Scheitern ist harte Arbeit: Ein Nachruf

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Beerdigungen sind zerrige Spiegel. Der Zeit und diverser, potentieller, tatsächlicher Leben, der Zeit eines Lebens... Blaue Kommas im Text der Lebenden. Der Grabredner hatte einen Pickel am Hals, Schuppen auf dem Kragen und trug sein Gesicht passend zum Anzug, angemessen zerknautscht vor zwei Brüdern her. Was er zu sagen hatte - wenig genug - sagte er auf: Schlecht. Der letzte Gang, ließ sich bei dieser Gelegenheit lernen, wird getrippelt, und Kunst ist ohne Magie nicht zu haben. Es war peinlich, komisch und bedrückend. Wie wenig von einem Menschen übrig bleibt, sagte mein Bruder. Ich sah einem Baumfuchs über den Kies springen, blinzelte der Sonne zu und dachte an Max. Ach Söhnchen, da hast du noch was vor dir... Anders traurig, wenn ich bitten darf.
Viel war wirklich nicht geblieben. Eine Bonbondose im spatenstichtiefen Loch, zwei Zimmer mit Trümmern gefüllt, zögerndes Erinnern, Schauder. Aufgelaufene Bilder, Gerichtshändel, Tippfehler, eine Doktorarbeit, der Rest einer unrettbaren Bibliothek, unbenutzte Schuhe, staubiges Papier, Stimmengewirr, etliche Fragen Das Leben will wie eine chiffrierte Botschaft entziffert werden - schon recht - aber es lässt sich auch verlieren, verliegen, verfehlen, verschenken, wegtun und ab.
Sicher ist nur das respektable Alter dieses Todesfalls, nicht aber sein Anfang nach Tag und Stunde. Irgendwann vor rund zwanzig Jahren muss dieses Sterben begonnen haben, oder noch eher. Scheitern ist harte Arbeit. Sicher sind ein 2. Juni im böhmischen Norden, eine Geburt im unwahrscheinlichen Jahr 1931 und die Namen Reinhard, Günther, Emil, Anna. Unsicher sind die gestorbenen Geschwister und die Begabung der Eltern für das Unglück. Gesichert sind Weltkrieg und Flucht, das Einwurzeln in den Pflanzstätten des Sozialismus, Militärdienst, Studium, Arbeit und das Scheitern - des Lehrers, des Malers, des Autors, des Vaters.
Festgefahren schon kurz nach dem Anfang und per Kunsterziehung gepresst in den Rahmen des Kunstrichtigen der 50er Jahre, waren seine Bilder am Ende wenig mehr als Wiederholung. Auch dass er ein guter Lehrer war, ist eher unwahrscheinlich. Es gab Stimmen wie Gründe dafür und dagegen, und einen Gesamtcharakter, der dem Beruf widersprach. Im Gespräch freilich brillierte der Geschichtenerzähler, ein ausschweifender Fabulierer auf wilder Wurzel, springend von einer Variante zur nächsten, wahrer als nur wirklich. Als er zu schreiben begann, war es wahrscheinlich zu spät. Der Alkohol führte bereits weit nach Punkten, uneinholbar vermutlich. Bald begann die Schrift unsicher zu werden, dann versiegte die Sprache, ohne je sicher geworden zu sein.
Ein kleines und ein großes Talent, eingetauscht im Dienste so verstandener und akzeptierter Notwendigkeit, gegen den falschen Beruf und eine Ehe, die wohl scheitern musste und besser eher gescheitert wäre. Einverständig drangegebene Lebensmöglichkeiten, unterworfen einem verhängten Alltag, den Forderungen einer Gesellschaft, die sehr wohl die seine war, und endlich ausgegeben in kleiner Münze.
Wäre ein anderes Leben möglich gewesen? Krieg und Entwurzelung prägten den Anfang und Orthodoxie den weiteren Verlauf, tödlich letztendlich wie alle Orthodoxien. Wie weit war der Alkohol Ursache und wie weit Wirkung? Wie weit erklärt die Ungunst der Zeiten, erklären Kindheit und Jugend ein Leben wirklich? Niemand konnte ihn aus diesem Spiel ganz entlassen, nur er selbst. Ganz sicher ist nur der Tod am 13. März des unwahrscheinlichen Jahres 2001, sein erwartetes Eintreten an jenem Montag, in bester Verfassung.
Im Guten wie im Bösen verdanke ich meinem Vater viel. Seinen Geschichten und seinem Bücherschrank, seiner unglücklichen Liebe zur Kunst, seinen Fehlern, seiner Schwäche, seinem Beispiel, seinem Scheitern. Seinem Leben - tapfer und untapfer zugleich. Schade, daß er es nicht wirklich versucht hat. (Gregor Kunz, 2001)

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