Mit halbwegs offener Nase durch die Zeitbahnhöfe - Klappe die Zweite. Von nassen Fellen, Denkmälern und winkenden Gespenstern - Pyrrx ist zurück



(12.)

Die Bahnhöfe der 80er Jahre rochen und sahen aus wie die Bahnhöfe der siebziger Jahre. Aber es war nicht dasselbe. Alles war mehr oder weniger. Meistens weniger. Gerüche, die eigene Wege gingen, Farben die ihre Farbe verloren, Fahrscheine aus blassem zaghaften Papier, zögernde Bewegungen, unentschlossene Gesten.
Als die 80er Jahre anfingen, trug ich den Rock des Kaisers, der auch das Ehrenkleid des Staatsratsvorsitzenden war und dessen Geruch an einen nassen und unendlich traurigen Hund erinnerte. Die Knöpfe waren aus Aluminium. Aluminium ist ein unangenehmes Metall, von verschlagenem Charakter. Es klebt, wenn man es anfaßt.
Wenn ich in einen der Züge stieg, früh um halb fünf, war ich benommen vor Müdigkeit und mutlos, von der Pflicht oder der Zeit oder von beiden. Zwischen den Gleisen lag Schotter, aber bis auf einige Flecken und die Glut weggeworfener Zigaretten war nichts zu sehen. Das Licht über den Laternen neben den Gleisen ähnelte dem Stoff zu oft gewaschener, ehemals grüner Hemden, die ein ehemals roter Faden zusammenhielt. Einmal die Woche fuhr ich an Dörfern vorbei, die aus einem kühlen freudlosen 19. Jahrhundert stammten und an einem riesigen Kraftwerk, an dem noch gebaut wurde. Die Häuser in den Dörfern waren aus roten Backsteinen und gespaltenem Feldstein. Zwischen den Feldsteinen waren kleine Stücken Schlacke oder Koks in den Mörtel gedrückt worden, vor achtzig oder neunzig Jahren. Unter den Häusern lag Kohle.
(Als ich frei kam, Anfang Mai, kaufte ich vier Flaschen Rotwein (bulgarischen) und umging die Bahnhöfe. In einem der Häuser, deren Bewohner weggezogen waren oder gestorben, fand ich eine Schnur mit handgemachten violetten Glasperlen, einen längsgefalteten Bogen auf dem ein Spruch stand, den ich nicht verstand, die grünen Flaschen verschollener Brauereien und ein Bild des ersten Wilhelm. Der und sein Enkel hatten sich aus Leuten wie mir ein Denkmal errichtet. Das des letzteren war vier Jahre lang, vier Jahre breit und verbrauchte anderthalb Millionen der eigenen Soldaten. Glück gehabt.)
Die Bahnhöfe der frühen achtziger Jahre rochen nach altem Schnee, nach Abschieden, nach kalter Bohnensuppe, Ölfarbe, geschmolzenem Teer, heruntergefallenen Bierflaschen und Maiglöckchenparfum. Die Papierkörbe waren aus Beton und die Züge fingen an, gestreift auszusehen. Das Grün hatte deutlich an Kraft verloren, aber gelegentlich schlossen die Waggons ein ungeheures Blau ein, oder das Gespenst einer alten Frau in einer Bahnhofswirtschaft, die ein einzelnes Bierglas etliche Minuten lang auf einem Tablett durch den Raum trug, vier mal vier Meter voller Rauch.
Die Bahnhöfe der späten Achtziger rochen so wie ein Eis riecht, das zehn Jahre Zeit hatte, eine Backsteinmauer hinunterzulaufen. Auf den Ziegeln lagen Öl, Ruß, Staub, Zeit und etliche Versuche, sie verschwinden zu lassen. Zuunterst stand ein Wort, ein Spruch oder eine Prophezeiung. Wenn einer aus dem Urinal kam, rechts und links angepißt, dann war es jedenfalls nicht John Wayne, sondern allenfalls Frank Schöbel oder das Opfer eines miesen Scherzes.
("Schlicht erzählen wie die vergessene Kunst/ desto mächtiger blendet mich ein Garten inmitten des Satzes/ oder eine Latrine gleichgültig was..." (Nezval) Das Buch hatte ich am Vortag in Dresden am Schillerplatz gekauft, noch ohne zu wissen warum. Bei Pulsnitz zwang es den Zug zum halten. Regen und Nebel gaben der Landschaft das Aussehen eines im Wasser treibenden Heupferds, verzweifelt lebendig.)
Die Bahnhöfe der Neunziger riechen nach nasser Farbe, Kalkstaub, nach herausgerissenen Bänken - Ordnung und Sicherheit, wie man so sagt - nach Fensterputzmitteln und Blendung, heißer Luft, nach Computern, Arbeitsplatzabbau und Deregulierung, nach Öl, Knüllpapier und sortiertem Müll.
Die Bahnhöfe des Jahres Sechsundneunzig wollen nach gar nichts riechen. Genauer gesagt, sie tun so, als wären sie nicht, was sie sind: Bahnhöfe. Die Bahnhöfe der Neunziger wissen Bescheid. Wie sollten sie nicht.
(Ihre Nase bewegte sich beim Reden, wie sonst auch. Wir hatten ein Jahr lang gut zusammengelebt. Das würde in vier Minuten zu Ende gehen. "Weinst Du?") (Gregor Kunz, 1996)




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