In den 60er Jahren war der
Dezember ein schöner Monat. Er begann irgendwann Mitte November, war
angenehm kalt und kein bißchen traurig. Die alten Berliner Straßenbäume
standen teils schwarz und teils weiß, waren von Krähen besetzt und
nicht ganz wach. Das Grün der Stadtrandkiefern stand für alles Grün der
Welt und war aus spitzen Koboldhüten gemacht, aus gefrorenen
Schulheften, dem Haar der eingegrabenen Königin. Um genau zu sein: Der
Dezember hieß nicht Dezember sondern Winter. Dezember hieß nur ein
kleiner Herr mit grünem Hut, der sich zwischen den Kiefern herumtrieb.
Wenn es schneite - Schneeflocken, groß wie Hühnereier - feixten die
Schneemänner im Vorgarten und schwenkten verwegen ihre Kochtopfhüte.
War es nur spät genug, dann grölten sie: "Heute blau und Tralala,
gestern war der Hase da. Hat alle Nasen weggefressen, das werden wir
ihm nie vergessen!" Oder: "Haut'se, haut'se, immer auf die Plautze. Ist
die Plautze platt wie Stulle, kommt der blaue Bahnhofsbulle!" In
Friedrichshagener Schrebergartenfranzösisch, nebenbei bemerkt, und
solange bis der letzte Eiszapfen vom Dach heruntergeprasselt kam.
Einmal brachten wir dem Schneemann einen verrosteten Stahlhelm mit, der
an der rechten Schläfe ein Loch hatte. Schon am nächsten Morgen war das
Ding verschwunden. Wahrscheinlich hat ihm die Kopfbedeckung nicht
gefallen.
Die frühe Dunkelheit war nicht einfach dunkel, sondern ein Zelt,
gemacht aus Mänteln und Lichtern, ein wenig Autogebrumm und Gewisper.
Autos gab es eh nicht viele und im Winter hatten die meisten frei. Sie
steckten unter Faltgaragen und großen Schneehaufen und konnten
ungestraft mit Schneebällen beworfen werden. Jedenfalls solange niemand
zusah.
Wie an den Schaufenstern zu sehen war, wurde der Winter wegen dem
Nikolaustag und wegen Weihnachten veranstaltet. Außerdem gab es Winter,
damit unsereins Vögel füttern konnte und deren Namen kennenlernte. Das
waren einerseits die Schwäne, Enten und Möwen am Müggelsee und
andererseits Kostgänger im Vogelhaus auf dem Fensterbrett: Kohl- und
Blaumeisen, Buch- und Grünfinken, Spatzen, Amseln, Kleiber und
Dompfaffen. Drängelten sich Tauben dazu, wurden sie vertrieben. Wir
wedelten dazu heftig mit der Gardine.
Weihnachten dauerte lange. Erst einen Weihnachtskalender lang, dann
über drei Tage bis ans Gerippe der Pute, dann bis zum traurigen Ende
aller Schokoladenweihnachtsmänner, Omanüsse und Pfefferkuchen. Man
konnte sich etwas wünschen und kriegte das unter Umständen auch.
Weihnachten war Tannenbaumschmücken und Kerzenbrennen,
Beinahekatastrophe und unerträgliche Spannung, Weihnachtsoratorium und
Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen. Weihnachten war so feierlich, wie
die Schokolade es zuließ. Weihnachten war das Fest der traurigen
Märchen, ohne selbst traurig zu sein. Das Mädchen mit den
Schwefelhölzchen starb in einem anderen Land und die Schneekönigin
hatte kein Herz. Das war schlimm für sie, aber eigentlich nicht
tragisch. Kinder sind schließlich noch unsterblich und wirklich
gefährlich sind nur die Drachen und Schlangen im dunklen Zimmer.
Weihnachten war der Tag des unsichtbaren Gastes, also eigentlich
unheimlich. Der Gast trug einen roten Mantel und fuhr wie jedes
anständige Kind Schlitten. Allerdings hatte er einen Hirsch vorne dran,
zum Ziehen. Einmal habe ich ihn fast gesehen, vom Fenster aus - er
verschwand grad in der Löcknitzstraße - und noch öfter habe ich ihn
gehört. Ihn und sein Glöckchen. Wie sich herausstellen sollte, hing vom
unsichtbaren Weihnachtsmann viel ab. Nicht die Geschenke, die gab es
weiterhin. Aber Weihnachten.
Um 65 herum wurde der Gute das Opfer einer einfachen Berechnung und
verschwand tödlich gekränkt auf Nimmerwiedersehen. Nicht allein. Aber
das nur nebenbei. Irgendwann war Weihnachten der 24.12. und eine
schlechte Zeit für Bäume.(Gregor Kunz, 1998)
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