Kleine Kinder wissen
nichts vom Tod, sind also eigentlich unsterblich. Wie alles im Märchen
ist Herr Tod real, aber nicht wirklich. Außerdem ist er verhandelbar,
eine verdrießliche Unterbrechung, sehr fern und überhaupt ein lösbares
Problem. Wie fast alles im angefangenen Leben war Tod eine abstrakte
Erzählung, jemand oder etwas ist weg und kommt niemals wieder. Eine
Ahnung, was Tod denn sei, bekam ich erst in meinem vierten Jahr, 1964
in Berlin. Es starben kurz hintereinander Otto Grotewohl, meine
Großmutter und der blaue Wellensittich des Feuerwehrkindergartens
Berlin-Karlshorst.
Der Tod Otto Grotewohls war eine reproduzierte Porträtzeichnung im
schwarzen Rahmen, der eine schwarze Binde ans Eck geheftet bekam und
einen Platz auf dem Glasschrank im Speisezimmer des Kindergartens. Dass
der Tod zu ernster Miene verpflichtet und die Stimmen tiefer macht,
erfuhr ich bei dieser Gelegenheit. Auch, dass es auf dieser Welt
Ministerpräsidenten gibt, kam zur Sprache. Nicht erklärt wurde
allerdings wozu.
Der Tod der Großmutter bekam seine Gestalt in der vollen Morgensonne,
beim Frühstück und mit den ernsten Gesichtern der Eltern in der
Wohnküche. Obwohl er ähnlich aussah wie der Tod Grotewohls - eine
Fotografie kam hinter Glas - war der Tod der Großmutter eine ernstere
Sache. Neu war die fühlbare Traurigkeit und konkreter das
Niemalswieder, nach der Erklärung des Vaters ein wirkliches Nie.
Immerhin kannte ich die Großmutter und ihren Wohnort von Angesicht,
erinnerte mich an Fördertürme, Birken und Maschinenschrott, ein
durchgegangenes Pferd, an den Hufschmied vor dem Haus - Funken, der
Geruch beim Anpassen der Hufeisen - und die Rodelbahn dahinter. Die
Großmutter war eine sehr strenge Frau, die niemals lachte, womöglich
das Unglück anzog oder nicht fernhalten konnte: Stürze, Verletzungen,
Stromschläge, falscher Zucker und Krankheit.
Der blaue Wellensittich lag eines Morgens unter seiner Sitzstange im
Sand und bewegte sich nicht mehr. Ein Feuerwehrmann, so riesig
dunkelblau, dass er die weißen Kittel der Erzieherinnen verdunkelte,
zog das Tier heraus, legte es auf seine schwarze Lederpranke und
erklärte gelassen ganz und gar Unmögliches: er könne nicht helfen, der
Vogel sei tot. Nach dem Mittagsschlaf war der Käfig leer, und der
Sittich, wie es hieß, begraben worden. Später gab es zwei neue Vögel,
aber die interessierten mich nicht mehr, so wenig wie mich die
Feuerwehr noch interessieren konnte. Einmal herausgetreten aus dem
Licht des Wunderbaren, begannen die Feuerwehrleute zu schrumpfen und
die Welt mit ihnen. Dass sie außerdem gelogen hatten, machte die Sache
nicht besser: Wie das unverletzte Pflaster im Hof bewies, war der Vogel
nicht begraben worden, sondern in der Mülltonne gelandet.
1964 war Berlin eine eingegrenzte und geteilte Stadt, was ich
gleichfalls nicht wusste. Im Gegenteil, Berlin war riesig, ein
Konglomerat aus Backstein, Ruß und Eisen, ein Ort ohne Horizont, dessen
Bewohner tagtäglich in S-Bahnen saßen und schwiegen. Der Arbeit wegen,
wie eine Nachfrage ergab: Die fahren zur Arbeit. Arbeit war demnach
etwas ehrfurchtgebietend Wichtiges, etwas Fremdes, hinter oder in dem
die Leute verschwinden, ein Muss. Leben hingegen ... Wie sich
herausstellen sollte, ist selbstverständlich nur das Unbekannte.
Unbekannt und real war die Mauer, Tod und Mausoleum, Manifest der
Ideologien. Wo sie stand, wächst Gras, wachsen Bäume, eine kratzige
Idylle. Den Tod zu ehren, sich selbst vor allem, steht an allen
Jahrestagen das politische Personal bereit, kleine Feuerwehrleute mit
ihren Gewissheiten, mit kleinen grünen Rettungsringen. Es wird nichts
helfen. Berlin im August 2001 ist ein vielfach zergrenztes
Flächenlebewesen aus Beton, Farbe, Natur, Eisen und Staub. Der Tod in
Berlin ist der Tod großer Städte: Ein hippes Grinsen, mitten im Leben,
gut sichtbar im Fenster des 120er Bus. (Gregor Kunz, 2001)