gruppenbilder mit Turm und Kuppel und die
Himmel darüber - tagtäglich ein anderes Stück. Es gibt das Dresden der
Jungen und der Alten, das geliebte Dresden, das gehaßte, geschmähte,
das Dresden der täglichen Verrichtungen, der Arbeitswege und - selten,
wie immer - das Dresden der Offenbarungen. Es gibt das Dresden der
Steine: Ein jeder lag schon einmal in jemandes Hand. Es gibt das
Dresden des polierten Glases, der drohenden Spiegel und der Spiegel,
die geweint haben. Es gibt das Dresden der Friedhöfe, der verschütteten
Keller, der verschollenen Knochen, der Scherben im Erdreich. Es gibt
das Dresden der Schwalben, der Biber, der Hunde und Katzen, der Ratten
und Fledermäuse, der Turmfalken und der Krähen. Es gibt das Dresden der
Auto- und Straßenbahnfahrer - vorn das des Einzelnen allein und hinten
das der vielen allein, von A nach B unterwegs; die gepanzerten
Gesichter im Irgendwo. Es gibt das Dresden der Trinker, der Ärzte, der
Polizisten, der Einbrecher, der Sammler von Dresdensia und der
Liebhaber gut gebutterter Napfkuchen, das riesige Dresden kleiner
Kinder und das kleinste von allen, das Dresden der Oberbürgermeister.
Es gibt das Dresden der Rechtschaffenen, Rechttuenden, der
Rechtmeinenden, der Rechthaber, die sagen „Es ist ganz einfach“ und
werden nicht rot dabei. Es gibt Verkäufer und Käufer und das käufliche
Dresden, entzogene Landschaft und gestohlenes Licht. Es gibt die
hirnbespritzten Mauern des Geldes und Verdienste, die nach Schlägen
schreien.
Es gibt das beschreib- und abbildbare Dresden der Obdachlosen - Wege,
Notlager, Aufenthaltsorte - und das Dresden der frisch Verliebten, das
sich weder beschreiben noch abbilden läßt.
Es gibt Dresden im Kopf jedes Dresdners, rund 480 000 mal eine
glückliche Stadt und eine unglückliche, einen Ort der Sorge und des
Zufalls, der Verheißung, der Hoffnung, des Begehrens und der
Erinnerung. Es gibt Dresden als Tanzplatz und Kulisse, als Tunnel und
Brachfeld, als Acker und Gebirge, als Bild und Projektion. Und es gibt
jene eigene, heimliche Traurigkeit jeder Stadt, in der man gealtert
ist, aufs nächste und übernächste, aufs letzte Alter zu. Aber Dresden
hat kein Ende. (2004)