Das Aufschlagen des Körpers des Diebes im Fels. Bruchstücke einer allgemeinen Theorie des Kinos: Am Eingang stand der Höhlenbär

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Wenn die Leute aus dem Kino kommen, ist der Film noch nicht vorbei. Mein Gott, denkt sie, daß ist alles nicht wahr. O mein Gott, sagt er, laß uns was trinken gehen.
Das Kino ähnelt der Höhle, aus der das vernunftgeschüttelte Hordentier begann, die Welt gelassener anzusehen und in der es mit deren Abbildung anfing. Freilich, eine Wand war durchlässig, nach beiden Seiten, auch wenn das Feuer brannte und die gefährliche Welt ins Außen schob. Der Bär blieb ein Bär und war immer mit Vorsicht zu behandeln, auch wenn er Abbild war, Clanchef, Großväterchen, Prinzip Hoffnung, Kamerad Gulasch. Gelegentlich brach er durch den Rauch und fraß sein fasziniertes Publikum.
Gleichwohl war die Höhle geschütztes Territorium, in dem anders zu hören, zu sehen und zu fühlen ging, als etwa auf der Jagd oder in der Flucht. Das Bedrohliche blieb als Bild und Nachtgeräusch, Vorstellung und Erzählung erlebbar, aber in der relativ sicheren Entfernung, die das Gruseln zuläßt. Kinder bauen heute noch gern Höhlen, in die sie sich bei Ärger zurückziehen, als auch einnisten um des Vergnügens willen. Beispielsweise um einen Schokoladenosterhasen aufzuessen, Beobachtungen anzustellen oder um ein längeres Gespräch mit Gott und der Welt zu führen. Gott und die Welt mögen dabei ein Teddy sein oder gar nichts, und zur Höhle genügt ein verhängter Tisch. Erwachsene gehen ins Kino.
Erwachsene Griechen gingen ihrerseits ins Amphitheater, um den Charaktermasken des Schicksals zuzusehen, die das Geschäft der nächtens brüllenden Raubtiere übernommen hatten und Tragödie spielten. Um im Spiel und bei der Läuterung bleiben zu können, brauchten Furcht und Schrecken allerdings eine Ableitung. Lachen befreit vom Hals an abwärts, wenn es rechtzeitig kommt. Das Mittel der Wahl waren Satyrspiele. Als die mit der fortschreitenden Abhärtung des Publikums weggelassen werden konnten, war deren Weg in die Komödie frei. Im Kino mischt sich das allerdings wieder und öfter unglücklich.
Kino führt vor, Angenehmes gedrängt an Unangenehmes, Sensationen in äußerster Kürze: Küssen und Streicheln, die Axt im einzigen Schädel, Vögeln und Folter, Essen und Trinken, Autofahren, Landschaft und von Erfolg gekröntes Handeln, das Aufschlagen des Körpers des Diebes im Fels, den Sieg im Krieg der Geschlechter und den Lack vorm Puppentanz der Centauren, Krieg und Frieda und menschliche Gesten, kluge Worte, flotte Sprüche und grottengraues Krächzen, Neonblabla und Scheißmonologe... Männer, wenn ich liegenbleibe, erwarte ich dasselbe von euch. Ich habe so gewartet: Laß mich nie wieder allein. Du bist ein Arschloch, ich bring dich um. Schau mir in die Augen, Kleines...
Wenn die Leute das Kino verlassen, reden sie anders, sehen anders, gehen anders. Im Blick kreiseln die Bilder und verspiegeln die Realität der Treppe, des Foyers, der Zigarettenreklame. In hochgezogenen Schultern zuckt irgendwas, der Rückstoß des Gewehrs oder irgendeines Süßen, Ganoven, Helden, Finsterlings. Noch wollen die Füße nicht so recht, Kenntnis nehmen, nehme ich an, vom Ernst des Lebens und der heiteren Seite des Vollmonds. Außerdem steht das Kino schief. Ebenso geht's in die Ohren nur langsam hinein: Ohren gehen nicht freizuhüsteln, leider. Am längsten rappelts im Hirn: Projektile und Melodiestücken finden den Ausgang nicht, Satzfetzen irren verzweifelt, Busen rangeln mit Ellenbogen und schnatternden Gänsen. Wenigstens Bauch und Kehle sind sich einig: Durst.
Man sollte ihnen glauben. Sie sind - nächst der Blase - das einzige am Kinogänger, was sofort wieder zuverlässig funktioniert. Wenigstens sollte niemand allein nach Hause gehen, solange die Straßenbahn durch New York fährt und jede Glühbirne einen Revolver assoziiert. In ein ordentliches Kino gehört ein Ausschank: Soviel Realität muß sein. (Gregor Kunz, 1999)


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