Mit halbwegs offener Nase durch die Zeitbahnhöfe - Klappe die Erste. Von Farben, Tabaktrinkern und Artilleristen - Neues vom Reisenden Pyrrx

(11.)

Bahnhöfe, das lernte ich schon als Kind, riechen nach Bahnhöfen und sind dreckig. Als ich ein kleiner Junge war, 5 Jahre alt, rochen die Bahnhöfe nach dem Öl auf dem Schotter der Gleise und dem Öl und der Kohle der Lokomotiven, nach Hitze, nach Dampf und Funken und Schornsteinen, nach eierschalenfarbenen Pappkärtchen, nach Salem Gold und Turf, Sevt und Casino, nach Bier und Roter Brause mit Plopp. Die Männer, die in ihnen herumliefen, hatten dunkle Jacketts an, Hüte und Mützen, Trenchcoats, ölverschmierte blaue Jacken und dunkelblaue Uniformen mit Aluminiumknöpfen. Sie hielten zusammengerollte Zeitungen in den Händen (FUWO, BZA, ND), Einkaufsnetze mit Ledergriffen, Koffer und große Aktentaschen aus genarbtem Leder. Die Taschen der Frauen waren ziemlich groß, kunstledern und hatten zwei Henkel. Ihre Kleider waren bedruckt mit Blumen, weiß-blau oder sonstwie gestreift. Manchmal schillerten sie blaßgrün wie die Rückwand der überschweren Wohnzimmeranrichten.
Was den Schmutz anging, ein Gemisch aus Staub, Ölniederschlag, Ruß und Zeit, so klebte er, und zwar an allem. Zwischen den Gleisen und in den Papierkörben aus gestanztem Blech lagen Zigarettenstummel, gewachstes blasses Bonbonpapier, Zeitungsfetzen, abgebrannte Streichhölzer, Zigarettenschachteln. Die Papierkörbe waren grün.
(Zwischen dem weißgrauen Kleinpflaster des Bahnsteigs arbeiteten die Erdbienen und an der Tafel hätte ich lesen können, wenn ich lesen gekonnt hätte, weiß auf rot: Wir kämpfen für ein einheitliches, friedliebendes, demokratisches Deutschland! "Die kriegen keine Luft", sagte ich. "Die atmen mit dem Hintern", sagte mein Vater. Zwischen Berlin und Stendal mußte man dreimal umsteigen und auf den Zug nach Tangermünde lange warten. Im Dunkeln sausten die Funken am Fenster vorbei.)
In den siebziger Jahren rochen die Züge nach Öl, nach verbranntem Dieselkraftstoff und verschwitzten Hemden, nach Hemden und Blusen aus Kunststoff, Kunststoffsitzen, Studentenkutten mit Webpelzfutter, Aluminium, Florenaseife, chinesischen Nietenhosen, Textilfärbetabletten, mit Männlein bekritzelten Fahrkarten die in Reklam-Bändchen lagen, Rotwein (Bärenblut) mit süßem Tee, nach F6 und Duett, DS und Kruja, Club und alter Juwel, Lunikoff, Cottbuser Plörre und Dresdner Gelbkreuz.
Der Schotter sah braun aus, wie gepudert, das Öl glänzte schwarz in der Sonne, auf den Steinen und auf den rostfleckigen Betonschwellen. Unter den Zügen lagen Kronkorken, Bockwurstpappen mit Senf, Glasscherben, Kippen. Es roch nach früher, nach gefährlich weit weg, nach Erwartungsstarre und Fürsorge, nach Stiefmütterchen, nach Haut und Verwirrung. Die Waggons waren immer noch grün, mit gelblichen Zahlen und Buchstaben beschriftet, die Bahndämme mit Flieder bestanden, mit Rhobinien, Goldruten, Knallerbsen.
Der Bahnhof von Cottbus bestand aus Bahnsteigen, einer Art Eingang mit nichts darüber, dunkel und mit Schaltern drin, einem Gepäckbau mit Rampe und einer Kneipe, deren Farben die eines stockfleckigen Duden aus den 40ern waren. Von Oben sah das ganze wie ein L aus. Hinter dem Durchgang war eine Freifläche, wellig, ungleichmäßig gepflastert, auf der zwei Kioske standen. In dem einen, quadratisch und aus gelbgestrichenem Metall, gab es Zeitungen und Bücher, im anderen, blaßgrüne Pappe und Holz, wurden Bier, Bockwurst und Zigaretten verkauft.
(Eine Woche später kaufte ich "Krieg und Frieden" und während ich auf den Zug wartete, warteten die Soldaten auf dem Feld, wenn sie nicht starben oder schrien oder in den Himmel starrten wie Fürst Andrej. Dresden war die Kunststadt und gefiel mir sehr und hatte, da wo es nicht grün war und staubig, unter den blaßblauen Himmeln die Farbe vertrockneten Rosinenbrots. Am Nachmittag saß ich vor dem Albertinum in der Sonne und fror. Ich hatte Fieber bekommen und auf der Rückfahrt träumte ich von Farben, goldbraun, gelb und den Tönen dazwischen, die schwarze Ränder hatten. Die Farben bewegten sich wie Schwungräder um ihren irregulären Schwerpunkt und waren ich.) (Gregor Kunz, 1996)


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