Das Jahr 68 war eines von der guten alten Art, gewaltig blau, gelb und grün

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Erinnere ich mich recht, dann fand Ostern 68 unter einem eher trüben Himmel statt. Nichtsdestotrotz werden uns die Eltern in die besseren Klamotten gesteckt haben, eh es in eins der Waldstücke Berlins ging bzw. in meinen ersten Grundkurs Dialektik: Finde das Ei und mach dich nicht dreckig. Der Süßkram des Jahres 68 - wenigstens das kann ich beschwören - steckte in grünen Nestern aus Papier und wurde alsbald gegessen. Was es mit den "Arbeitern und Studenten" auf sich hatte, von denen im Rundfunk der DDR öfter die Rede war, so werde ich meinen Vater gefragt haben. Mit Gewinn, nehme ich an, aber die Antwort ging letztlich unter - Thema des Jahres war der Vietnamkrieg.
Der Sommer 68 war einer von der guten alten Art, gewaltig blau, gelb und grün, warm, ohne heiß zu sein, und ohne erkennbares Ende. Sommer, vor dem 10ten Geburtstag erlebt, sind so. Im Juni fuhr die Familie für vier Wochen in die Ferien, eine Woche nach Prag und drei Wochen in die Beskiden. In den Beskiden wohnten wir in einem Haus, das zur Gänze aus Holz gebaut war und ziemlich weit oben lag. Das Haus hieß "Bumbalka". Bauden nämlich, obengelegene Häuser aus Holz also - das lernte ich bei der Gelegenheit - tragen Namen, wie Hunde etwa und vermutlich, damit sie gerufen werden können, wenn sie sich verirrt haben oder anders abhanden gekommen sind. Gut möglich, der Brauch stammt aus den Zeiten, als der Glaube noch Berge, Häuser und überhaupt alles versetzte.
Zum Haus gehörten ein altersschwacher Ami-Jeep und zwei erwachsene Collis, die hin und wieder auf "Alena" und "Arko" hörten. Da um sie ständig ein gutes Dutzend Kinder zu Gange war, werden sie selbst dieses "Hin & Wieder" bereut haben. Der Jargon, in dem sich die Kinder verständigten, kann nur das Esperanto zu Babel gewesen sein, just als der Turm einfiel. Falls ich nicht mit den anderen Gören ums Haus rannte, Hunde quälte oder Pilze abriß, lief ich mit den Eltern und dem kleinen Bruder, riß Pilze ab und ärgerte den Rest der Schöpfung mit lautem Geschrei.
Die Beskiden waren - und sind wahrscheinlich heute noch - eine Ansammlung mehr oder minder bewaldeter Berge. Es gab grobsteinige Wege bergauf, Wiesen mit Enzian drauf, Fingerhut, Wacholder und Silberdisteln, verstreute Holzhäuser weitweg mit blitzenden oder rotgestrichenen Blechdächern und zerstreute Bäche hangab. Obendrüber strahlte tags der helle Sommer und nachts ein gewaltiger Sternenhimmel. Jedenfalls fällt ins Jahr 68 die Entdeckung der Milchstraße als auch der Sternschnuppen - für mich.
In der dritten Woche war es mit all dem vorbei. Im Frühstücksraum lief der Fernseher, Männer und Frauen standen davor und in heftig diskutierenden Gruppen zusammen. Einige weinten. Im Fernsehapparat - griesiges Schwarzweiß - waren Soldaten zu sehen und Panzer. Vor dem Haus saß ein Mädchen, das weinte auch.
Zwei Tage später, früh gegen fünf oder sechs, liefen oder hasteten wir hinunter ins Tal, zum nächsten Bahnhof. Ich war sehr beeindruckt, der Umstände, aber auch des Nebels wegen und der Wacholderbüsche, die in ihm standen, und der Frühsonne darüber. Freilich, ich hatte nur einen leichten Rucksack zu tragen. Unten im Ort stand ein weißer Kastenwagen und Männer in blauen Arbeitssachen warfen sich Brote zu wie Ziegelsteine.
Durch Prag fuhr kein Zug, also liefen wir, über zerfahrene Gehsteige, vorbei an einem abgebrannten Trafohäuschen und zertrümmerten Autos. Das von Jugendlichen umstandene Denkmal des Heiligen Wenzel war mit Zetteln beklebt und weiß beschriftet, mit Parolen vermutlich, mit Sprüchen, mit Wünschen. Auf dem Wenzelsplatz standen Panzer, links, wenn man von oben kommt, mit dem Heck zur Häuserfront, T 55, einer am anderen. Auf einem Geschützrohr saß ein Soldat und spielte Ziehharmonika. In meiner Erinnerung heulen ununterbrochen die Sirenen der Krankenwagen. Einer trug ein Wortspiel herum: "Ohne Svoboda keine Freiheit!"
Zum nächsten funktionierenden Bahnhof brachten uns endlich zwei Männer. Sie halfen den Eltern beim Tragen der Koffer und stritten, so lang der Weg währte, sowohl mit meinem Vater, der leidlich Tschechisch sprach, als auch untereinander. Wir Kinder waren todmüde und verstanden nichts.
Das vorletzte, woran ich mich erinnere, ist der von Soldaten überfüllte Bahnhof und der Bahnhofsvorplatz in Decin. Mein Vater versuchte Zigaretten und Busfahrkarten aufzutreiben, während ein rotes Transparent über ihm verkündete: "Die Ulbrichts sind Schweine!" (Gregor Kunz, 1998)

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