Draußen war Herbst, Regen
und ein Stück München; eine teure Gegend, wie ich mir habe sagen
lassen. Das Straßenbahnfenster zählte Antiquitätenläden her,
Modegeschäfte und Vollkornlokale für das richtige Leben im Falschen.
Sollte die alte Bundesrepublik Deutschland noch irgendwo existieren,
dann hier.
Drinnen war es dunkel. Die vier Räume waren vollgestopft worden bis
unter die Decke, das Deckenlicht schwach, die kleinen Fenster
verhangen. Hier liegt alles, sagte der Onkel, was dem Tantchen je in
die Finger gekommen ist. Der Onkel war der Onkel meiner Liebsten, das
Tantchen entstammte den weitläufigen Verästelungen derselben
Verwandtschaft. Wir stiegen in die Overalls, setzten Mützen auf, zogen
Handschuh an und gingen an die Arbeit.
Die Möbel waren 1944 hierher gelangt, aber deutlich älter. Jetzt
steckten sie im erstarrten Brei aus Papier, Textilien, Karton,
Kunststoff und Staub, verzweifelt fest in gepresster Zeit, wie Tiere in
Schlamm. In den Ölfarben der Landschaften rings lebten die 1830er, in
den Zeitungen - ungelesen, unerlöst, - dauerte das Jahr 1989.
In den Schränken lagen Jahrzehnte versperrt: Tabak und Schmuck,
Medikamente, eine gestempelte Decke der US-Army und druckfrische
Scheine der Bank Deutscher Länder. Zwischen 1890er Fotos - New York -
steckte ein Stück altes Frankfurt, ein Zettel aus dem Jahr 1828 mit der
Bitte um Geld. Es fanden sich die Schulterstücken und Effekten eines
Fliegerhauptmannes, der Rest eines 1790 kolorierten Festungsplans,
Zelluloidkragen, ein japanisches Mikado, schimmlige Schokolade und
blutige Münzen, neuwertige Reizwäsche aus den 20ern und ein feines Tuch
mit einem sorgfältig gesäumten Oval in der Mitte. Spätestens hier war
ein Traumland erreicht, in dem die Toten ihr Jahrhundert in Einsamkeit
abzubüßen haben.
Die Familie, erzählte der Onkel, wäre eigentlich ein Verband dreier
Namen, über Jahrhunderte miteinander verbandelt. In ihrer Geschichte
gab es eine lange Kette achtbarer und einträglicher Berufe: Pfarrer,
Apotheker, Kaufleute und Gelehrte vieler Sparten. Die Leute brachten es
zu etwas, und sei es aus Pflichtgefühl.
Wird man so reich?, fragte ich. Der Onkel feixte und zitierte drei
Brüder. Der eine hätte in London gesessen, der zweite an der Westküste
Afrikas und der Dritte in der Karibik. Aus London kamen die Tuche, aus
Afrika die Sklaven, aus der Karibik der Zucker... Nicht nur das Elend
vererbt sich. Der Onkel selbst war Kunsthistoriker und 200 Jahre später
aus Chile geflohen. Im Clan galt er als schwarzes Schaf: Sozialist und
radikal dazu. Gelegentlich schimpfte er auf Neruda, den er noch gekannt
hatte.
Ihrem Herkommen nach wäre das Tantchen zur repräsentativen Gattin
bestimmt gewesen, ihr Erbteil hätte ihr ein tätiges Leben ermöglicht
oder auch ein müßiges. Aber es gab nur ein paar Jahre, lustlos an der
Universität verbracht, und einen Bruder, der sich kümmerte. Es gab
keine Reisen, auch keinen Garten, das Essen kam aus der Dose und die
Religion in Heftchen: ein guter Kubikmeter. Ob sie jemals geliebt hat?
Ihre Wohnungen - es gab drei dieser Art - waren Panzer, ihr Leben
heroische Abwehr.
Ein grünes Streifband enthielt in krakliger Schrift, was vielleicht
dessen Botschaft war: "Doris schrieb 1966. In Ludwigsburg muß man mit
jedem können. Wenn ihr nur jemand hättet, der euch hilft fremde Leute
hinauszuschmeißen geistig. Muckenpatscher zum Schutz, damit ich
verreisen oder spazieren gehen könnte. So schauerlich sind die Menschen
zu einem und scheinbar oft mit schwarz magischer Vollmacht
ausgestattet. Ich habe immerzu Angst, weil ich nur abgelebtes Leben
bekomme. Man horcht uns ab und bespitzelt, und wenn man es merkt,
erklären sie einen für geistesgestört. Wenn die meiste Menschheit zum
Kotzen gegen einen geworden ist und einen nicht frei macht und
anständig schreiben läßt. Was ist das für ein Sanatorium mit eurem
Namen? Meine Mutter ist anscheinend mal dort gewesen." (Gregor Kunz, 2005)