Schneeflocken, groß wie Hühnereier

(74.)

In den 60er Jahren war der Dezember ein schöner Monat. Er begann irgendwann Mitte November, war angenehm kalt und kein bißchen traurig. Die alten Berliner Straßenbäume standen teils schwarz und teils weiß, waren von Krähen besetzt und nicht ganz wach. Das Grün der Stadtrandkiefern stand für alles Grün der Welt und war aus spitzen Koboldhüten gemacht, aus gefrorenen Schulheften, dem Haar der eingegrabenen Königin. Um genau zu sein: Der Dezember hieß nicht Dezember sondern Winter. Dezember hieß nur ein kleiner Herr mit grünem Hut, der sich zwischen den Kiefern herumtrieb.
Wenn es schneite - Schneeflocken, groß wie Hühnereier - feixten die Schneemänner im Vorgarten und schwenkten verwegen ihre Kochtopfhüte. War es nur spät genug, dann grölten sie: "Heute blau und Tralala, gestern war der Hase da. Hat alle Nasen weggefressen, das werden wir ihm nie vergessen!" Oder: "Haut'se, haut'se, immer auf die Plautze. Ist die Plautze platt wie Stulle, kommt der blaue Bahnhofsbulle!" In Friedrichshagener Schrebergartenfranzösisch, nebenbei bemerkt, und solange bis der letzte Eiszapfen vom Dach heruntergeprasselt kam. Einmal brachten wir dem Schneemann einen verrosteten Stahlhelm mit, der an der rechten Schläfe ein Loch hatte. Schon am nächsten Morgen war das Ding verschwunden. Wahrscheinlich hat ihm die Kopfbedeckung nicht gefallen.
Die frühe Dunkelheit war nicht einfach dunkel, sondern ein Zelt, gemacht aus Mänteln und Lichtern, ein wenig Autogebrumm und Gewisper. Autos gab es eh nicht viele und im Winter hatten die meisten frei. Sie steckten unter Faltgaragen und großen Schneehaufen und konnten ungestraft mit Schneebällen beworfen werden. Jedenfalls solange niemand zusah.
Wie an den Schaufenstern zu sehen war, wurde der Winter wegen dem Nikolaustag und wegen Weihnachten veranstaltet. Außerdem gab es Winter, damit unsereins Vögel füttern konnte und deren Namen kennenlernte. Das waren einerseits die Schwäne, Enten und Möwen am Müggelsee und andererseits Kostgänger im Vogelhaus auf dem Fensterbrett: Kohl- und Blaumeisen, Buch- und Grünfinken, Spatzen, Amseln, Kleiber und Dompfaffen. Drängelten sich Tauben dazu, wurden sie vertrieben. Wir wedelten dazu heftig mit der Gardine.
Weihnachten dauerte lange. Erst einen Weihnachtskalender lang, dann über drei Tage bis ans Gerippe der Pute, dann bis zum traurigen Ende aller Schokoladenweihnachtsmänner, Omanüsse und Pfefferkuchen. Man konnte sich etwas wünschen und kriegte das unter Umständen auch. Weihnachten war Tannenbaumschmücken und Kerzenbrennen, Beinahekatastrophe und unerträgliche Spannung, Weihnachtsoratorium und Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen. Weihnachten war so feierlich, wie die Schokolade es zuließ. Weihnachten war das Fest der traurigen Märchen, ohne selbst traurig zu sein. Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen starb in einem anderen Land und die Schneekönigin hatte kein Herz. Das war schlimm für sie, aber eigentlich nicht tragisch. Kinder sind schließlich noch unsterblich und wirklich gefährlich sind nur die Drachen und Schlangen im dunklen Zimmer.
Weihnachten war der Tag des unsichtbaren Gastes, also eigentlich unheimlich. Der Gast trug einen roten Mantel und fuhr wie jedes anständige Kind Schlitten. Allerdings hatte er einen Hirsch vorne dran, zum Ziehen. Einmal habe ich ihn fast gesehen, vom Fenster aus - er verschwand grad in der Löcknitzstraße - und noch öfter habe ich ihn gehört. Ihn und sein Glöckchen. Wie sich herausstellen sollte, hing vom unsichtbaren Weihnachtsmann viel ab. Nicht die Geschenke, die gab es weiterhin. Aber Weihnachten.
Um 65 herum wurde der Gute das Opfer einer einfachen Berechnung und verschwand tödlich gekränkt auf Nimmerwiedersehen. Nicht allein. Aber das nur nebenbei. Irgendwann war Weihnachten der 24.12. und eine schlechte Zeit für Bäume.(Gregor Kunz, 1998)

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