Zwerge sind schwer zu
fassen. Niemand weiß, woher sie kamen und angeblich weiß auch niemand,
wo sie geblieben sind. Aber auch sonst weiß man wenig über sie.
Nach den Gebrüdern Grimm wohnten Zwerge in Erdlöchern, Höhlen, aber
auch in festen Häusern, einzeln zumeist, aber auch in Banden bis zur
Stammesgröße. Sie wären leicht erregbar gewesen, zänkisch und
jähzornig. In gewissem Gegensatz dazu heißen sie aber anderswo
ausdrücklich gutmütig und gefällig, ja "klug und listig". Zwerge wären
der Mineralien- und Bergschätze kundig, geschickte Bergleute und -
Kunststück - nett zu verwirrten Königstöchtern gewesen. Schwimmhäute
sollen sie zwischen den Zehen gehabt haben, was zu ihren vermuteten
Hauptberufen aber kaum passen will. Entsprechend litten sie unter der
Nachrede. "Auch haben die Zwerge Gänsefüße, weshalb sie dieselben
sorgfältig verstecken und zornig werden, wenn ihr Geheimnis verrathen
worden...", so steht's noch in den "Naturstudien" des Dr. Hermann
Masius (Leipzig 1865, S.361), der sich mit diesem Unfug auch noch auf
Heine berufen kann.
Über die Nationale der Zwerge sagen unsere Gewährsleute nichts, nur daß
sie das Bergland der Ebene zuverlässig vorzogen und den Hügel dem
Sumpf. Ihr Idiom war das landläufige, die Vielfalt der
Selbstbezeichnungen - Querx, Quärgel, Ludchen, Lutki, Volk, Leute -
deutet auf ein verwurzeltes Eigenbewusstsein und Mehrsprachigkeit im
Rahmen des Indoeuropäischen oder auch darüber hinaus. Ob es sich bei
den oft genannten Walen, Welschen, Venetianern... um die nämlichen
Zwerge gehandelt hat, muß aber offen bleiben. Haben Zwerge überhaupt
ein Vaterland? Ähnlich unbefriedigend sind die Auskünfte hinsichtlich
der Religion und der politischen Präferenzen. Kirchenglocken
erheblicher Größe seien öfter Anlaß ihres Auszugs gewesen, aber es
scheint das Lärmen generell und nicht allein das christliche gewesen zu
sein, das sie vertrieben hat. Über ihr Geschlechtsleben wird
angedeutet, daß sie in der Sache genügsam sind und jedenfalls nicht zur
Vielweiberei neigen. Von Zwerginnen weiß man nur, daß es sie gibt. Hier
liefert Karl Preusker den konkreten Beleg , wenn auch nur für das
Oberlausitzer Dittersbach: Man solle der Hübel doch sagen, dass Habel
gestorben (Blicke in die vaterländische Vorzeit..., Leipzig 1841, S.57).
Besser beschrieben sind Aussehen und Kleidungsstil. Kapuzen würden sie
demnach tragen, Jacken, Überwürfe und Schurzfelle, wohl auch
Lederhosen. Auffällig wäre ihre Neigung zu Kinnbärten, während über ihr
Haupthaar widersprüchliche Meinungen im Umlauf sind. Ach ja: spitzige
Nasen werden vermeldet. Klein sollen sie sein.
Zum guten Ende bleibt als Signalement übrig: Zwerge sind kleine,
spitzbärtige Bergfreunde von nicht eindeutig faßbarem Charakter und
unklarer Herkunft. Zwerginnen fallen seit eh und je nicht weiter auf.
Zu erwägen bleibt: Wie glaubwürdig sind die Gebrüder Grimm? Sie standen
der Romantik nahe und pflegten einen vertrackten Freiheitsbegriff. Sie
waren Professoren in Deutschland, schrieben aber ein schönes Deutsch,
und sie hatten Erfolg, als sie von letzterem abrückten. Auffällig sind
ihre Vorlieben für blöde Königssöhne und ausgetickte Bären, Sadismus
und ein "Mehr Glück als Verstand" als waltendes Prinzip. "Was die Weise
betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf
Treue und Wahrheit angekommen." Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht
haben sie die Zwerge nur nicht verstanden oder auch nur zu gut, und
nachgehend von diesem Verständnis keinen Gebrauch gemacht.
Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben nicht wirklich. Lady Winter
arbeitet seit knapp zwei Jahren in einer Wirtschaft, die Oscar heißt.
Wie am ersten Tag reicht sie an die oben stehenden Gläser nicht heran.
Mir geht es mit meinen Buchregalen ähnlich: Sie wachsen und ich brauche
einen Stuhl, will ich etwas über Zwerge nachlesen. Könnte es sein, daß
es den Zwergen damit anders ging? Minderheiten wird viel abverlangt,
Anpassungsleistungen zum Beispiel, die der Selbstaufgabe gleichkommen
oder eben nur ähneln. Bösartiger Willkür, roher Gewalt und häßlicher
Niedertracht sind Klugheit und List allein kaum gewachsen. Ich denke,
hier kann Biermann ruhigen Gewissens einmal Glauben geschenkt werden:
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Es ist eine verfluchte Dialektik
und nicht sein Thema, aber es stimmt so ungefähr: Wer sich grün macht,
den fressen die Ziegen.
Franz, Koch in oben genannter Wirtschaft, trägt regulär Kapuzenshirts
und einen kinnbetonten Spitzbart unterm Zinken. Er stammt tatsächlich
aus den Bergen und, das mag als erschwerendes Indiz gelten, von beiden
Seiten des Erzgebirges. Seine Größe entspricht dem Landesüblichen und
seiner tatsächlich grottenartigen Küche. Sein Kollege freilich ist
bartlos und überragt die kleinste Kellnerin um eine geschätzte
Zwergenlänge. Witzig, ne? Franz, zum Thema befragt, nickt denn auch nur
einverständig und meint: "Wahrscheinlich tun die Brüder Grimm den
Zwergen unrecht". Zu erwägen bleibt: Waren sie vielleicht selber
welche?(Gregor Kunz, 1999/09)
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