Ich kann für dieses Jahrzehnt nicht klagen. Über Nebenwirkungen, Nerven, Narrheit und Verwirrung oder Was trieb Othello in den Wahnsinn?

(92.)

Schön ist die Liebe und das Lieben ist gut. Aber leider steht zuvor das Verlieben und kommt die Trennung irgendwann nach. Verliebtsein ist so komisch wie anstrengend und Trennungen sind widerlich. Vermutlich ist das der Evolution zu danken, der Vorsehung, den Genen oder irgendeinem tollen Einfall jenes übernervösen Affen, der als erster aus dem Tanganjikagraben herauskam. Klar ist das ein Trick. Ohne Nerven wie Schiffstaue ist der Mensch nicht lebensfähig. Ergo: Ohne Nerven wie Drahtseile keine Vermehrung. Aus diesen und anderen Gründen. Wahrscheinlich war es schon eingangs nicht anders: Männer und Frauen passen nie richtig zusammen. Schon bei Lucie und Lucius flogen die Fetzen. Aber was blieb und was bleibt ihnen weiter übrig. Arbeiten und beten, öfter gut Essen oder Fußballgucken, Politik und Stricken. So toll ist das auch nicht.
Verliebt sein hat etwas vertrackt zwei- und mehrdeutiges, ganz wie es die Sprache haben will, wenn sie Worte mit Ver- anfangen läßt. "Ver-... mit der Grundbedeutung vorwärts, weg, die entweder in den Begriff des Gänzlichen, bis zur Vollendung Beharrenden, oder in den des Verkehrten, Unrichtigen, des Zuviel oder Zulange verläuft und von da aus in mancherlei Schillerungen der Bedeutung sich zeigt." Auf Vollendung beharren, zuviel und zu lange und durch alle Schillerungen hindurch, vorwärts und weg. Schillerungen ist gut. Verlangen, verlieren, verehren, verleugnen, verharren, vergeben, vertrauen, verlassen, verbinden, verbleiben, verblenden, verblöden, verbleuen, verblüffen, verdanken, verderben, verzehren, verdauen... Das ist weder einfach noch leicht und ohne partielle Unzurechnungsfähigkeit nicht zu haben. Entsprechend erinnern frisch Verliebte öfter an Beckett-Figuren: Sie reden extrem viel Blech und haben einen vernagelten Horizont.
Trennungen riechen schlecht, sind nicht gut für die Ohren, den Augen ein Greuel und schlecht für die Seele. Fast möchte man daran glauben: Wir sind nicht zum Spaß auf dieser Welt. Die Formulierung "sich trennen" gellt an sich schon widerlich, ist Widersinn und allenfalls - siehe oben - dialektisch zu verstehen. Sich ver-trennen wäre jedenfalls genauer. Trennungen verwirren anhaltend oder machen ganz dumm. Unter anderem weil es für Trennungen entschieden mehr Gründe gibt, als für ihr Gegenteil.
Trotz und Verstummen, Resignation und Adieu, das geht ja noch. Aber, wenn sich zwei erwachsene Menschen unversehens in heillos wütende Halbidioten verwandeln oder in die Scheusale, die sie jüngst im jeweils anderen ausgemacht haben wollen. Du hast... Ich habe... Wer hat... Schon immer... (Massenhaft Schimpfworte, die wir hier nicht wiederholen wollen.) Die Sache hat etwas von einer Rückabwicklung in Narrheit und kann sich durchaus ins Autoaggressive auswachsen. Im Film sagt die depperte Heldin denn auch regelmäßig: Ich habe dich nie... und wird prompt erschossen. Selber schuld, möchte man ausrufen und: Wenn schon Dramen, dann Othello. Aber das ist herzlos und verhilft allenfalls den Psychologen und der Gerichtsmedizin zu wertvollen Einblicken.
Im täglichen Leben bleibt es eher bei Wutausbrüchen im Wechsel mit Heulkrämpfen, Tabletten-, Therapeuten- und Alkoholmißbrauch, Geschirrzerstörung und Haareausraufen. Das Bewusstsein von der Vergänglichkeit alles Irdischen verwandelt sich jäh in ein schon immer Gewußthaben, schön in häßlich, Mögen in Unvermögen, Anteilnahme in Anteile, Kinder in Sachen... Hätten Horckheimer und Adorno ihren nicht geringen Verstand an wirklich wichtige Dinge gewandt, wäre der Hinweis auf den "Verblendungszusammenhang" jetzt wohl das Gegebene. Am Ende ist es nicht mehr so sehr die Trennung, die weh tut.
Ich kann für dieses Jahrzehnt nicht klagen. Dunkel ist das Weltall, Genossen, sehr dunkel, sagte unlängst Gagarin und hatte recht damit. (Gregor Kunz, 1999)


zurück