Bäume schlafen im Stehen und atmen kaum (Aktennotiz nach Dylan Thomas)

(113.)

Es ist tief in der Nacht, aber die Stadt schläft nicht - sie ruht nur; knarrt, wispert und raschelt und rauscht, vergeblich belagert von der Buchstabenschwärze einer wirklichen Nacht, 800 Meter über den Firsten und verborgen am Fuße der Mauern, in Höfen, Toreinfahrten, Kellerfenstern.
Es schläft, wer kann: Sandstein seinen unruhigen Schlaf alter Männer, Dachsteine den Schlaf schwerer Vögel, die Fenster, die Treppengeländer und Stufen den ihren: Traumlos und unruhig. Pflastersteine bewegen sich, blind oder mit geschlossenen Augen, beharrlich... Wohin? Wir wissen es nicht. Es schläft die Asche mit dem Regen vom Vortag, im Erdreich schlafen Knochen und Scherben, schläft Schutt. Bäume schlafen im Stehen, kaum dass sie noch atmen; Vögel im Sitzen, den Kopf unterm Arm, bedroht von den Katzenzähnen des Traums und tatsächlich.
Es schläft wer kann und träumt: Bildbände und abenteuerliche Reisen, zärtliche Begegnungen, die Arbeit im Laufrad, Worte und Seufzer, das Heimweh im Herzen noch einmal, Hoffnung, Furcht und Freude, den Schrecken noch einmal, in Bildern und Gesten Trost. Träume von Träumern, geträumt in einer Nacht: Man kann sie nicht sehen, aber hören. Pssst!
Bürgermeister träumen von vollen Kassen, Polizisten folgen schwarzen Limousinen, der Fassadengekko rüstet den Traum ein eines Zimmermanns. Ein Fräulein fragt ein Herrlein, womit das jetzt geht? Sie heißen Winterstein? Dass sie sich da mal nicht irren. Ich bin einer, flüstert die Krankenschwester ins Laken: Liebes Laken. Während Doktoren die Hand auflegen und Rechtsanwälte die ihre schließen, zählen Bäcker Rosinen ab - immer zu fünft - und übergießen die Gattin mit Schokolade. Fleischer treiben Schweinchen aus Marzipan und Architekten langsam dahin, in grün durchsonnten Aquarien.
Mein Schiff fährt halb Sechs, sagt Holger im Hafen, spuckt ins brackige Wasser und packt das Geländer: Schiff Ahoi! Der Luftfahrer Georg in Georg kramt im Seesack der geflochtenen Gondel des Luftschiffs Hamlet, wirft die Jakobstäbe hinaus, die Sextanten, Astrolabien und Sternkarten, das Engelbestimmungsbuch Ullrichs des Ornithologen, die Harpunen, Stehleitern und Feldtelephone... Wir brauchen Platz, sagt er, für zwei Kisten Weißwein und Sprudel und Adloffs Aechten Alten Jamaika Seefahrer Rum, 2000 Bücher und dich, schöne Wega. Dann salutiert er und singt "Happy birthday", winkt und hebt das Glas: Ich liebe dich sehr. Schmuck sieht er aus in seiner Kluft eines aeronautischen Korvettenkapitäns aller fünf Sonnen, sauber rasiert noch vom Morgen her und fröhlich grünen Geäugs... Franz - ganz in Weiß - pflückt das Ding von der roten Zipfelmütze und wirft es in die Pfanne zurück. Gleichgültigkeit, sagt er, ist kein schöner Tod - aber da ist sie ja; nimmt den Skat auf und brüllt: Tooooor! Was hast du auf dem Herzen, sagt Jesse vom Ende des Tresens her, hoffentlich doch nicht Grind? Um eine Wohnung zu kriegen, die einem gefällt, und eine Frau, die einen eigentlich will, ist alles erlaubt. Lady Winter in Rot sitzt im Garten ihres irischen Landhauses am Roten Meer und sagt gar nichts. Ugarte schnickt mit den Fingern beider Hände: Wisst ihr... Eine Zigarette wird's noch. Damit haben wir bewiesen, dass wir auch mit Drogen verantwortungsbewusst umgehen können, antwortet Thomas, rutscht vom Stuhl und betrachtet den diesigen Himmel über Piräus - sehr, sehr nachdenklich...
In etlichen Träumen geht das Licht an, in anderen aus, Gongschläge und Schiffssirenen sind Weckuhren, Polizisten lassen die Limousinen fahren, Bürgermeister suchen verzweifelt ihre Schuhe und Radiosprecherinnen ihre Stimmen hervor, Wasserhähne rauschen und Bürsten scheuern, Tassen klappern und Messer streichen, Füße trappeln treppab, Autos starten, Bäume hohlen tief Luft... Vögel erwachen mit wildem Geschrei - entkommen - und die Stadt fährt auf mit Brausen. (Gregor Kunz, 2000)


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