Zorro in der S-Bahn oder Warum Joschka Fischer höchstwahrscheinlich nicht in den Knast kommt

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Der Hut saß, heller als grau, auf grauem Blond, wie gemacht für diese Art ausgewachsenen Pagenschnitt eines durch die Jahre irrenden Prinzen. Es paßte der graue, weiche, weite Umhang zu den hohen weichen Stiefeln, das lederne Beinkleid zum Wams, zu den Händen, den dünnen Knochen. Wo ist die Feder, dachte ich, die Feder vom Hut? So also geht's Werthern, dachte ich, seit einigen 20 Jahren nicht müde zu erzählen, wie er, des nassen Pulvers gewahr geworden, seine Pistolen fluchend aus dem Fenster warf: Nee, keene Kinder... Der Vater dahinter musste uralt sein. Hinterm Fenster glitten Fenster vorbei und Worte: "Wo man..." Ich ergänzte still.
Die Frau sprach tatsächlich, aber nicht mehr von Pistolen, und auch nicht mit sich selbst. Das hatte sie wahrscheinlich auch vorher nicht getan. Dafür waren ihre Sätze zu gut. "Das ist alles sehr schlecht organisiert hier", war zu vernehmen und, jetzt klar und deutlich artikuliert: "Ich bin nämlich nicht von hier. Ich bin aus Hamburg. Wie weit..." "Zwei Stationen bis Alex", sagte ich. "Die Zweite?", gab sie zurück. Ich nickte. Sie schwieg für einige genaue Sekunden. Halbquart, Prim, Sekond, Terz, Quart, Touché. Auf der Rechten schloss sich vernehmlich ein Gebiß in der von Rotkraut überquellenden Teigtasche; blasse blaue Augen schauten kuglig drüber weg.
"Schöne Tasche, die sie da haben", sagte die Frau, wieder zu mir. "Das ist eine Monteurstasche", sagte ich, "da geht viel rein." "Das ist egal", sagte sie, "die hat Charakter. Aber so etwas trägt der Deutsche nicht. Der trägt helle Taschen. Leder muss dunkel sein und abgenutzt, weich. Ich bin Lederfetischistin, müssen Sie wissen. Klamotten und Schuhe. Italienische...!" Das "Italienische...!" klang gut, besser noch: Es erhellte. Das Elend der Werbung, unter anderem, den Unterschied zwischen Gehampel und Überzeugung. Ich bedachte das Elend meines Broterwerbs und sah auf meine Füße. Sie taten weh.
"Jetzt bin ich in Berlin", sagte die Frau, "und der Freund, zu dem ich will, der arbeitet noch. Immer, wenn ich spontan bin, geht das schief. Heute um Elf hab ich beschlossen zu fahren und zack, jetzt bin ich hier." Sie beugte sich vor, warf den Umhang zurück, setzte die Ellenbogen auf die Knie und schaute einen Moment zur Seite. Dann nickte sie. "Morgen bin ich bei Joschka Fischer. Der kennt mich, von früher. Der wollte mal was von mir. Der wollte mich zur Terroristin machen. Der kommt nicht in den Knast, der wird ausgetauscht. Der ist Doppelagent. KGB und CIA." Sie nickte wieder. "Der hat am 11.9. Geburtstag und immer am 11.9. passiert was. Das hat er mir mal erzählt." Kurze Pause, dann: "Nee, ich nenne keine Namen. Ich gehe zum Erkennungsdienst. Die erkenne ich alle. Da zeige ich mit dem Finger: Der ist Terrorist und die ist Terroristin." Draußen gab es wieder Fenster zu sehen, runde diesmal. "Wo man...": Ich ergänzte stumm.
"Endlich reich", sagte sie. Wieso reich, dachte ich, bei den Klamotten? "Ich verkauf alles", fuhr sie fort, "meine Möbel, meinen Kleiderschrank, behalte nur den Rucksack und 5000 Euro. Ich besorg mir einen Jugendherbergsausweis und dann geht's los." Sie stand auf und ging Richtung Tür, von oben her weiter sprechend, mit wippender Feder. "Ja, meine Kinder sind schon erwachsen, ich kann das machen. Endlich frei. Nur noch one-night-stands. Ich krieg nämlich keine Kinder mehr..." Schwarz blitzte das Z im gelben Button, links überm Herzen. Dann war sie draußen. Rechterhand die blassen blauen Augen schauten wieder erschrocken, der Mund darunter stand offen und leer. "Das warn aber ne' Menge Drogen, wa..." sprach er endlich. "Das war", sagte ich oder mein besseres Selbst übersetzte, "ne janz helle Jeschichte..." Nur der grün-schwarze Koffer, den sie hinter sich hergezogen hat, das abgeschabte Stoffding paßte da nicht rein. Der daraufgeschnallte Degen hingegen: Jeder sollte einen haben. Aber das sagte ich nicht. (Gregor Kunz, 2004)


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