Blau ist die Farbe zwischen Rot und Gelb

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Blau, so will es die Sprache und ihr Gegenstand selbst, ist ein weites Feld changierender Bedeutung. Blau ist die Farbe zwischen Rot und Gelb, hat seine Wortwurzel nahe der Dunkelheit, beim Schmerz, den Spuren der Schläge, und im Blick gefährdete Klarsicht. Blau, so will es das Rotwelsch, bezeichnet eine Fehlstelle, eine Regelabweichung, eine Verneinung als auch eine Bejahung: Den Treffer, das Treffen. Die blaue Bohne ist tödlich und die blaue Stunde Zusammentreffen wie Ausgang, unwirklich wirklich, gleichviel.
Rotwelsch ist die Sprache der Vaganten, der Abgedrängten, des Draußen, Kochemer-loschen, die Sprache der Kundigen. Zum einen sprachen es Räuber, Diebe, Bettler und Gauner aller Art, zum anderen aber auch wandernde Handwerker, Soldaten und Studenten in eigener Verwendung. Das Rotwelsch benutzte die jeweils übliche Grammatik, hatte aber einen eigenen Wortschatz, entlehnt überwiegend aus dem Hebräischen und dem Jiddischen. Mit der Industrialisierung zog das Rotwelsch in die großen Städte und verschwand in Alltags- und Umgangssprachen, in denen es seither fortlebt, sein heimliches Wesen treibt.
Die Sprache nämlich denkt mit. Und wer weiß, dass Ganef einen Dieb meinte und Pinkel Ekel ausdrückte, der denkt auch über das Feine anders, als, sagen wir, so ein dämlicher Damian, dem Bartel ein Name und Most nichts als Getränk ist. Wo Bartel - das Diebseisen - den Most wirklich geholt hat, ist das Moos dann auch richtig beim Teufel und die Polizei überfordert.
Blau also, von b'lo oder b'law... Ist wer Blau, dann fehlt ihm etwas, das Gleichgewicht beispielsweise, der Verstand oder eine Erinnerung, wie dem Meister die Gesellen fehlen, ist der Montag nur blau genug. Aber nicht nur: Er hat auch etwas, den Wein, in dem eine - nicht die - Wahrheit liegt, frei flutet und bisweilen auch steht. Was den blauen Montag angeht, so war der einmal schlicht frei und hieß auch der tolle und der gute Montag. Die blauen Noten haben ihren Platz da, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben und den Besuch einer Bar gleichen Namens als Auszeit zu nehmen, geht an. Baggern und träumen - ins Blaue hinein - so weit ist das gar nicht voneinander weg, zumal wenn beides im blauen Dunst zusammenkommt, dem der Zigaretten und dem der unentwegt rollenden Worte, sich trifft in blauen Wundern oder Seltsamkeiten... Nun ja, blaue Seiten hat ein jeder, besser man weiß das und hält sie zusammen. Ich ist, was in den Lebensprozessen nicht verloren ging.
In der blauen Stunde liegen ein scharfsichtiger Schlaf und ein eigenes, sensibles Wachsein nah beieinander, sind die Lücken zwischen den Stühlen und den Stimmen überbrückt und gleichwohl offen, bereit für die Akzeptanz des Unbekannten. Offenbart sich in der blauen Stunde Absicht? Die Absicht eines Zufalls? Nach Octavio Paz ist der Zufall "nur eine der Formen, in denen sich eine Absicht bekundet, die unser Fassungsvermögen übersteigt. Wir wissen nichts oder fast nichts von dieser Absicht, außer daß sie Macht über uns ausübt." Besser wissen wir es auch nicht. Eins aber scheint sicher zu sein: In der blauen Stunde findet sich diese potentielle Macht in schöner, gar reiner Form. Blaue Stunden sind Stunden der Dichtung und der Magie, der meditativen Offenbarung, der Offenheit, des Vertrautwerden... Es ist schon seltsam, mit den Worten hat das gar nicht so viel zu tun. So wie alte Paare, die sich gut kennen, sich ohne Worte verständigen, so sprechen Menschen im Beginn einer Freundschaft, wenn sie sich kennenlernen und anfangen zu lieben - bei aller Offenheit, Anteilname - mit mehr und mit anderem als den Worten.
Natürlich sind die blauen Stunden begrenzt wie andere Stunden auch. Ist ihr vagabundierendes Zeitmaß abgelaufen, enden sie. Aber es bleibt davon etwas zurück: Man hört es, wenn man in den Spiegel schaut, man liest es in den Gesichtern. Mehr davon. (Gregor Kunz, 2001)

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