Bahnhöfe, das lernte ich
schon als Kind, riechen nach Bahnhöfen und sind dreckig. Als ich ein
kleiner Junge war, 5 Jahre alt, rochen die Bahnhöfe nach dem Öl auf dem
Schotter der Gleise und dem Öl und der Kohle der Lokomotiven, nach
Hitze, nach Dampf und Funken und Schornsteinen, nach
eierschalenfarbenen Pappkärtchen, nach Salem Gold und Turf, Sevt und
Casino, nach Bier und Roter Brause mit Plopp. Die Männer, die in ihnen
herumliefen, hatten dunkle Jacketts an, Hüte und Mützen, Trenchcoats,
ölverschmierte blaue Jacken und dunkelblaue Uniformen mit
Aluminiumknöpfen. Sie hielten zusammengerollte Zeitungen in den Händen
(FUWO, BZA, ND), Einkaufsnetze mit Ledergriffen, Koffer und große
Aktentaschen aus genarbtem Leder. Die Taschen der Frauen waren ziemlich
groß, kunstledern und hatten zwei Henkel. Ihre Kleider waren bedruckt
mit Blumen, weiß-blau oder sonstwie gestreift. Manchmal schillerten sie
blaßgrün wie die Rückwand der überschweren Wohnzimmeranrichten.
Was den Schmutz anging, ein Gemisch aus Staub, Ölniederschlag, Ruß und
Zeit, so klebte er, und zwar an allem. Zwischen den Gleisen und in den
Papierkörben aus gestanztem Blech lagen Zigarettenstummel, gewachstes
blasses Bonbonpapier, Zeitungsfetzen, abgebrannte Streichhölzer,
Zigarettenschachteln. Die Papierkörbe waren grün.
(Zwischen dem weißgrauen Kleinpflaster des Bahnsteigs arbeiteten die
Erdbienen und an der Tafel hätte ich lesen können, wenn ich lesen
gekonnt hätte, weiß auf rot: Wir kämpfen für ein einheitliches,
friedliebendes, demokratisches Deutschland! "Die kriegen keine Luft",
sagte ich. "Die atmen mit dem Hintern", sagte mein Vater. Zwischen
Berlin und Stendal mußte man dreimal umsteigen und auf den Zug nach
Tangermünde lange warten. Im Dunkeln sausten die Funken am Fenster
vorbei.)
In den siebziger Jahren rochen die Züge nach Öl, nach verbranntem
Dieselkraftstoff und verschwitzten Hemden, nach Hemden und Blusen aus
Kunststoff, Kunststoffsitzen, Studentenkutten mit Webpelzfutter,
Aluminium, Florenaseife, chinesischen Nietenhosen,
Textilfärbetabletten, mit Männlein bekritzelten Fahrkarten die in
Reklam-Bändchen lagen, Rotwein (Bärenblut) mit süßem Tee, nach F6 und
Duett, DS und Kruja, Club und alter Juwel, Lunikoff, Cottbuser Plörre
und Dresdner Gelbkreuz.
Der Schotter sah braun aus, wie gepudert, das Öl glänzte schwarz in der
Sonne, auf den Steinen und auf den rostfleckigen Betonschwellen. Unter
den Zügen lagen Kronkorken, Bockwurstpappen mit Senf, Glasscherben,
Kippen. Es roch nach früher, nach gefährlich weit weg, nach
Erwartungsstarre und Fürsorge, nach Stiefmütterchen, nach Haut und
Verwirrung. Die Waggons waren immer noch grün, mit gelblichen Zahlen
und Buchstaben beschriftet, die Bahndämme mit Flieder bestanden, mit
Rhobinien, Goldruten, Knallerbsen.
Der Bahnhof von Cottbus bestand aus Bahnsteigen, einer Art Eingang mit
nichts darüber, dunkel und mit Schaltern drin, einem Gepäckbau mit
Rampe und einer Kneipe, deren Farben die eines stockfleckigen Duden aus
den 40ern waren. Von Oben sah das ganze wie ein L aus. Hinter dem
Durchgang war eine Freifläche, wellig, ungleichmäßig gepflastert, auf
der zwei Kioske standen. In dem einen, quadratisch und aus
gelbgestrichenem Metall, gab es Zeitungen und Bücher, im anderen,
blaßgrüne Pappe und Holz, wurden Bier, Bockwurst und Zigaretten
verkauft.
(Eine Woche später kaufte ich "Krieg und Frieden" und während ich auf
den Zug wartete, warteten die Soldaten auf dem Feld, wenn sie nicht
starben oder schrien oder in den Himmel starrten wie Fürst Andrej.
Dresden war die Kunststadt und gefiel mir sehr und hatte, da wo es
nicht grün war und staubig, unter den blaßblauen Himmeln die Farbe
vertrockneten Rosinenbrots. Am Nachmittag saß ich vor dem Albertinum in
der Sonne und fror. Ich hatte Fieber bekommen und auf der Rückfahrt
träumte ich von Farben, goldbraun, gelb und den Tönen dazwischen, die
schwarze Ränder hatten. Die Farben bewegten sich wie Schwungräder um
ihren irregulären Schwerpunkt und waren ich.) (Gregor Kunz, 1996)