Ein Phantom vor der Oper dreht drei Runden und verschwindet wieder

(3.)

Ein Himmel, blau, fast ohne Wolken. Man konnte glauben, es würde noch einmal Frühling. Über den Theaterplatz lief ein Bär. Sein Fell war braun, ausgeblichen und zottig. Das ist noch der Winter, dachte ich. Geknickte Grashalme hingen darin - fahlgelb - und fermentiertes Laub. Das ist noch der Herbst.
Der Bär schien verwirrt, lief ziellos, wie eben erwacht. Zögernd setzte er eine Tatze vor die andere. Ein seltsames Geräusch. Erst lief er sehr langsam, mit gesenktem Kopf, dann trabte er ein Stück. Mitten auf dem Platz fiel er in eine merkwürdige Art von Galopp. Nicht geradeaus, eher in Kurven, mitten durch die Tauben. Die stoben aufwärts, umrundeten das Theater oberhalb des Daches, stürzten im Halbkreis, verharrten mit ausgestellten Flügeln in den schaumigen Lüften und setzten auf. Sanft, wie Tauben sein können. Einen Meter hinter dem Bären. Der stand und guckte.
Vor dem Denkmal König Johanns hob der Bär die vorderen Pfoten ein Stück über den Boden und streckte den Kopf vor. Es gibt Leute, die glauben, Bären haben keine Hälse. Von wegen. Nach einigen Minuten - ich rieche, rieche, ja was nur? - schwankte das Tier nach links. Die Erde hatte es wieder.
Der Bär lief seine nächste Runde, die Tauben zeigten noch einmal ihr Können. Nach der dritten verschwand er im Eingang des Zwingers. Hast du nicht gesehen. Doch, hab ich. Ein zottiges Fell auf großen Füßen. Wo der große Kopf ist, ist vorn. Ich blieb, wo ich war. Wie Bären aussehen, weiß ich und wie sie sich benehmen im Allgemeinen auch. Ich für meinen Teil schätze das Angestarrtwerden auch nicht.
Weder ich noch der Bär waren allein auf dem Platz. Mindestens acht Japaner und mehr als dreißig Bayern bzw. Schwäbinnen photographierten einander vor diversen Baulichkeiten in Grund und Boden. Die Freunde des schönen Geldes führten ihre Mäntel aus und die Freunde der schönen Künste strebten den Alten Meistern zu, als kriegten sie Zielprämien. Die Kunden diverser Reiseunternehmen klumpten kakelnd, Busfahrer vertraten sich die Beine und qualmten wie die Dampfschiffe, der Mann an der Drehorgel trainierte seinen rechten Arm, das es nur so seine Art hatte. O du mein Heimatland.
Sonst noch was? Ja eben. Ein Bär auf dem Theaterplatz. Kopfloses Hin & Hergerenne, gellendes Kreischen - Ein Bär! Ein Bär! Ein Bäh-Bäh - Bä-ä-ä-r... - wildes Flüchten und Herzueilen, Ohnmachten, einsame Damenschuhe, qualmende Busse, die Wromm machen, ineinander verkeilte Wannen, Feuerwehren, Krisenstäbe wo man hinguckt, Ambulanzen, heldenhafte Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter, Absperrgitter und Fähnchen, Scharfschützen und Panzer, irres Kichern, fahrige Gesten, nackte ausgestreckte Zeigefinger, verlorene Regenschirme, Lautsprecherdurchsagen, Schaum, Prophezeiungen und Flüche... Nichts dergleichen.
Die Japaner umrundete das Tier im Bogen, mehrmals, wie ein Hirtenhund die Schafe. Sie gingen gemessenen Schritts, summten leise und zirpten, verträumt oder hellwach. Was weiß man denn. Die Oper ähnelt einem Mississippi-Dampfer und der Zwinger ist eine schöne Einfriedung aus Sandstein. Aber das ist auch schon alles. Die bayrische oder schwäbische Gruppe schnitt der Bär souverän. Fast schon rücksichtslos! Der Mensch schließlich ist kein Vogel und fliegen kann er auch nicht.
Hart am Sockel des belesenen Königs stand ein dunkler Mantel und stöberte im Reiseführer. Der Bär beroch ihn. Im Abgehen schubste er ihn ein wenig, d.h. zwangsläufig heftig. Der Mantel schwankte nach vorn, schaute nach rechts, nach links, hob die Schultern, rückte seine Brille zurecht und blätterte weiter. Das muß man gesehen haben, sprach er beiseite. Marianne! Hörst Du? Wirklich gesehen haben. Erfahren, wir, aha! Italien an der Elbe, eingeschritten in das Maß der Landschaft. Gut wie Geld. Das nehmen wir. Komm... Er ging.
Bären fressen im Herbst was das Zeug hält. Den Winter über schlafen sie. Wird es Frühling, schaut der Bär nach dem Rechten. Gefällt ihm nicht, was er sieht, dann schläft er weiter. Ein Bär auf dem Theaterplatz ist ein gutes Zeichen. Vor allem, wenn er länger bleibt. (Gregor Kunz, 1996)


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