Eine kurze Geschichte des Rinderwahns

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Wann immer die erste Begegnung stattgefunden hat, von 35.000 Jahren in Europa oder im immer noch kühlen Norden Afrikas, 60.000 Jahre vordem, an einem Nachmittag gegen fünf oder des morgens: Sie kann nur schrecklich gewesen sein. Nachtschwarz brach das Tier aus dem Schilf, groß wie ein Berg, die langen Hörnern gesenkt, sehr schnell und sehr böse. Es hatte glühende Augen, groß wie der Mond, Rauch vor dem Maul und brüllte. Wer den Absprung nicht schaffte, seitwärts in die Büsche oder aufwärts ins Geäst, der hatte am Abend nichts mehr zu erzählen und erst recht keinen Plan: Niemals von vorn, nurmehr von hinten und immer vorsichtig!
In der menschlichen Evolution hat der Auerochse jedenfalls gewirkt und gleichfalls in der Phantasie: "Das Tier sieht einem Pferde ähnlich, doch es ist furchtgebietend und unbesiegbar. Zwischen den Ohren trägt es ein riesiges Horn. Sein Körper ist braun, und im Horn liegt seine ganze Kraft. Wird es gejagt, so rast es auf einen Berg, von wo es sich herabstürzt und das Horn einbüßt. Es lebt allein und wird 532 Jahre alt. Wenn es sein Horn am Meeresufer abwirft, wächst aus ihm ein Wurm; daraus wird ein Einhorn. Ein altes Tier ohne Horn ist schwach und verlassen und stirbt." Desgleichen ein Mensch, der nicht flink und gerissen, immer mit dem Maul vornweg, sich fädelt...
Irgendwann um 6.000 vor der Zeit fanden sie dann zusammen, der Mensch und sein Rind. Nicht ohne Arg, aber das versteht sich selbstredend, anders sind feindliche Übernahmen nicht zu haben. Sagen wir: In einer Art schrägen Symbiose und auf der Basis tellergroßer Steaks, extraordinärer Misthaufen und rollender Käse, über denen ein wackliger Überbau dehnbarer Projektionen zu stehen kam. Unter dem, das versteht sich, war nichts zu machen, das heißt: Nur unter dem ließ es sich gut sein, aushalten und Hütten bauen, eine immer größer als die andere.
Stier wollte er fortan sein, der nackte Affe, und trotzdem kein Rindvieh, satt und zufrieden und trotzdem kein Ochs. Mit dem Vieh lernte er zählen: Ein Schwanz, zwei Hörner, vier Beine, sechs Eier, acht Hufe, neun Dung, viel Blut... Und rechnen: Sechs Schwänze sind sechs Bräute, geben viel Weisheit, Sitz als auch Stimme; bei Trockenheit aber nur drei und einen Stehplatz im Rande, nehmen wir Acker zu anderthalb Joch...
Eh es sich versah, stand das Rind in seinem Fliegenschwarm als Potenz schlechthin, für sein und haben, als eine frühe Form des Geldes in der Gegend, war Privateigentum und widersprüchliches Modell - unter anderem für Staat und Kirche und noch an der Bahre des Parlamentarismus Pate, gut dialektisch: Eine Wiedervorlage folgt der nächsten und wichtig ist, was hinten rauskommt.
Konnte das gut gehen? Die Frage stellen, heißt sie beantworten. Wieso der, und ich nicht, fragte Kain, bekam seinen Bescheid und schlug zu. Hin und wieder und immer öfter; immer zu spät oder zu früh. Die Landwirtschaft, einmal in Gang gesetzt, blieb Segen und Fluch zugleich, Machtbasis und Plage; das Fleisch - Besitz und Verteilung - Gradmesser des Wohlstands, Vehikel der Gesundheit, Prestige auf dem Teller. Anders als ihren Vorfahren, den Jägern und Gejagten, ging es den Bauern dabei eher schlecht. Einseitig, fehl- bis unterernährt, überzogen mit Krieg und geplagt von Seuchen, vermehrten sie die Menschheit immer wieder bis hart an die Grenzen des gerade noch Möglichen und darüber hinaus. Was sie an Zahl zunahmen, büßten sie an Größe ein, was sie an Kraft und Gesundheit verloren, ersetzten sie durch Spezialisierung und Organisation, Arbeitsteilung und soziale Spaltung, Technologie und Wissenschaft, Fleiß und Industrie.
Der Prozess ist weiter im Gange, auch wenn der jetzt anders aussieht. Rinderwahnsinn? Das Wort hat viel Wahrheit. Aber ach, wäre es nur so einfach, ein paar verrückte Kühe und gut... (Gregor Kunz, 2001)

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