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Frühling ist uncool. Ich glaube, man sagt so. Oder: Das ist ein Scheiß-Frühjahr, ist es nicht? Diesen verregneten Sonntag lang und generell. Grau ist keine Farbe, Grün muß passen und überhaupt erinnert jedes zweite Gesicht an Joschka "Mit Verlaub, Sie sind ein Arschloch" Fischer: das heißt, an den zweiten Krieg "nach der Wende", an die gewendete Ohnmacht und jedwede Niedertracht. Niedertracht steht etwa in der Mitte der nach oben offenen Schäbigkeitsskala. Systemabhängig oder systemkonform? Das mögen die Philologen unter sich ausmachen.
Manchmal, da mögen sie ihre Bomben feiern wie sie wollen, manchmal ist immer noch etwas mehr Freude als Krieg. Nicht in der Welt, nur unter meiner Jacke. Ich werde den Teufel tun und meinen Kadaver fragen, wie der das meint. Der läuft und trägt mein Hirn herum und grinst in den Regen bzw. die bunten Blutkörperchen an. Na, sagt der, heute schon gegrinst? Ihr seht ganz schön bunt aus. Iss Frühling, ja? Als ob die das nicht wüßten. Die und die Knochen, Knorpel, alle Organe, die Jahresringe im sehr dicken Fell. Auch die Ohren? Auch die Ohren.
Völlig verpeilt: das ist daneben, nicht wahr? Verschlafen? O mein Gott, da ist jemand völlig unglücklich, sagt die Stimme ins Telefon und meint nicht mich. Individualisten sehen so egal aus, außer wenn sie telefonieren. Da lebt ihr Gesicht auf, als würden sie wirklich meinen, was sie sagen. Du wohnst in dem Eingang, wo ich dich getroffen habe? Die Kasse stimmt, bis auf 62 Mark. Das ist ein häßliches Kind. Du bist eine gute Reinigungskraft. Bitte warten, Sie werden verbunden. Humanitäre Luftschläge klingt hingegen wie Freikörperkultur und Lebensreform und Kraft durch Freude mal Freude minus Straßenbegleitgrün. Artikulierter jedenfalls als das Schreien der weichen Ziele im Splittergraben.
Schon recht, die Sprache lügt nicht. Die Sprache rächt sich. Ein Antrag auf emotionale Zuwendung in achtfacher Ausfertigung entspricht den Mindestanforderungen der zweiten Hälfte des ersten Jahresquartals. Auch wurden im Berichtszeitraum enorme Vegetationsfortschritte beobachtet, nichtidentifizierbare Personen in großer Stückzahl und am Rande der Letalität. Mit Engpässen im hummtamonitären Sektor ist zu rechnen! Und mit Kontingentsgründen. Ist dann von apriltypischem Wetter die Rede oder vom Krieg, klingt's fast frivol. Weil's so wahr ist.
Nasse Straßen, nasse Katzen, nasse Hunde... Sei ein Hund, friß deine Scheiße. Nassen Hunden die eigene Traurigkeit ins Fell zu schmieren, empfiehlt sich nicht. Die Jacke ist naß und riecht nach Herbst, Stearin, irländischen Flußufern, Whiskey und Falten. Die Hände in den Taschen wühlen im Winter herum. Winter, das sind Tabakkrümel, verschollene Zettel, Knöpfe, denen eine Aufgabe fehlt und Fusseln. Naß sind die Haare, die halbstarren Baumstämme, das schöne Gestein, das Laub noch vom Vorjahr, alle Plakate: Eros-Messe, Windhundrennen, Sandow.
Verfluchte Melancholie, verfluchte Ohnmacht. Auf hundert Fälle menschlicher Niedertracht kommt ein Fall menschlicher Größe. Auf den kommt es allein an und auf den ist zu wirken. Glaubte wenigstens Goethe, in seiner Zeit. Soll heutzutage einer Idiot geschimpft werden, geht der Verweis zuverlässig ins 19. Jahrhundert. Du mußt ein Funktionär sein oder unmodern. Aber bitte, aber gern.
Nasse Gehsteigkanten, Katzen beim Lecken des Fells, Hunde beim Flöhen, Punks am Rande des Nervenzusammenbruchs, Stare im Gras, Holzstücke, Kies und Schlamm... "Haste mal 'ne Mark fürn antifaschistischen Umtrunk?" Aber das hatten wir schon. Schöne Gesten. Das hatten wir noch nicht. Jedes zweite Gesicht erinnert an sich selbst, ist belebte Landschaft, sagt: na wenn schon, Alter, Frühling wird's und überhaupt; junger Mann, so geht's nicht. Warum nicht? Kein Kommentar. Im übrigen bin ich der Meinung, daß dieser Krieg aufhören muß. (Gregor Kunz, 1999)


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