Gregor Kunz:

Dresden in der Mehrzahl


Fragmentarisch über Mentalität und Geschichte(n), Kunst und Fotografie


„Jede mögliche Form des Verstehens wurzelt in der Fähigkeit, nein zu sagen.“ Susan Sonntag


Dresden ist eine schöne Stadt. Dresden ist eine Realität und nicht ganz wahr. Dresden existiert in der Mehrzahl: als Gemeinwesen, als bebaute Fläche, in den Vorstellungen der Dresdner und der Besucher der Stadt. Natürlich existiert Dresden auch auf dem Papier. Die Literatur beiseite gelassen: Fotos sind so ehrlich, wenn sie lügen, und was immer sie Falsches sagen - es stimmt. Stadt des Barock, Stadt der Technik, Stadt der Künste und der Künstler, Stadt am Fluß, Stadt der Widersprüche. Wenigstens letzteres stimmt ohne Einschränkung. Dresden leidet an seiner Geschichte, an seiner Schönheit, an seinen Verlusten und an seinen Realitäten. Die Stadt lebt davon, unter anderem, zehrt davon und wird nicht satt. Eine Ende ist nicht abzusehen. Womöglich ist das gut so.

Die Stadt der Pläne war in aller Zeit eine andere als die gebaute Stadt - auch und weiter gut bewohnt, gewiß, von Gespenstern -. Die gebaute Stadt steckt in der Schleife von Zerstörung und Aufbau. Aufbau ist in Dresden Wiederaufbau oder Aufbau und Zerstörung in unauflösbarer Verschränkung. Dresden ist für Architekten eine schwierige Stadt. Viele Dresdner sind Architekten oder wenigstens Gärtner, mit einer so heimlichen wie ungeteilten Liebe zu barocker Pracht und zu biedermeierlicher Idyllik. Die Moderne und Postmoderne treten hinzu mit konfektionierten New York- als auch Baumarktzitaten, schüchtern und flegelhaft und undimensioniert, als modische Anschaffung und manifeste Gewalt der Ökonomie. Manchmal, mit dem Blick auf die nähere Baugeschichte und auf die ganze Stadt, auch als Architektur.

Dresden ist seit dem 15. Jahrhundert Hauptstadt und war bis 1918 Residenz. Vorher war die Stadt ein Flußübergang mit einer gewissen Bedeutung im Getreide- und Tuchhandel, Pirna nachgeordnet und weit hinter Meißen. Leipzig war Handels- und Bürgerstadt und nie Residenz. Chemnitz wurde Industrie. Leipzig und Dresden bekamen ihre Industrien im 19. Jahrhundert hinzu - leichte vor allem - mit Chemnitz hatte die Industrie eine Stadt bekommen und zwar an Hals und Kragen, fest in den Griff. Ruß-Chemnitz, die Arbeiterstadt. Universitäts- und Bücher- und Pfeffersackstadt Leipzig. Beamtenstadt Dresden und Kunststadt, Stadt der Pensionäre... Ganz gestimmt hat das nie. Aber Geschichte wie Geschichten prägen Stadtbilder, Grundrisse und Mentalitäten. Ähnlich den Grundrissen, dem Straßennetz setzen Mentalitäten sich fort und führen ihr Eigenleben. Durchaus mit sich im Streit.

Entsprechend ist der Dresdner Konservatismus keine verläßliche Größe und hat der Dresdner Modernismus etwas Demonstratives, etwas Angelerntes: Wir auch. Man möchte seinen Stadtteil grün und sein Dresden schön und überschaubar, aber irgendwo in diesem Dresden ein World Trade Center mit 80 Stockwerken - egal wozu - und zwei bis vier Autobahnen vor der Tür. Nicht vor der eigenen Tür allerdings. Man möchte das Stadtbild und die Kulturlandschaft, die Dresden vor allem ist, bewahren und entwickeln; aber wenn’s dem Fortschritt dient oder wenigstens dem Fortkommen, dann ist alles möglich. Der in den frühen 90ern nachdrücklich geäußerte Wunsch eines Dresdner Oberbürgermeisters kann da als typisch gelten: Er wolle endlich die Kräne sich drehen sehen. Wozu und wofür hat er nicht gesagt, aber man darf vermuten, es ging ihm um das Gute, Wahre, Schöne im Allgemeinen und um ein nicht näher definiertes Prosperieren der Landeshauptstadt im Speziellen und um seine Wiederwahl in Permanenz. Nun drehen sich die Kräne schon seit längerem, heben und lassen herunter, und was am Ende in der Landschaft stehenbleibt, will öfter keiner gewollt haben. Auf Baustellentafeln stehen Bauherren und Architekten üblicherweise zu ihren Projekten, an den fertigen Häusern fehlt diese Unterschrift fast immer. Aber es wird nichts nützen. Häuser sind Porträts, Denksteine noch nicht Gestorbener; des Bauherren vor allem und auch der Architekten. Augenscheinlich steht es verbreitet mit beiden nicht zum Besten. Häuser haben ihre Geschichten, erzählen und sind ihre Geschichte; das macht ihren bleibenden Wert aus und ihren Unwert, jenseits des Ökonomischen. Würden Menschen deutlich älter, als sie üblich werden, wüßten sie das.
      In den letzten 13 Jahren hat es noch kein großes Bauvorhaben in Dresden gegeben, um das nicht heftig gestritten worden wäre. Auf den ersten Blick sind die jeweiligen Kontrahenten klar geschieden, identifizierbar und zu benennen. Sagen wir: als konservative Modernisten und technokratische Macher auf der einen und linksökologisch orientierte Konservative auf der anderen Seite. Aber läßt man technokratischen Stumpfsinn, Rechthaberei und partikulare Egoismen einmal außer Betracht, ist es so einfach wohl nicht. Der Riß geht quer durch die Lager und durch viele der Beteiligten noch einmal. Dieser Streit währt schon länger als 13 Jahre und ist Dresdens bester Teil. Ja, könnte man technokratischen Stumpfsinn, Rechthaberei und partikulare Egoismen heraushalten... Kann man aber nicht. Was ist schon einfach.

Wenn sie nicht selbst Einwanderer sind, stammen fast alle Bewohner großer Städte von Einwanderern ab. Die in einer großen Stadt vorherrschende Mentalität, der Ortsgeist ist nichts autochthones, sondern ein Mix, lange geschüttelt und immer wieder ergänzt. Die Geschichte gab das ihre hinzu, die Landschaft, die Ernährungsgewohnheiten, die Arbeit, die politischen Verhältnisse, die Religion, Glück und Unglück. Was in diesem währenden Prozeß sichtbar und hörbar wird, ist etwas jeweils eigenes, unterscheidet die Städte deutlich, ist Teil ihres Charmes - wie herb und zweckbetont, gewinnend oder reserviert der immer sein mag.
      Als im späteren 19. Jahrhundert die Bevölkerungszahl Europas steil anstieg und die großen Städte entstanden, kam ein Großteil des Dresdner Zuwachses aus dem Erzgebirge, aus dem nördlichen (deutschsprachigen) Böhmen, den beiden Lausitzen und Schlesien. Die Gründe der Ab- als auch Zuwanderung waren die selben wie heute auch; ausweglose Armut und die Hoffnung auf lohnende Arbeit, Auskommen, Teilhabe, Aufstieg im Anderswo. Der Dresdner Autor Karl August Engelhardt (1768-1834) teilte für seine Zeit nur allzu bekanntes mit: „Bei allem Fleiß aber führen die Erzgebirger ein kümmerliches Dasein. Brot ist mehr Zukost, und Mehlspeisen, die Schmalz erfordern, sind seltene Leckerbissen; Kartoffeln sind die tägliche Mahlzeit für die ganze Familie. Zum Frühstück, Mittags- und Abendbrot erscheint regelmäßig dieselbe Schüssel mit Kartoffeln auf dem Tische, und manch arme Frau zählt sie den Kindern wie Leckerbissen zu; gewöhnlich wird nur Salz dazu genossen (...) Auch in betracht der Wohnungen behilft man sich auf das knappste. Es ist nicht selten, daß 3 bis 4 Familien, jede mit einem Herdchen Kinder, also oft 20 bis 24 Personen in einer Stube hausen, die kaum 6 Meter im Geviert hält.“ (Dieser Schulbuchtext blieb in Varianten fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch gültig, diese hier stammt aus einem Hilfsbuch für den Unterricht in der Erdkunde, Halle 1885)
      Es darf also vermutet werden, daß ein Teil der Dresdner Mentalität von daher kommt, aus verdrängter, vergessener Armut und inhaliertem Anpassungsdruck und selbstverständlich aus gepflegtem Stolz. Man war immerhin nicht in irgendein Gewerbegebiet gezogen, sondern siedelte nahe der Residenz, wohnte um und neben all der Pracht und war irgendwie schon fast ein Teil davon. Was das Heimweh mit den Zuwanderern anstellte, wäre einmal eine besondere Untersuchung wert.

Wie überall war die Sprache der große Integrator. Sächsisch gemeindete ein, selbst wenn der Fremde hätte fremd bleiben wollen. Spätestens seine Kinder leiteten zwanglos Dresden von Drehen ab - „Erst stecksten Finger nei, dann drehsden!“. Ob das heute noch funktioniert, steht freilich dahin. Die Mundart ist in Verschiß geraten, wohl weil das Neonblabla von Politik und Wirtschaft, weil Demagogie, Werbesprech und Durchhalteparolen auf Sächsisch an Wirkung verlieren.
      Das Sächsisch der Einwanderungsgesellschaften Dresden, Leipzig, Chemnitz ist seit dem Mittelalter auf jeweils eigenem Grund zusammengerührt worden, aus nieder-, mittel- und oberdeutschen Anteilen, und über einen längeren Zeitraum eingekocht. Die Dresdner haben zu ihrer Mundart noch das "Nu" dazu oder hinbekommen, vermutlich als Ausgleich für entgangenes Eigenleben, als Trostkeks oder Schnuffeltuch. "Nu" heißt Ja, auch: Ja, weiter bzw.: ich kann dir folgen, habe verstanden, respektive: bin ja nicht blöd. "Nu" kann ein deutliches Ja sein und ein Ja, das unter Umständen ein mehrdeutiges Nein ist und eine Bestätigung - von Tatsachen, Meinungen, Werten - an denen "Nu" eher wenig liegt: Red du nur. Der Dresdner hört das. Wird dem "Nu" ein "Und" vorangestellt, hat man eine Frage, die deutlicher Kommentar ist. Bauten wie Ereignisse mit Einschüchterungsabsicht setzt ein "Und Nu?" wieder ins rechte Licht. "Nu" ist ein gutes Werkzeug, um Distanzen festzustellen und festzuhalten. Jeder sollte eins haben.

Wie denkt ein Gemeinwesen, eine Gesellschaft? Das Wort Denken trifft den Vorgang wahrscheinlich nicht. Aber Gemeinwesen nehmen Informationen auf und verarbeiten sie kollektiv, entwickeln ein Gedächtnis und Ansichten, Meinungen, Urteile, die gelegentlich zu Handlungen führen. Nimmt man jedes Individuum als eine Nervenzelle und seine Kontakte als Verbindungsstücken, dann hat man ein kleines Gehirn aus Gehirnen... Dessen Intelligenz allerdings und einer verbreiteten Ansicht nach noch unter der seiner minderen Teilintelligenzen liegt. Und dessen Teilintelligenzen zwischen Eigeninteressen und den Interessen des Gemeinwesen stets zu wägen haben.
      Städte erinnern nicht nur in diesem Punkt an Schildkröten: sie sind stur und nicht sehr intelligent, aber es reicht zum Überleben. Oder an Ameisenhaufen: Beides sind sehr erfolgreiche Lebensformen. Wobei beide Vergleiche hinken. Für eine Schildkröte ist Dresdens Hirnanteil zu groß und für einen Ameisenhaufen zu ungleich verteilt. Hinzukommt, daß ein Ameisenhaufen ein besseres Hirn ist, als die einzelne Ameise hat.
      Eine eher abseitige Theorie will in Verwaltung und Stadtrat Hirn und Nerven eines Gemeinwesens ausmachen; aber das ist zu unernst, um wirklich in Betracht zu kommen, widerspricht überdies Augenschein und Erfahrung und wäre auch irgendwie kränkend. Dazu paßt nun wieder, daß die kollektive Intelligenz Dresden immer dann am besten funktioniert hat, wenn Autoritäten und Hierarchien vorübergehend abhanden waren - am Ende des Jahres 1989 und während des Hochwassers 2002. Leider glaubt der Mehrheitsdresdner ebenso fest an Autoritäten und Hierarchien wie an die Leitsätze der jeweils gültigen Ökonomieanschauung. Überhaupt glaubt der Dresdner gerne.

Das war nie anders. Bis ins frühe 16. Jahrhundert war der Dresdner ein Allerweltschrist, läßlich und fromm nach Gusto und Verlangen. Seine Kirche war, wie er so dunkel wie sicher wußte, die rechte, richtige und einzige. Wenn nicht, dann brachten ihm das Kirche und weltliche Obrigkeit nachdrücklich nahe oder retteten seine Seele anderweitig.
      In den Jahren nach 1539 war es mit der Übersichtlichkeit der Glaubenslandschaft vorbei. Nicht für lange, wie es aussah, und doch für immer, wie sich in einem langen und schmerzhaften Prozeß herausstellen sollte. Der Dresdner hatte Protestant zu werden - wenn er es nicht schon war - oder zu gehen. Viele wurden es aus Überzeugung und gern. Andere schickten sich drein, notgedrungen oder leichten Herzens. Die Sache hatte nur den Haken, daß zwar die Kirche jetzt noch immer die rechte und richtige, die einzige jedoch nicht mehr war. Ihrem Anspruch tat das freilich keinen Abbruch. Abweichende Andacht und Auslegung der Schriften, sozialrevolutionärer Überschwang, gar fremde Religiosität zu dulden, war auch die Kirche der Lutheraner nicht bereit.
      Als Kurfürst Friedrich August I, genannt "der Starke", König von Polen und damit Katholik wurde, war also mit dem Schlimmsten zu rechnen - mit der Zwangsbekehrung der Untertanen respektive dem finalen Abgang des Landesherren per Blitzschlag oder ersatzweise Gift, Dolch und Kugel. Es war kein kleines Wunder, daß es anders kam. August erklärte seinen Übertritt zur Privatsache und ließ die Sachsen im Glauben unbehelligt.
      Fast: August holte Katholiken in die Stadt, hatte mit den polnisch-litauischen Towarzysz Muslime in Diensten und siedelte wieder einige Juden in Dresden an. Schon das war mehr, als die guten Dresdner auszuhalten bereit waren. Rat, Bürgerschaft und Geistlichkeit murrten, vorerst im Rahmen des gerade noch Schicklichen, und suchten den widrigen Religionsverwandten das Leben so schwer wie möglich zu machen. Im Mai 1726 flog diese angespannte Gemengelage aus instabiler Glaubensgewißheit, Fremdenhaß und Zukunftsangst in die Luft. Eine aufgebrachte Menge schmiß während zweier Tage den Katholiken die Fenster ein und drang verwüstend in die Häuser. Wie fatal die Sache anzusehen war, belegen die eingesetzten Gegenmittel: Militär besetzte mit vier Regimentern die Stadt, auf den Märkten standen zwei Kompanien Feldartillerie mit demonstrativ glimmenden Lunten hinter den geladenen Kanonen bereit.
      Daß August selbst wohl ein Freigeist war, dürfte ihm den vorurteilsfreien und politisch gebotenen Umgang mit Glaubensdingen erleichtert haben. Ihn zu Lebzeiten so zu nennen, wäre gleichwohl nicht angegangen. Aber das Bildprogramm des Zwingers ist da sehr deutlich (und erklärt nebenbei die Vernachlässigung dieser Festarchitektur durch seine gut katholischen Nachfolger). August bot den Sachsen in gewissen Grenzen religiöse Toleranz und sah sich am Ende gezwungen, sie zur Toleranz zu zwingen. Das Beispiel gibt zu denken, zumal dieser Zivilisationsprozeß ja weiter in Gang ist. In Gang: Sagen wir, weiter unentschlossen Schritte macht, vor als auch zurück.
      Heutzutage wissen rund 70 von 100 Sachsen nicht mehr so recht, wo Gott wohnt bzw. ob er überhaupt ein Zuhause hat. Von Unglauben kann jedoch nicht die Rede sein. Die freien Glaubenskräfte respektive Erlösungshoffnungen hängten und hängen sich entsprechend an anderes: An megalomanische Verkehrsprojekte beispielsweise, heilende Hände und den gesunden Menschenverstand.

Die Geschichte des Dresden der kleinen Leute - vor, während und zwischen den Weltkriegen - hat kaum Platz im Bewußtsein der Gegenwart. Einige Autobiographien reißen das Thema an - Erich Kästner, Hans Grundig - und gewiß das eine oder andere Stück verschollener Belletristik. Die Generation, die das noch kannte, ist tot. Hans H. beispielsweise und Hans L., Jahrgang 1890 und Jahrgang 1910, wohnhaft bis aufs Jahr 1984 in einer Neustädter Mansarde über der Königsstraße, Tür an Tür und auf Hilfe angewiesen.
      H. war der ewige Polizist, auch wenn er genau genommen diesen Job nur von 1920 bis 1949 versah, unter immerhin drei politischen Systemen - der Republik von Weimar, Nazi-Deutschland und SBZ/DDR. Vor dem lagen Armee- und Kriegsdienst bei der bespannten Artillerie und der Nachkrieg bei der Reichswehr. Nach dem war H. Hauer bei der "Wismut AG" und Informant der Staatssicherheit. H. stammte aus dem Erzgebirge, aus der Gegend von Frankenberg. H. war ein kleiner Mann, sehr mißtrauisch, bitter und giftig. Der ehedem reitende Polizist liebte Pferde, Waffen, Behaglichkeit und Ordnung. Menschen sah er sozusagen als Kenner, als Realist, wenn nicht gar als Spezialist. Seine Lebensgeschichte erzählte er häppchenweise und aus einem schwer zu entwirrendem Bündel von Gründen. Prahlerei gehörte dazu und der Wunsch, sich zu rechtfertigen. H. hielt sich rechtens für findig und brauchbar und diese Eigenschaften für einen Wertmesser. Möglicherweise hat seine Findigkeit Leute unters Fallbeil geführt.
      Am Ende, kurz vor seinem nicht leichten Tod, mischten sich Angst und Haß recht eigen: H. hielt seinen Gesprächspartner für einen Kollegen, sich selbst für den Gegenstand der Untersuchung. Jeder Mensch ist kriminell, man muß nur lange genug suchen - dieser Spruch hätte von H. sein können.
      Hans L., der Jüngere, war ein gütiger Mensch. Haß brachte er nicht auf, nur Abscheu. Er verabscheute seinen Nachbarn, was er etwas verworren mit dem Auftritt der Polizei an einem 1.Mai Anfang der 30er Jahre begründete. Aber das war’s nicht.
      Geboren 1910 in Dresden, erlebte er als Kind Hunger, als Jugendlicher Erwerbslosigkeit, als Erwachsener zehn Jahre Krieg und Kriegsgefangenschaft. 1949 völlig entkräftet entlassen, wurde er in Frankfurt/Oder mit Hefe und dergleichen Stärkungsmitteln aufgefüttert und von dort nach Hause geschickt. Als er aus dem Bahnhof trat und zum ersten Mal die Trümmer sah, brach er zusammen. Immerhin, seine Eltern lebten, noch immer in der selben Wohnung in Dresden-Neustadt. In den 50er Jahren heiratete er, aber die Frau starb bald. Trotz allem war L. kein verbitterter Mann. Wenn die Rede auf seine Frau kam, schwammen ihm die Augen; sonst schauten sie blau, gütig, naiv, spitzbübisch und selbst, nach der zweiten Flasche Coschützer Pils, etwas verwegen aus seinem Gesicht eines gealterten sorbischen Dorfbuben. Er erzählte gut, mit Witz und dem genauen Blick für die wichtigen Dinge, über Brot, Zigaretten, Wochenlöhne, Ungerechtigkeit, Tod; von der Wahrheit, die in keiner Zeitung steht. Er hat tapfer gelebt, anständig und hilflos in seinem Jahrhundert, in seiner heillosen Zeit.

Erna H. wohnte im Neubau, an der Straße der Einheit, die jetzt wieder Albertstraße heißt. Die 90jährige stand am Fenster und wies mit zittriger Hand in die Richtung der Elbe, die man nicht sah. "Die Ti-iere" sagte sie in zittrig singendem Ton: "Die Ti-ie-re...". Die Tiere wären vom Zirkus Sarrasani übrig geblieben und hätten am Morgen nach dem großen Bombenangriff am Elbufer im Rauch gestanden, angebunden an einigen übrig gebliebenen Bäumen und bewacht von einigen übrig gebliebenen Wärtern. Später wären sie über die Brücke gegangen, geleitet von ihren Wärtern, wer weiß wohin.
      Erna H. hat diese Geschichte unbedingt noch erzählen wollen, wenige Tage nach ihrem Schlaganfall und eine Woche vor ihrem Tod. Vielleicht, damit sie in der Welt bleibt, die Pferde, Esel, Kamele, Löwen, Elefanten und Bären weiterziehen können, begleitet von ihren Wärtern in rußgeschwärzter Zirkusuniform, entrückt über die Brücken der brennenden Stadt Dresden - jedes Jahr einen Februar lang, einen winzigen Augenblick.
      Auch Hans H. hatte die Pferde gesehen - nur die Pferde - , noch in der Nacht, in Panik übers Pflaster preschen, mit donnernden Hufen, funkensprühend, in vollem Galopp zur Elbe, mit brennenden Mähnen im Schaumflockengestöber, mit weißen, verdrehten Augen. Im Keller des Jägerhofs hätten wenig später die Artisten gesessen und gezittert. "Seitdem weiß ich", so H., "auch Artisten sind feige".

Die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945 setzte für Dresden eine eigene Zeitrechnung ein: Vor der Zerstörung und nach der Zerstörung. Seither existiert die Stadt in einem so imaginären wie realem Vorher und einem realexistierenden Nachher, steht hinter dem immer problematischen Jetzt das verklärte Einst: Das alte Dresden. Und über allem, hartnäckig und paradox, die Hoffnung, es wäre noch einmal zu betreten - das Dresden der Bücher, der Postkarten in Schwarz-Weiß.
      Einen ähnlich konzentrierten Epochenbruch hatte Dresden vordem schon einmal erlebt, 1760, als das Augusteische Zeitalter mit einer Katastrophe zu Ende ging. Die von preußischen Truppen belagerte Festung war drei Tage aus Kanonen und Mörsern beschossen worden und als die Preußen den Österreichern wichen, lag ein Drittel der Stadt in Asche, fehlten für immer „416 gänzlich abgebranndte und 90 ruinierte Häuser“ und 51 Menschen: „Ohne was noch bis dato unter denen Schutt= und Steinhaufen unbegraben lieget.“ Unbegraben lagen auch die Soldaten, bis man sie mit den Pferdekadavern einscharrte. Gezählt hat sie niemand.
      Die Stadt wurde wieder zusammengeflickt, die fehlenden Häuser über einen längeren Zeitraum wieder errichtet - einfacher zumeist. Weit weniger prächtig lebte die Stadt ihr Leben einer Residenz nunmehr zweiter Ordnung, mit deutlich weniger Einwohnern und knapp bei Kasse. Der verbliebene Glanz bröckelte. Was der Stadt noch 50 Jahre erhalten blieb, war das Gefühl latenter Bedrohung. Dresdens Festungswerke würden gegebenenfalls den Krieg wieder auf die Stadt ziehen, sie aber noch weniger als vordem schützen können. Das Trauma der Zerstörung hielt sich noch über die Napoleonischen Kriege hinaus. Es verlor sich erst mit der Stadt, die es erlitten hatte, als im späten 19. Jahrhundert die Großstadt Dresden mit ihren Stadtteilen die alten Schlachtfelder und Massengräber überwuchs. Alte Städte stehen auf Knochen, auf ungezählten Toden. Man sollte das wissen.
      Wann der 13. Februar 1945 nur noch ein wichtiges Datum der Stadtgeschichte sein wird und nicht mehr Zeitenscheide, ist schwer zu sagen. Gut möglich, es wird mit dem Bebauen der letzten Innenstadtbrachen geschehen sein. Möglich auch, es dauert, bis die letzte der zwischen 1933 und 1945 abgebrochenen Biographien vergessen ist. Bis die Toten wirklich tot sind, die Trauer verstummt mit den Zeugen und in ihren Kindern.
      Nachdem die Leichen verbrannt worden waren und die Trümmer geräumt, war Dresden eine Stadt ohne Mitte, eine Stadt der Außenbezirken, eine Stadt um ein Leere herum. Alles, was nach den Menschen Dresdens historische wie ideelle Substanz ausgemacht hatte, war weg. Die Frauenkirche, die Palais und die gesamte Wohnbebauung der Altstadt und der angrenzenden Vorstädte gab es nicht mehr. Durch die ausgeglühten Mauern von Schloß, Hofkirche, Kreuzkirche, Sophienkirche, Rathaus, Oper, Galerie, Kunstakademie und Schauspielhaus pfiff der Wind. Die Kunstschätze waren in alle Winde verstreut oder vernichtet. Geblieben war eine große Wiese, auf der verstreut die verbliebenen Ruinen standen und einige Denkmäler. Kanaldeckel, Verteilerkästen und Straßenpflaster deuteten in dieser riesigen Schafweide die verschwundene Stadt an, scharf im Detail für die Überlebenden und als Ganzes kaum mehr zu glauben für den Fremden. Diese Leere materiell und spirituell wieder zu füllen, war eine so gigantische wie heikle Aufgabe und ist es bis heute geblieben.
      So wie nach 1760 der Zwinger still verfiel, begann noch 1945 der Wiederaufbau mit dem Zwinger. Wie immer das sonst begründet wurde, war das vor allem eine Therapie für die todkranke Seele dieser Stadt. In der sowjetischen Militäradministration müssen kluge Leute gesessen haben. Selbstverständlich ist auch der Wiederaufbau der Frauenkirche Therapie, wie gut die Gründe auch sonst noch sein mögen, diesen grandiosen Bau wieder hinzustellen. Aller anderer Nutzen des Baus ist da zweitrangig. Die Frauenkirche war das Loch in der Grube, die tiefste Wunde.

Die Elbe ist Dresdens Grund. Buchstäblich: die historische Stadt und ein Teil der Vorstädte stehen im Flußbett. Denn vor allem anderen war der Fluß und seine Ufer: Hänge und Sediment, die rollenden Steine am Grund, Schwemmland und Schlamm, Röhricht, Gras und Bäume, Getier. Dann kamen Menschen, die Jagd, die Arbeit, Handel und Krieg. Der Fluß wurde Hindernis und Verkehrsweg, trennte und verband, schützte und drohte, zerstörte, ernährte, ließ wohnen. Flußübergänge wurden gesucht und benutzt, später - vor rund 850 Jahren - eine Brücke gebaut. Sie steht heute noch da, in anderer Gestalt an gleicher Stelle. Mit der Brücke faßte die Landesherrschaft Posten und die Kirche. Das Land drumherum hieß Nisani, vom Fluß wußte man einen sehr alten Namen: Albina, Elbe. Wer ihn einst benannt hatte, ist unbekannt. In den Dörfern rechts und links der Elbe sprach man sorbisch. Pieschen, Loschwitz, Prießnitz sind sorbische Namen und Dresden ist wohl auch einer.

Kann es sein, daß Städte ohne Fluß gar keine richtigen Städte sind? Die Elbe legt diesen Schluß nahe, aber es ist eher das Gegenteil richtig. Stadt ist das gänzlich Menschengemachte. Der Fluß und seine Ufer, die Wiesen und Hänge sind überformte Landschaft, sie halten die Landschaft in der Stadt und ziehen sie immer wieder hinein; Dresden ist Stadtlandschaft. Mit dem Fluß bleibt ein Stück Natur notgedrungen bei sich, das sich nicht ungestraft und schon gar nicht auf Dauer deckeln läßt. Jeder anmaßende Zugriff rächt sich.
      Die Elbe prägt Dresden noch immer. Dresden ist nicht Stadt, sondern eine Städteansammlung, geteilt und in die Länge gezogen, zusammengehalten, reguliert und geführt vom dunkel fließenden Wasser. Die Elbe ist immer noch Dresdens Mitte, ein nicht zu betretendes Zentrum, das sich queren läßt. Queren die Dresdner die Elbe, dann sehen sie unwillkürlich nach rechts und nach links, den Fluß rauf und runter: Wie geht’s uns? Respekt!

Das Dresden links der Elbe wurde Ende des 12. Jahrhunderts planmäßig angelegt, als reguläre deutsche Pflanzstadt am Flußübergang. Am anderen Brückenende wuchs sich ein Dorf zum Flecken aus, der Anfang des 15. Jahrhunderts ein eigenes Stadtrecht bekam. Die beiden Dresden vertrugen sich nicht, vermutlich von Anfang an. Nach rund 150 Jahren des Nebeneinanders unterstellte der Landesherr das kümmerliche Städtchen und seine widerspenstigen Ackerbürger dem linkselbischen Rat. Verwunden haben das die rechtselbischen Dresdnern wohl nie.
      An den Namen beider Dresden hat sich diese Geschichte lange lesen lassen. Neuen-Dresden hieß die linkselbische Residenz und Alten Dresden der kleine Ort rechts der Elbe. Die heute üblichen Benennungen kamen ab 1732 in Gebrauch - per Dekret: "auff Ihro Königl. Majästet in Pohlen und Churfürstl. Durchlauchtigkeit zu Sachsen x. allergnädigsten Befehl (ist) die über 900. Jahr lang unter dem Nahmen Alt-Dreßden bekannte Stadt in Zukunft Neustadt an der Elbe zu benennen, und dieserwegen die behörige Verfügung aller Orten zu ertheilen..." (Sächsisches-Curiositäten Cabinet III., 1732). Bis ins 19. Jahrhundert blieb Neustadt bei Dresden gebräuchlich, dann fiel der abgrenzende Zusatz fort. Ein Fall für sich ist die Neustadt geblieben und die Neustädter sind es auch. Behaust im Schatten der größeren und reicheren Residenz, haben sie ihr Selbst- und Sonderbewußtsein auch daher bezogen, aus Beharren und Trotzdem gemacht.
      Ähnlich verhält es sich mit den ehedem selbständigen Stadtteilen, den überbauten Fluren der Dörfer zwischen Pillnitz und Übigau. Blasewitz und Loschwitz beispielsweise gehören seit einigen 80 Jahren zur Stadt, ohne je ganz in Dresden aufgegangen zu sein. Eingeborene Loschwitzer nennen die Stadtmitte links der Elbe noch immer "die Stadt". Der Dresdner Konservatismus hat viele Seiten, diese ist eine der angenehmen.

Große Städte haben eine ungefähre Mitte und mit diesem Zentrum öfter ihr Ungenügen. Meist hält sich diese Mitte im kaum erweiterten alten Stadtgebiet auf - in Grenzen noch vom Mittelalter her - als eine Zeitkonserve und Geisterreservoir, als das Ergebnis mehr oder minder glücklicher Bauprozesse über Jahrhunderte. Oder sie ist die Frage, die der letzte Krieg an dieser Stelle hinterlassen und der Wiederaufbau - in Ost wie West - mehr oder minder unglücklich beantwortet hat. So auch in Dresden. Stadtmitten sind öfter vorläufige Bescheide, zugestellt mit Großblöcken und Hochbauten und mit Verkehrschneisen weiter offengehalten. Stadtentwicklungsdezernenten sollten keinen Dienstwagen haben und Architekten ihre Gedanken im Laufen verfertigen. Aber das nur nebenbei.
      Auch was in Segmenten drumherum steht, ist weniger gewachsen als in wenigen Jahrzehnten zusammengebaut und notdürftig angestückt worden. Ungeheure Mengen Sandsteinquader und Ziegel wurden herangekarrt und rings um die alte Stadt eilig aufgemauert, mit hergeflößten Wäldern belegt und mit Schiefergebirgen abgedeckt. Die Baumasse quoll wie der süße Brei im Märchen, war aber ersichtlich problematisches Menschenwerk. Sie folgte den Ausfallstraßen und eventuell vorhandenen Wegen und füllte die Flächen dazwischen - Felder, Wald, Gärten, ältere Siedlungen und Müllkippen - mehr oder minder dicht aus.
      Mehr oder minder dicht: Am Anfang des 20. Jahrhunderts fand dieser Bauboom ein plötzliches Ende, fiel der Hammer fast über Nacht. Gelegentlich liegt er heute noch da. Das Unfertige, Zerrissene, Provisorische der Dresdner Vorstädte resultiert nicht so sehr aus Vernachlässigung und auch nur zum Teil aus dem Verschwinden der Industrien, sondern liegt schon in ihrer Entstehungszeit begründet.
      Fast alle äußeren Stadtteile Dresdens sind im späten 19. Jahrhundert in harter Knochenarbeit entstanden, in aller Regel ohne Plan. Die partikularen Egoismen, Verwertungs- und Spekulationsinteressen zu steuern, standen oder fielen das Baurecht, die Interessen der Landesbehörden, des Stadtrats. Dresden hatte in jener Zeit einen leidlich aufgeklärte Verwaltung und wohl das Glück des Interessenpatts - aber die Nähte zwischen den Stadtteilen sind trotzdem auch hier gut zu sehen. Weniger gut zu sehen, aber immer noch zu spüren ist der jeweilige historische Grund, auf dem die Gründerzeitviertel zu stehen kamen. Man spürt's beim Gehen: Da ist was Eigenes und da eine Grenze. Man spürt's am Licht, am Grün, am Bodenrelief, am Straßenraster und man sieht’s an den Grundrissen, an den Fassaden und ihren Materialien.

Dresdens Farben sind aus Stein und Licht gemischt, aus Baumlaub und Mode, Elbwasser, Staub und Gewöhnung, aus Ignoranz, Aggressivität und industriellem Geschrei. Der quasi natürliche Grundton aber, der als Grundierung in allem zu liegen scheint und die Stadt und ihre Erinnerungen färbt, ist ein schwingendes Graugelb, die Farbe verhaltener Melancholie.
      Die kommt aus den Brüchen stromauf. Sandstein kann fast weiß sein oder auch nah am Rot liegen, zeigt aber meist eine Spielart des Gelben: den fahlen Schein toter Gräser im Januar, die Farbe gelösten Lehms nach einem Gewitterregen, das Braun trockener Blätter im Spätherbst. Ein Teil dieser Farben ist nichts weiter als feinverteilter Rost, den anderen geben Wetter und Jahreszeiten und der Blick des Betrachters hinzu. Ist es Herbst oder Winter in Dresden und regnet es öfter, ist der Himmel bezogen, als sollte er geschont werden für später, ist der Sandstein schwarz und grau, ruppig wie das schmutzige Fell eines erfrorenen Hundes. Es ist das Alter im Verein mit dem Schmutz, das den Sandstein Grau bis Schwarz werden läßt. Bescheint ihn die Sonne, strahlt er warm zurück und ändert seine Farben ins Helle. Nicht wirklich, aber es scheint so. Im Sommer, wenn das Grün unter Staub liegt und alles andere auch, hat die Stadt unter den blaßblauen Himmeln die Farbe vertrockneten Rosinenbrots.
      Staubig ist meist auch der Himmel. Dresden liegt unten, der Wind weht oben, übers Tal weg. Steht der Wind einmal richtig und bläst Staub, Dunst, Abgase aus dem Tal, dann funkelt der Himmel und die Stadt glänzt und gleißt. Dann wirkt die Stadt, als wäre sie bei sich selbst zu Besuch und sieht aus, wie sie – vielleicht – gemeint war.

Wie Dresden riecht, ist schwer zu sagen. Der Kraftverkehr verdeckt mit seinen Abgasen jeden anderen Geruch jenseits exzessiver Parfumkonzentrationen. Die Stadt, wenn man sie so anschaut, läßt eigentlich den Geruch nach warmer Milch vermuten, nach gebratener Leber mit Zwiebelringen, den Geruch einer umgekippten Seltersflasche - Margon - den Dunst einer vollen Windel, gemixt mit einigen Spritzern Spülmittel und einer Prise Baumarktkehricht, verwehtes Terpentin, überwölbt vom zarten Arom eines gut gebutterten Napfkuchens... In der Mitte riecht Dresden nach Elbe, aber auch das ist wieder eine Sache für sich. Zu diesem organischen Grunddunst kommen nämlich die Zutaten der Jahreszeiten hinzu und die Wechselwirkung des Wasserstandes mit rund 100 Jahren Industrie- und 900 Jahre Stadtgeschichte. Ob die Elbe stinkt, ist entsprechend seit dem Durchzug der Langobarden umstritten. Die rezente Politik bestreitet's, die Wirtschaft wirft's der Politik vor - nächst dem Wetter und der Lohnfortzahlung im Arbeitsfalle etc. - und der eingeborene Gemeinbürger nickt's gemessen ab: O Du mein Heimatland, wie riechst du heimatlich. Gerüche wecken Erinnerungen und sind vermutlich gut fürs Gemeinwesen.

Dresden gilt als Kunststadt und hat ein Problem damit. Der Titel ziert und wird geführt, der Titel verpflichtet und ist lastender Anspruch. Gott ja, die Künste schmücken und kosten, und das Kontorbuch, sie recht zu verbuchen, scheint unauffindbar verlegt. Google immerhin bestätigt, wenn nicht den Status, so zumindest die Wahrnehmung. Zur Anfrage "Kunststadt Dresden" fanden sich am 13. Januar 2004 exakt 918 Einträge. Auch wenn es dabei kaum um Kunst ging, ist das eine ganze Menge und ein Fingerzeig. So gewohnheitsmäßig verwandt, scheint die Floskel eine Selbstverständlichkeit, alt zwar, aber nicht verjährt und immer noch werbeträchtig. Wer städtische und staatliche Unterstützung aktueller Kunst- und Kulturarbeit einzufordern hat, benutzt den Begriff ebenfalls und auch die Stadt wirbt mit diesem Anspruch, was angesichts eines langjährigen Kulturkürzungskurses nicht ohne Witz ist. Widersprüche treiben Entwicklungen voran. Wohin? In die Kenntlichkeit, auf die Spitze und ins Lächerliche.
      Dresden und die Künste, das Verhältnis war immer problematisch; man mache sich da nichts vor. Solange es einen Hof gab, war die Kunstpflege vor allem dessen Sache. Kostspielige Sammlungen zusammenzubringen, prächtige Bauten errichten zu lassen und ein gefeiertes Theater zu haben, gehörte zum Beruf des Monarchen; der künstlerische Ruhm eines Landes und seiner Residenzen wurde wirtschaftlicher Kraft und politischer Stärke gleichgeachtet, ja, bildeten mit letzteren selbstverständlich eine Einheit. Neigung, gar Begeisterung waren dabei nicht einmal nötig, aber sie erleichterten die Sache natürlich sehr, desgleichen Sachverstand, egal woher der kam... Weltweit übrigens. Im alten China gehörte das Sammeln von Kunst zu den Tugenden des guten Herrschers, das Gedeihen der Palastsammlungen bestätigte das "Mandat des Himmels", wie Verlust und Verstreuung der Schätze zuverlässig auf den Niedergang wiesen. Dieses demonstrative Mühen um die Kunst, um Tradition wie Innovation scheint angesichts heutigen Umgangs eigenartig, auf den Kern gebracht sollte es aber einleuchten: Sind Kultur und Kunst in schlechten Händen, sind es Land und Gemeinwesen auch.
      August, genannt der Starke, hatte einen hohen Begriff von dieser Aufgabe eines guten Fürsten und außerdem das Zeug dazu. Er zog Künstler nach Dresden und nahm sie in den Dienst, kaufte bedeutende und weniger bedeutende Werke, begründete die Antikensammlung, ließ bauen. Letztendlich war er es, der Dresden den Ruf der Kunststadt eingebracht hat. Schon seine Nachfolger konnten dieses Niveau nicht halten, was nicht allein an ihnen lag. Immerhin, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ihres Horizonts taten sie ihre Pflicht und förderten die Künste ihrerseits.
      Die Bürger der Stadt waren an alldem wenig beteiligt und bestenfalls ein mehr oder weniger erfreutes Publikum. Daran änderte sich auch kaum etwas, als das Bürgertum zu Einfluß und Stimme gelangte. Von den wenigen Mäzenen abgesehen, waren Künstler den Bürgern eine höchst suspekte Lebensform und anders als der Verschleiß kleiner Kinder in Fabriken, waren ihnen die Künste als Mittel des Broterwerbs ein Greuel. (Auch als Mittel der Weltdeutung. Christliche und nationalistische Ideologen ernährte das deutsche Bürgertum allerdings ganz gern mit, auch wenn sie sich der Kunstform bedienten, mit Kunstähnlichem auf dem Markt standen.) Entsprechend kam auch August in der Geschichtsschreibung des 19.Jahrhunderts ziemlich schlecht weg. Seine Liebe zur Kunst war nicht das wenigste, was man ihm vorwarf, wenn man ihn einen Verschwender und schlechten Regenten schimpfte, aber natürlich kamen auch seine sonstigen Vorzüge auf der Minusseite zu stehen: Seine Toleranz in Glaubenssachen, sein ausgeprägter Spieltrieb, die Vielseitigkeit seiner Interessen (und Kenntnisse, wie man vermuten muß), sein nicht zu stillender Appetit, seine Amouren. August hat viel geliebt und war nichts weniger als ein gekrönter Simpel. Beides paßte wenig zur "Entstehung des Kapitalismus aus dem Geist des Protestantismus" (frei nach Max Weber). Kunst ist Luxus, und diese Art Luxus als Produktivkraft zu begreifen, ist wieder zu lernen.

Kunst gibt es nach heutigem Wissenstand seit ungefähr 32 000 Jahren. Einen Anfang dürfte das Feuer gemacht haben; erst seine Wärme, die verweilen ließ, dann dessen leidlich verwaltbares Licht. Mit dem flackernden Licht bewegten sich die Schattenbilder an der Höhlenwand und bezeugten, das da mehr ist als das Sichtbare. Ein anderer Anfang lag im Werkzeug, in der Erfahrung, daß menschliches Tun die Welt verändert - im guten wie im bösen, hinzufügt und wegnimmt. Beide machten den Menschen fähig, über sich und die Welt nachzudenken, verwiesen das Denken auf sich selbst. Ein Drittes war die Zeit, die der mittlerweile besser gerüstete und vor allem sozial handelnde Jäger endlich jenseits der Nahrungsbeschaffung übrig hatte, und dieses Denken fruchtbar werden ließ. Das legt den Schluß nahe, daß die Kunst mit der Entwicklung des Hirns, mit der Fähigkeit des Menschen zur Selbsterfahrung, Selbstbewußtwerdung und Selbsterfindung aufs Engste verbunden war und ist. Denn als der Mensch zu malen und zu formen begann, hat er das verblüffenderweise sofort gekonnt: Die ersten Höhlenbilder sind schlicht perfekt. Die moderne Hirnforschung bestätigt diese Annahme. Der spielerische Umgang mit Tönen, Farben und Bildern bringt die Neuronen aneinander und ins Netz, die zeitige Beschäftigung mit Kunst und Musik fördert die Intelligenz. Man kann gar nicht früh genug damit anfangen. Kunst ist Luxus und so notwendig wie das liebe Brot.
      Schon die ersten Künstler setzten aus eigener - innerer - Sicht Weltpartikel zu interpretierbaren Welten zusammen und ließen diese wiederum in die Welt wirken. Letztendlich macht das Gehirn eines Menschen mit den eingegangenen Informationen ja eben das: Es führt Getrenntes zusammen, integriert und kombiniert Wissensbereiche und Denkweisen. Mit dem „ersten“ Symbol - ein Handabdruck an der Höhlenwand - und der „ersten“ Metapher - einem Mischwesen aus Tier und Mensch beispielsweise - war das Niegesehene, das Bild, die Kunst in der Welt.

Nach Paul Klee reproduziert die Kunst nicht, was sichtbar ist - "sie macht sichtbar." Was da sichtbar wird, ist freilich öfter mehr und anderes, als in der Intention des Künstler gelegen hat. Das Werk ist klüger als der Autor, zumal wenn der gut ist. Kunst ist ein Prozeß, an dem die Sinne, die Hände, der Körper und selbst noch das Material beteiligt sind. Anders als die heute übliche Erwerbsarbeit zerlegt künstlerische Arbeit den Menschen nicht in seine Funktionen, sondern braucht ihn im Ganzen: alle seine Fähigkeiten, sein Wissen, sein Denken, seine Erinnerungen, sein Begehren. Selbst seine Seele, wenn er eine haben sollte. Kunst gibt es nur, wenn die Kunst reichlich bekommt. In der Arbeit des Künstlers denken die Sinne, die Hände, der Körper. Kunst ist unentfremdete Arbeit, nah am Spiel und nah an dem, was in uns klagt und jauchzt. Ihre Antworten sind vorläufig und altern nur langsam. So wirkt Kunst auf den Betrachter unmittelbar: Es ist seine Sache, die da verhandelt wird.
      Kunst ist Praxis, eine Praxis, die Theorie(n) nach sich zieht wie die Unachtsamkeit des Spaziergängers die Hundescheiße an den Hacken. Die diversen Theorien und Ismen geben bestenfalls ein Leitseil oder dienen als Strick, sich dran zu hängen. Kunst bewegt sich nicht auf dem Gebiet des Vorgewußten, der Anwendung bestimmter ästhetischer Gesetze und Theorien. Sie bewegt sich in unbekanntem Gelände, auf dem Gebiet der Entdeckungen, und, wie der griechische Dichter Jannis Ritsos einmal formuliert hat: „laßt mich das große Wort aussprechen - auf dem Gebiet der Offenbarung“. Künstler sind notwendig Autodidakten. An den Akademien werden sie jedenfalls nicht gemacht.
      Kunst verändert im Austausch die Wahrnehmung und das Bewußtsein. Kunst vermittelt Erfahrungen, die anders nicht zu haben sind. Kunst ist eine Erfahrung, die der Künstler macht und der Betrachter. Kunst ist Magie und Magie hat ihren Zweck und Auftrag, Gründe wie Folgen. Sich mit dem Teufel oder dem menschlichen Geist ins Benehmen zu setzen, mit der äußeren und inneren Welt, mit Natur und Übernatur, ist die Kunst der rechte Ort.
      Einen überflüssig aufgeblasenen Betrieb am Laufen zu halten, ist die Kunst jedenfalls nicht da, und auch nicht um einen Markt zu bedienen, sondern einzig um ihr Schönes in die Welt zu stellen und gegen sie, das Niegesehene, das Wunderbare - . „Das Wunderbare ist immer schön, so unwirklich es auch sei, es ist schön, denn es ist sogar nur das Wunderbare schön.“, formulierte André Breton diesen Anspruch. Kunst, auch das wird wieder zu lernen sein, ist Opposition im Sinne von Gegenwelt, schon wenn’s um Belang geht: zwangsläufig. Mit den politischen Ansichten der Künstler hat das wenig zu tun, und noch weniger mit der unlauteren Forderung nach dem politisch oder sonstwie außerhalb der Künste Engagierten. „Die guten Dichter“, sagt William Blake, „sind auf der Seite des Teufels“. Für die Kunst gilt eben das. Wo der Teufel seinen Ort hat, ist bekannt - in den Widersprüchen - und auch was der dort treibt: Fug nämlich.

Im Begriff Kunststadt steckt eine Utopie. Man stelle sich eine Stadt vor, deren Einwohner selbstverständlich mit den Künsten lebten, oder wenigstens etliches an Lebenszeit aufbrächten, ihre Kunstinteressen zu befriedigen, aktiv und passiv. Eine Stadt, in der die Künste nicht beiläufiger Schmuck und Sonntagszitat, sondern Rausch- und Erkenntnismittel wären, Abenteuer und ein selbstverständlicher Teil des Lebens wie des Glücks. Eine Stadt ohne Identitätsdruck und frei von Darstellungsproblemen, tolerant, aber nicht im mindesten gleichgültig; mit sich und der Welt im Gespräch über Sprache und Technik, Harmonie und Widersprüche, Bilder und Klänge. Die ständig an ihrer gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen, künstlerischen Alphabetisierung arbeitet, Konflikte aushält und Ungerechtigkeit nicht erträgt - nirgendwo. Kurzum: eine gebildete Stadt. Das klingt doch eigentlich sehr vernünftig.
      Ist Dresden nun Kunststadt? Unter anderem, ja. Besser: neben den anderen. In der Stadt steckt ein kleines, vielfach fragmentiertes Gemeinwesen, das man wohl Kunststadt nennen kann. Wie alle Utopien ist auch diese nicht ohne Schrecken...

Dresden zu fotografieren ist oft versucht worden. Aber Dresden läßt sich so wenig fotografieren wie irgend ein Mensch. Keine Fotografie faßt die Stadt. Und auch alle Fotografien, die je in ihr gemacht worden sind, fassen sie nicht. Entsprechend ist das Dresden der Fotografien immer eine Reduktion und ein ungeheures, nicht zu beendendes Puzzle. Kluge Fotografen wissen das und fotografieren in Dresden Dresden: die Stadt in der Mehrzahl.
      Zu sehen bekommt der Betrachter freilich fast immer eine bestimmte Auswahl und einen bestimmten Ausschnitt - das Dresden der Vorstellung, in aller Regel also das Dresden der Sehenswürdigkeiten, das wiedererkennbare Dresden der Postkarten. Aber auch das ist ein weites Feld.
      Irgendwann vor 1909 fotografierte beispielsweise ein unbekannter Fotograf im Auftrage des Verlages J. Karlebach, Dresden A9, die berühmte Stadtsilhouette Dresdens vom linken Elbufer aus. Sein Standort dürfte das Dach eines Gebäudes am heutigen Käthe-Kollwitz-Ufer gewesen sein, vielleicht die 1945 zerstörte Kaserne am Sachsenplatz, was auch den Titel der Aufnahme allenfalls rechtfertigen würde: Blick vom Sachsenplatz. Die Aufnahme zeigt im Hintergrund die im Dunst verschwimmenden Lößnitzhänge und vor ihnen die Abfolge der Altstadtbauten von der Semperoper bis zur Frauenkirche. Rechts davon schließt das Bild mit einem der Neustädter Ministerien, mit der heutigen Staatskanzlei. Dieser Teil entspricht in etwa wieder derzeitiger Ansicht. Im Mittelgrund hat die Elbe ihren Bogen im Gehege dreier Brücken, deren mittlere 1945 gesprengt und später überdimensioniert aus Beton neu errichtet wurde. Den Vordergrund schneidet links ein Stück Straße und eine Doppelreihe kleiner Bäume. Dahinter beginnt ein tiefer liegendes Gelände, das bis zur Elbe reicht.
      Dieses Gelände war nicht das, was der unbekannte Fotograf unbedingt auf dem Bild haben wollte: Es war nur nicht anders zu machen. Heute sind es dieser Platz und die ins Bild geratenen Stücken vergangenen Lebens, die vor allem interessieren: Die ordentlich geschichteten Kohlehaufen und Steinstapel, die Fachwerkbaracke, die allenthalben herumstehenden Fuhrwerke, die zwei dösenden Pferde und der eine einsame Arbeiter, der gerade über den Platz geht. Ein Dampfer verschwindet eben rechterhand stromauf - man sieht nur noch das Heck - ein zweiter entfernt sich stromab und ein dritter liegt vor dem Belvedere und läßt den Schornstein rauchen. Auf der Albertbrücke fahren eine offene Kutsche und eine kleine elektrische Straßenbahn. Sechs Fußgänger haben es eilig, auf die Neustädter Seite zu kommen, einer läuft gemessen in die Gegenrichtung, einer bummelt und einer schaut in den Fluß. Den Schatten nach geurteilt ist es Mittag, die Wolken lassen für den Abend ein Gewitter erwarten. Für welchen Abend? Seit fast hundert Jahren verharrt im Bild das Jetzt. Der Arbeiter ist weitergegangen, vielleicht zu den wartenden Pferden. Ob er seine Frau schlug oder mehr liebte als seine Rösser, ob er im kommenden Krieg gefallen und seine Kinder im nächsten, ob er 1932 zu den 33% Dresdner NSDAP-Wählern gehört oder zu deren Gegnern, was er dachte, fühlte, hoffte - wir wissen es nicht. Sicher ist nur das Pflaster, das er trat. Es liegt heut noch an Ort und Stelle.

Fotos scheinen interessenlos unschuldig und damit besser geeignet als jedes andere Verfahren, sich und anderen ein reales Bild zu machen. Aber das stimmt nicht. Man sieht, was man kennt und nur selten mehr als das. Das gilt für den Betrachter und ebenso für den Fotografen, der ja meist mit seiner ganzen Persönlichkeit hinter der Kamera steht, mit seinen Vorstellungen und Annahmen, der Absichten hat oder einen Auftrag und Wünsche hegt. Das gilt auch für den, der sich selbst zur größtmöglichen Neutralität verpflichtet und die abzubildende Realität nur zu spiegeln beabsichtigt. Über seinen Schatten springt niemand, also auch nicht der Fotograf: Er dreht sich im Licht.
      Schon das Interesse des Fotografen wertet die Dinge auf, macht sie interessant und temporär respektabel für andere. Man könnte den Fotografen demnach einen Agenten des Interesses nennen oder auch einen Agent provokateur. Wird ein Mensch ins Reich des bleibenden Papiers aufgenommen, wird's noch problematischer. Der Mensch auf dem Foto ist schön - Fotos machen schön - oder wenigstens interessant, bedeutend (usw.) und, ist nur genug Zeit vergangen, auch fremd, lächerlich, ja unwirklich. Die Person, den Ort, das Ding? Oder nur das Abbild? Die Zeit des Fotografen und die des Betrachters verstärkt diesen Effekt oder schwächt ihn ab, wertet um oder entwertet, verschiebt den Blick. Fotografien von Dingen, Bauten, Städten bleiben wohl grundsätzlich interessant, auch wenn das Interesse mit der Zeit zu wandern beginnt. Die Visitporträts der Urgroßeltern kamen schon den Enkeln reichlich seltsam vor.
      Fotos liefern Informationen, Bildmaterial, das sich benutzen läßt, u. a. zur erkennungsdienstlichen Behandlung der Wirklichkeit, als Beweisstück, zum Beleg eines Geschehens, das nicht unbedingt ein Verbrechen, zur Dokumentation eines Lebens, das nicht unbedingt ein Leben gewesen sein muß und schon gar nicht dieses. Sie beglaubigen als Realitätsfragment einen Ausschnitt und eine Annahme von Realität.
      Fotografieren heißt zugreifen, sich das Objekt zu eigen machen, aneignen. Diese Aneignung ist freilich heikel; was Fotograf und Betrachter davontragen, ist das Abbild vergangenen Geschehens, vergangener Zustände, eigentlich: vergangenen Aussehens, bestimmt vom Können des Fotografen, von der gewählten Seite, vom Ausschnitt und vom Licht. Das Foto ist ein extrem schmaler Ausschnitt von Raum und von Zeit: ein abgebildeter Moment. Was vordem war, ist im Foto wohl enthalten, aber selten sichtbar. Was danach kommt oder gekommen ist, weiß das Foto nicht. Weiß es der Betrachter, verändert das seinen Blick.
      Jede Fotografie ist Fragment, dessen Verknüpfung mit der Realität dem Wandel unterliegt, bis zur völligen Ablösung. Die Dinge mögen sich gleich oder wenigstens ähnlich geblieben sein, die Auffassung von und die Sicht auf die Dinge verändern sich ständig. Fotografien sind Zitate, Augenblickszitate; Fotografien liefern „Augenblicksgeschichte, Augenblickssoziologie, Augenblicksteilnahme“ (Susan Sontag). Ihr Anspruch an den Betrachter bleibt dabei durchaus absolut - das da ist Erna, die Hofkirche, Dresden, die Realität - jedenfalls solange der Blick des Betrachters auf ihnen haftet.
      Ihr Anspruch: Eine Aufnahme spricht eher selten für sich selbst. Ein nackter Körper, ein Gesicht, Bäume und Häuser sind was sie sind. Hermine, die Hofkirche, Dresden sind es erst, wenn der Betrachter von ihnen weiß. Wenn er Dresden schon einmal gesehen hat oder wenn man’s ihm sagt: das da ist Gottes Raumschiff, 1738 - 1756 am Standort Dresden montiert nach Plänen von Chiaveri. Und die Süße da heißt Hermine. Hieß: Als das Foto gemacht wurde, war sie ungefähr zwanzig und das ist jetzt rund 90 Jahre her. Der Name steht hinten drauf, mit Bleistift geschrieben. Vielleicht hieß sie auch gar nicht so, sondern Erna, und war die längste Zeit ihres Lebens ein fürchterlicher Drachen. „Fotografieren“ sagt Susan Sonntag, „heißt die Sterblichkeit inventarisieren.“

Eine Fotografie des Dresdner Fotografen Helmut Schulze zeigt ein Stück graue Fassade und zwei Tafeln in Rotweiß und dunklem Rotbraun. In der rechten Hälfte des Hochformats steht die Hauswand nah am Fotografen und reicht vom Kellersockel bis an den Sims unterm 1. Obergeschoß. In der linken Bildhälfte weicht sie rasant zurück und verkürzt sich perspektivisch. Soweit man sehen kann, ist die Fassade aus Sandstein gemacht und durch tiefe Fugen in Blöcke geschieden, ganz als wäre sie aus ihnen gemauert. Dies und ein vom oberen Bildrand angeschnittenes Schmuckelement – ein Rollbeschlag und ein daraufliegendes Akanthusblatt, gleichfalls in Sandstein – verweisen das Gebäude recht zuverlässig ins späte 19. Jahrhundert.
      Die Tafeln dominieren jeweils eine Fassadenfläche. Die linke ragt frei in den Raum, scheint aus opakem Kunststoff gefertigt und ist eher Kasten als Tafel. War vielmehr, da sie so zerstört ist, daß durch sie hindurch und die eigentlich verdeckte Fassade gesehen werden kann. Ihr Rot ist eben noch ein Rahmen, auf ihrem Weiß steht in schwarzen Buchstaben das Wort West zu lesen. Die rechte Tafel ist in ihrem Metallrahmen an der Wand befestigt, sie scheint aus Glas und glänzt, als wäre sie eben poliert worden. Ihre gelbweißen Buchstaben ergeben die Worte Spirituosen, Sekt und Wein, und in ihrer gesamten Fläche spiegelt sie: einen Baum, vier Autos, zwei Passanten, die Fassaden zweier Häuser aus der Gründerzeit und ein Stück Himmel. Das Blau des Himmels schaut nach Abend, seine Wolken sehen nach Sommer aus.
      Das heftige Rot des Reklamekastens der Firma West reißt ein Loch ins gelbliche Grau der Fassade. Ins Rot wiederum ist ein Loch geschlagen, eine Antwort, die wieder eine Frage ist. Wer und warum? Die Aufnahme zeigt Farben, Struktur, den Gegensatz, zwei Löcher. Beide Löcher haben mit Wegnahme zu tun, beide stören. Ein Stein flog und traf mit der Zigarettenwerbung anderes: Ein Zeichen, ein grobes Vergehen am Ortsgeist, eine ästhetische Zumutung, ein Gesundheitsrisiko. Wer warf den Stein, wenn es ein Stein war? Wir wissen es nicht. Denken läßt sich ja immerhin auch ein Vogel, nah am Wahnsinn oder schon mittendrin - mit dem Kopf kommt man gut durch die Wand. Denken ließe sich fürs Jahr 98 oder auch 2004 ein junger Mann, dem die Liebste den Laufpaß und das Bier nicht genug Trost gegeben hat.
      Die Aufnahme fügt zum ersten Befund weitere Indizien. Die Autos im Spiegel sind identifizierbar als Lada, Trabant, W 50, dürften also spätestens im Mai 1990 gebaut worden sein. Nimmt man die Lupe zu Hilfe, lassen sich an zwei der Fahrzeuge die Nummernschilder erkennen, wenn auch nicht lesen. Beide scheinen aber noch aus der DDR zu stammen. Auch wenn damit noch immer nichts zu beweisen wäre, so ist damit doch ein Aufnahmedatum irgendwann im Sommer 1990 wahrscheinlich. Die Zerstörung der einen wie die demonstrative Schonung der anderen Tafel meinte demnach – wahrscheinlich – ein Symbol und war – vermutlich - selbst ein symbolischer Akt (Gegen ein Symbol der Landnahme, ein Besitzzeichen, ein Herrschaftszeichen, gegen das Neue ganz allgemein, den Fortschritt oder eine seiner Grimassen, gegen die Werbeindustrie, die Bundesrepublik Deutschland, die Zeitstimmung, den Konsumismus, gegen das Ende einer Hoffnung, den fatalen Glauben an Wunder oder auch nur das heftige Rot und das Wörtchen West.... ).

Die 90er Jahre haben Dresden verändert. Farblich vor allem und im Straßenbild. Schaut man sich Fotografien aus den frühen 90ern an – die meisten der Aufnahmen in diesem Band stammen aus dieser Zeit – fällt das sofort auf, desgleichen wenn man seine Erinnerung an die 90er und mehr noch, wenn man sie nach den 80er Jahren befragt. Häuser sind verschwunden und andere hinzugekommen, an die Stelle früherer Bauten oder auf einer der reichlich vorhandenen Brachen. Die 90er sind so lang noch nicht her, aber es fällt schon jetzt schwer, sich vergangener Zustände zu versichern. Vor allem die Wiederbebauung freier oder provisorisch genutzter Fläche verändert Straßen und mehr noch Plätze radikal. Im guten wie im bösen und öfter in beidem zugleich: Einiges an Neubau steht zumindest als Baukörper am rechten Ort, stellt Situationen wieder her und verwächst langsam mit der Umgebung. Anderes steht unverbunden in der Gegend, mit brutal ausgefahrenen Ellenbogen sozusagen, als hätten Bauherr & Architekt ums Verrecken keinen anderen Weg finden können, der Stadt und ihren Bewohnern ihre Mißachtung zu zeigen: Scheiß auf Dresden. Vielleicht noch schlimmer sind die Baumarktregale an historischem Ort, die den Ortsgeist noch nicht einmal zu verneinen in der Lage sind, dieser Faselbeton, der überall stehen könnte und nirgendwo hingehört, weder nach Peitz noch nach Peking.
      Dresden war in den 80ern eine graue Stadt. Grau ist ungeheuer reich an Nuancen, aber natürlich nicht jedermanns Sache. Überwiegt der Verfall die Würde des Alterns und im Patina der Schmutz, dann wirkt Grau deprimierend. Dresden war in den späten 80ern u.a. auch daher eine deprimierende Stadt. Heute sind die Dächer der meisten Häuser frisch eingedeckt und die Fassaden gestrichen, abgewaschen oder mit Sand gestrahlt, und sehen etliche der sanierten Gründerkästen neuer aus, als sie je waren. Ein Blick in die Fotografie der eigentlichen Bauzeit - so bei August Kotzsch - ist da sehr lehrreich. Grau ist der Häuser natürlicher Teint, zumindest solange es regnet und schneit, aus Schornsteinen und Auspuffrohren Rauch entweicht, die Nöte und Hoffnungen hiesiger Menschheit in Mauerwerk siedeln. Natürlich ist die Illusionsmalerei auf den gelben Wänden der verbliebenen barocken Substanz gut fürs Auge und eine echte Wiederherstellung, ein Nachvollzug des seinerzeit so auch gemeinten. Und auch gegen das Weiß im Stadtbild ist nur einzuwenden, daß mit ihm auch drei bis vier Winter hätten simuliert werden können und daß Häuser keine Kühlschränke sind oder wenigstens sein sollten.

Die 90er Jahre begannen in Dresden und der übrigen DDR im Herbst 1989 mit einer Politisierung vieler, die im Namen noch nicht näher definierter Veränderung erst Massen zusammenführte und dann in Vereinigungen, Gruppen und Grüppchen fragmentierte. Dem Wegbrechen des Staates DDR folgten ein euphorischer Frühling der Illusionen und ein kurzer, schöner Sommer der Anarchie. Freilich, das Straßenfest, das nach dem Rückzug der Staatsmacht ausgebrochen war, hatte da schon viel von seinem Charme und von seiner Spontaneität verloren: Spätestens mit dem Dezember 1989 hatte sich die Bewegung ausdifferenziert und gaben Politiker und Medien wieder Grundton und Richtung vor. Trotzdem, das Jahr 90 war großartig, schon weil die Zeit ausdauernd verrückt spielte. Allein der Januar dauerte ein halbes Jahr - die Tage waren so lang - und zog einen Februar nach sich und einen März, die kaum nachstanden.
      Nach der Währungsunion, dem Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie und mit dem Eintritt der Fünf Neuen Länder in die Bundesrepublik Deutschland, begann für die Ostdeutschen ein anderer, ein fremder, ein zu erlernender Alltag: eine Zeit der Beschleunigung, des Wechsels, des teils dramatischen Wandels und der mehr oder minder schnellen Wandlungen. Häuser und ganze Stadtteile wechselten Bewohner und Besitzer. Läden und Parteien wechselten ihre Auslagen, verließen ihren Standort und ihr Dasein. Der Autos wurden es deutlich mehr und der Kinder ebenso deutlich weniger. Menschen wechselten ihre Kleidung, ihren Partner, ihre Überzeugungen und, wenn nötig, auch ihre Erinnerungen.
      „Wie schon 1848 sollte der Moment der Freiheit und Wahrheit leider nicht lange währen. Die Politik und Ämter der Staatslenker gingen an jene zurück, die diese Funktionen im Normalfall überall übernehmen. Die ad hoc gegründeten Fronten und Bürgerforen lösten sich ebenso schnell wieder auf, wie sie entstanden waren.“ Was der große Historiker Eric Hobsbawm da formuliert hat, stimmt als historischer Befund, wird der Lebenswirklichkeit aber nicht ganz gerecht. Einmal in der Welt, wirkten Schwung und Einsicht und Illusionen des 89er Oktober weiter. Die aufgebauten Formen der Beteiligung, der Einmischung in eigener Sache, die noch existierenden Bürgerforen wieder abzubauen und das Bedürfnis nach ihnen weitgehend wieder zu verschütten, haben die 90er Jahre gerade ausgereicht.

Kant hätte diesen Satz wohl als Beispiel selbstverschuldeter Unmündigkeit gelten lassen: „Vierzig Jahre nur belogen und betrogen...“ Ende 89, Anfang 90 war diese Ansage in Dresden (und auch sonst) häufig zu hören: „Vierzisch Jahre nur beloochen und betroochen...“ Für Selbstachtung, Mut und Mündigkeit sprach das nicht, sondern eher für deren Gegenteil, und auch nicht für eine Selbstbefreiung, die der Herbst 89 für viele andere tatsächlich war. Dafür ergänzte sich dieser Satz aber gut mit der fast kompletten Entwertung der Lebensleistung mehrerer Generationen, die in den überregionalen Medien für etliche Jahre gern erfüllte Pflicht und in der Politik routiniert betriebenes Geschäft wurde.
      Aus gegebenem Anlaß. Schließlich war der Beitritt nicht nur mit der Teilhabe der Ostdeutschen an Grundgesetz und Rechtsstaat, sondern auch mit einer massiven Eigentumsübertragung von Ost nach West und einem radikalen Elitenaustausch in umgekehrter Richtung verbunden. So gelangten zum Beispiel 95 Prozent der Firmenvermögen, die von der Treuhand privatisiert wurden in die Hände westdeutscher Kapitaleigner. Ähnlich schaut es bei der Verteilung von Immobilien, Vermögen, Besitzständen aus und mit der Repräsentanz der ostdeutschen Bevölkerung im Parteien-, Verbände-, Wissenschafts-, Forschungs-, Medien-, und Sportsystem Deutschland. Der Anteil der Ostdeutschen an der bundesdeutschen Funktionselite lag 1998 in der Wirtschaft und beim Militär bei null, in der Verwaltung und der Justiz bei drei, im Wissenschaftsbetrieb bei sieben Prozent.
      Anders, als gern behauptet, war in Ostdeutschland nicht nur Schrott zu beräumen, sondern auch gut Beute zu machen. Charme hatte das nun gar nicht mehr und auch an Würde, gar Größe war in diesem Prozeß wenig zu finden. Schade eigentlich. Aber Verteilungskämpfe sind so. Dort, wo die Einsichten vom Jahr 89 her, Beteiligung und Teilhabe verschüttet liegen, liegt auch eine große Kränkung. Wie und bei welcher Gelegenheit, in welcher Gestalt das wieder hochkommen wird, ist offen. Das Ob ist keine Frage.

Das furchtbar zerstörte Dresden ist von den Dresdnern wieder aufgebaut worden; besser: wieder bewohnbar gemacht und in Teilen neu errichtet. Wieder aufgebaut: das trifft den Vorgang ja nur zum Teil. Wieder aufgebaut wurden der Zwinger, die Semperoper, die Dreikönigskirche und neuerdings die Frauenkirche und Wiederaufbau meint auch nur den gleichen Ort und die annähernd gleiche Gestalt. (Gewonnen ist damit viel und wieder gut gemacht ist damit nichts, auch wenn diese Vorstellung als Trostkrücke beim Weiterleben half und wahrscheinlich notwendig war... )
      Eh an „Aufbau“ überhaupt zu denken ging, mußten die ungeheuren Trümmermengen abgetragen und sortiert werden, mit bloßen Händen zumeist. Was noch brauchbar war an Ziegeln, Dachblech, Holz wurde herausgebrochen, herausgezogen, abgeputzt und glattgehämmert, zugeschnitten; der verbliebene Schutt war abzufahren und liegt als Hellerberg im Dresdner Norden. Bewachsen mittlerweile mit Bäumen, die in vergessener Erinnerung wurzeln, im Geruch nach Feuer und Tod. Was an Ruinen und Ruinenstümpfen noch stand, wurde teils niedergerissen, teils wieder zusammengeflickt, provisorisch gesichert und abgedichtet - für Jahrzehnte, wie sich herausstellen sollte.
      Die fehlenden Häuser wurden über einen längeren Zeitraum neu errichtet, einfach zumeist und selten schön, an neu angelegten und viel zu breiten Straßen und selten in ausreichender Zahl, sehr hell und überdies betont funktional. Wenn etwas nur funktional ist bzw. sein soll, leidet die Funktion erheblich. Die ersten Neubauten sollten denn auch mehr sein als Wohnanlagen. Später ist man davon abgekommen, der Fachbegriff lautet wohl Sachzwang, die Krankheit ist alt.
      Trotz aller Mängel bleibt Dresdens Aufbau im kalten Nachkrieg eine Leistung wie der Aufbau von Hamburg beispielsweise, von Kiel und Darmstadt. Es ist heutzutage üblich geworden, über diese Leistung die Nase zu rümpfen. Man muß dazu freilich das Herz haben und den entsprechenden Verstand.

Dresden in der Mehrzahl: ist es zu fassen? Es gibt das Dresden der Fassaden, die vielfach gebrochene Oberfläche, die schönen und die zerbrochenen Räume, die Gruppenbilder mit Turm und Kuppel und die Himmel darüber - tagtäglich ein anderes Stück. Es gibt das Dresden der Jungen und der Alten, das geliebte Dresden, das gehaßte, geschmähte, das Dresden der täglichen Verrichtungen, der Arbeitswege und - selten, wie immer - das Dresden der Offenbarungen. Es gibt das Dresden der Steine: Ein jeder lag schon einmal in jemandes Hand. Es gibt das Dresden des polierten Glases, der drohenden Spiegel und der Spiegel, die geweint haben. Es gibt das Dresden der Friedhöfe, der verschütteten Keller, der verschollenen Knochen, der Scherben im Erdreich. Es gibt das Dresden der Schwalben, der Biber, der Hunde und Katzen, der Ratten und Fledermäuse, der Turmfalken und der Krähen. Es gibt das Dresden der Auto- und Straßenbahnfahrer - vorn das des Einzelnen allein und hinten das der vielen allein, von A nach B unterwegs; die gepanzerten Gesichter im Irgendwo. Es gibt das Dresden der Trinker, der Ärzte, der Polizisten, der Einbrecher, der Sammler von Dresdensia und der Liebhaber gut gebutterter Napfkuchen, das riesige Dresden kleiner Kinder und das kleinste von allen, das Dresden der Oberbürgermeister. Es gibt das Dresden der Rechtschaffenen, Rechttuenden, der Rechtmeinenden, der Rechthaber, die sagen „Es ist ganz einfach“ und werden nicht rot dabei. Es gibt Verkäufer und Käufer und das käufliche Dresden, entzogene Landschaft und gestohlenes Licht. Es gibt die hirnbespritzten Mauern des Geldes und Verdienste, die nach Schlägen schreien.
      Es gibt das beschreib- und abbildbare Dresden der Obdachlosen - Wege, Notlager, Aufenthaltsorte - und das Dresden der frisch Verliebten, das sich weder beschreiben noch abbilden läßt.
      Es gibt Dresden im Kopf jedes Dresdners, rund 480 000 mal eine glückliche Stadt und eine unglückliche, einen Ort der Sorge und des Zufalls, der Verheißung, der Hoffnung, des Begehrens und der Erinnerung. Es gibt Dresden als Tanzplatz und Kulisse, als Tunnel und Brachfeld, als Acker und Gebirge, als Bild und Projektion. Und es gibt jene eigene, heimliche Traurigkeit jeder Stadt, in der man gealtert ist, aufs nächste und übernächste, aufs letzte Alter zu. Aber Dresden hat kein Ende. (2004)

zurück