Sich den Kiefer oder
andere Knochen zu brechen, ist nicht schwer. Man kann dazu das Fahrrad
nehmen und eine Straßenbahnschiene oder bei anderer Gelegenheit
unaufmerksam sein, abgelenkt oder übermütig. Zur Not macht's auch ein
anderer, ein Schläger oder ein Schönheitschirurg. Knochen halten nur,
was sie versprechen, und auch das nicht immer. Für auf 20 oder 30 km/h
bewegte 80 Kilo, unglückliche Umstände und einen harten, feststehenden
Untergrund sind sie jedenfalls nicht gemacht.
Man muß das akzeptieren, spätestens wenn's passiert ist und das ist das
erste Problem, das mit dem noch mäßigen Schmerz konkurriert. Weil, wahr
kann das nicht sein. Der Sturz nicht, der Bruch nicht und schon gar
nicht dieser willkürliche Eingriff in meine Autonomie, meinen freien
Willen, in meine Pläne, das nächste Wochenende, die Arbeit und das
Vergnügen betreffend. Geht es gut, greifen Unfallhelfer oder Angehörige
rechtzeitig korrigierend ein, wenn nicht, wird die Sache unangenehmer,
als sie eh schon ist. Aber keine Bange, die Behinderung und der Schmerz
nach dem Wundschock sind Realität und lassen sich nicht abweisen. Die
folgende, vorgeschriebene Behandlungen: Röntgen, Reinigen, Drainieren,
Nähen, Schienen und das Zusammenzurren beider Zahnreihen mittels Draht
sind unangenehm und u.U. langwierig, aber (meist, in Grenzen) nicht das
Problem des Patienten. Ein Teil der ärztlichen Kunst besteht denn auch
darin, dieses Unangenehme, Langwierige nicht aufs eigene Haupt zu
laden, sondern gerecht zu verteilen.
Die größeren Probleme des beschädigten Menschen beginnen m.E. danach
und natürlich dazwischen. Die des Körpers, mit seiner Beschädigung
umzugehen und fertig zu werden, seine Behinderung, sein
Nichtfunktionieren zu umgehen und das Problem des Geistes (oder der
Seele), mit dem Vorgang und dem Zustand der Beschädigung und der
Behinderung zurechtkommen zu müssen.
Sehr vieles von dem, wozu man den Mund gewöhnlich braucht, geht nicht,
kaum oder schlecht: Essen, Flüstern, Schreien, Ausspucken, Lachen,
Grinsen, Lächeln, Gesichterschneiden, Pfeifen, Singen, Lippen lecken,
Küssen, die Zunge rausstrecken, Gähnen...
Ein gebrochener Kiefer kaut nicht. Es bleibt also der Strohhalm und
alles, was da durchgeht. Man stelle sich in eine x-beliebige Kaufhalle:
viel ist es nicht und viel drin ist auch nicht. Vielleicht ein Viertel
der Tütensuppen gehen, allerhand Milchzeug, Bier und was sich an
Frischzeug dünn genug schreddern läßt. Es soll Leute geben, die lassen
sich eine derartige Quälerei zwecks Gewichtverlusts nebst
Willensprüfung einiges kosten.
Die Lippen sind halbtaub - ein guter Test für diesen Fall - vom Draht
angekratzt, trocken, aufgesprungen oder klebrig und manchmal kaum in
der Lage, eine Zigarette zu halten. Mißfarben tun die Zähne so, als
gehörten sie nicht mehr dazu.
Der Mensch muß reden, das unterscheidet ihn vom Tier. Nur hört sich das
jetzt seltsam an und ist schwer zu verstehen. Seltsam auch klingt das
Lachen und ist, wie Husten und Niesen, ein neu zu erlernender Akt.
Gähnanfälle sind, die Hand unterm Kinn, beherzt zu unterdrücken, das
Niesen besser auch, durch rechtzeitiges Schnauben. Falls das geht.
Problematisch ist das Spiel mit dem Kind. Kinder sind so unbeherrscht.
Problematisch ist die Lage im Bett: eine geht nicht. Problematisch sind
Träume. Ein Alptraum ist die Vorstellung, erbrechen zu müssen. Den
Fernseher auslassen, vorsichtig lesen, vorsichtig sein bei
Spaziergängen und Ausflügen. Kreuzungen meiden. Nie vergessen:
Drahtschere, Spiegel und das Verdrahtungszertifikat, aufzubewahren
neben dem Personalausweis.
Beizeiten ändert sich der Blick. Der auf die, die dieses Problem gerade
nicht haben und der auf die mit dem Gips, den Verbänden, der Krücke, im
Rollstuhl. Dergleichen verändert Sicht und Gesichter. Wenn auch nicht
immer und nicht für immer. Bei Gelegenheit sollten Sie darauf achten.
(Gregor Kunz, 1997)
zurück