Jäger und Beute, Jürgen Kessler und das Raunen der Geschichten



Bilder sind Bemächtigung und Vereinbarung, Angebot und Zugriff, diese hier jedenfalls. Worte ebenso. Aus Bildern und Worten wurden seit je Religionen gemacht, Kunst und Kult wurzeln hier miteinander, in einem frühen Punkt der Menschwerdung, einem Prozess, der andauert, sagen wir: unentschlossen auf der Stelle tritt. Jesus, der Kasper, hängt entsetzt am Kreuz und ebenso eine verwirrte Harlekina, an die Dinge genagelt und ihrerseits Ding, ein böser Witz im landleeren Raum. Frauen begegnen Männern, mit dem Messer oder auch nicht, hantieren rituell mit Pfeil und Bogen, begegnen sich selbst, auf der Jagd unter anderem. Mütter halten ihre Kinder fest oder werfen sie weg, mitsamt dem Tod und der Trauer, dem eigenen Wenigerwerden: Hau druff. Sie sind, was sie sind, Maria also und auch Niobe, Artemis und Medea, Andra und Eleonora (von Toledo, aber nicht nur). Fast immer ist ein Hund dabei und ganz sicher ist Kessler anwesend, raunen die sehr alte Geschichten.

Kesslers Bilder erinnern an Ikonen, nicht nur formal. Ikonen vermitteln zwischen diesseitigen und Jenseitswelten, den Gläubigen und ihrem Gott, wer oder was dieser auch sei. Farben, die relative Größe der zweidimensionalen Figuren und ihre Position, Perspektive und der oft abwesende Hintergrund: Alles bedeutet, ist Variation einer uralten Übereinkunft und von daher Symbol, schon nah an der Schrift. Trotzdem benennen die häufigen Inschriften das Dargestellte oder auch Abwesenheiten noch einmal, da nur Gott nicht irrt. Ikonen vergegenwärtigen Wahrheiten, sie sind Fenster.
Kessler hält da eine Verbindung, die seinerseits aber mit Religion, mit Glauben kaum zu tun hat, wohl aber mit der Ritualisierung von Herkunft und Handeln, der Bearbeitung von existenziellen Gründen. Eine Leerstelle scheint mir dazuzugehören, eine dunkle Basis und ein weit flüchtigeres Wozu, ein festeres Darum und ein Abstand, gewahrt womöglich zu allem. Er habe mit der Formsprache des Religiösen, mit der christlichen Ikonographie in seiner Arbeit als Restaurator sehr häufig zu tun. Was er möge, sei aber weit mehr das Archaische, die Volkskunst, das Naive, da, wo das Herz spricht. Außerdem Picasso und Klee, Jean Michel Basquiat.

Frauen in Rollen sind das große Thema, Frauen als Mutter, Objekt der Begierde, Opfer und Täter, Jäger und Beute. Er wäre selbst Jäger, sagt Kessler, ein vorsichtiger Eroberer und selbst das Tier, das gejagt wird. Wiewohl von Anfang an in seinen Arbeiten gegenwärtig, erreichte dieses Thema sein Bewusstsein spät. Aus diesem Bewusstwerden des Themas resultiere die Bewegung seiner Arbeiten weg vom Stilisierten und hin zum Konkreten. Der Hund bin Ich; das Tier in seinen Aktionen und Konstellationen verkörpert Aspekte des Selbst.
Nach seinen Gründen gefragt, verweist der Künstler auf seine Biographie, eine böse Kindheit im langen deutschen Nachkrieg und die Träume seines Lebens. Fragt man die Bilder, sprechen sie von Begehren und Abwehr, Sex und Gewalt, von Angst und Lust und ihrer Verschränkung, von Schönheit und Sehnsucht, Verlusten. Sowohl die Blätter als auch die Figuren darin haben einiges hinter sich und vor sich auch.
Relativ sicher agieren Farbe und Struktur in der suchenden Bewegung. Von flüchtigerer Substanz erscheinen hingegen die meisten gesetzten Dinge, an sich und im Bild: Schuh und Fisch, Bogen und Blume, Mensch und Hund, die weithin abwesenden Orte und das Weltall drumherum, Reichtum und Armut, Tag und Nacht. Auf den ersten Blick wenigstens, im zweiten ist dann schon wieder etwas anderes. „Dunkel ist das Weltall, Genossen, sehr dunkel“, meinte unlängst Juri Gagarin und hatte recht damit.

Seine Bilder kommen nicht von der Idee her, sondern häufig aus der Farbe selbst, ihrem verwandten, sprechenden Wesen. Auch die Formen kämen nicht aus der Erscheinung. Der Ausdruck wäre wichtig, wichtiger als der Inhalt, der käme dann schon, wenn es ein gutes Blatt wird. Farben setzt das Gefühl: „Brillianz, da leg ich keinen Wert drauf. Ich erschmecke mir die Farben, ich mische ewig, bis ich an mein Rot heran komme.“
Er arbeite, bis er einer ungefähren Vorstellung nahe sei, überarbeite und überschreibe, das könne dauern. Im Mit- und Gegeneinander der Arbeitsprozesse, im Dialog mit dem Material verändert die Arbeit das vage Vorhaben, ermöglicht und beschädigt das Vorhaben die Arbeit. Was nicht geht, das geht nicht. Die Blätter bleiben dann liegen, werden später wieder aufgenommen, gelegentlich auch exhumiert. Es geht nicht um Fügung, es geht um Übereinstimmung, um eine Übereinkunft, die auch eine Entdeckung sein kann.
Einen Sinn in der Arbeit/ in der Kunst finden wollen, kann schief gehen und enden in Verzweiflung. Der Vorsatz ist wichtig und ehrenwert sowieso, das Gelingen ist Glück oder wenigstens nah dran. Glück wird in Gramm gemessen, oder irre ich da? Und der Mond? Sichel und Banane, die Sonne, der Pfeil... Was die Blätter wollen, bekommen sie endlich auch, also was wären sie ohne das? Und wir?

Warum macht einer, was er macht? Weil er nicht anders kann, wäre eine nahe liegende Antwort, die eine längere Betrachtung der Bilder zu bestätigen scheint als auch zurückzuweisen.
Kesslers Inventar ist schnell hererzählt, seine Welt aber kaum auszuschreiten. Tiere und die Disparatheit menschlicher Existenz gehen in ihr um, das ernste Spiel mit Identitäten, die Fragen nach Sinn und die Befragung des Sinns. Tiere gibt es und Menschen gibt es, im bunten Grauen einer rast- und ratlosen Mittelschicht behaust, im Verhau der Dinge, in Abgrenzungsgehegen, zu Hause, nun ja, oder gefangen.
Ob es noch etwas anderes gibt? Ins Büro rennen, Schuhe kaufen und Möhren anbeten, Vögeln und Fußball gucken und über Marken/ Identitäten reden, so gut oder nötig das sein mag, es reicht doch nie. Meist aber muss es. Lieben oder wenigstens nicht töten, aus dem Macht-Panzer steigen oder aus dem Ich-Panzer heraus, Höhlenmaler in Dortwo, Detektiv im Film Noir, Partisan im Niemandsland, Indianer in der Jagd: Es gibt noch mehr, was nicht geht. Die Welt als Hut auf dem Kopf tragen oder ein Haus, das Ich als Kostüm im 365tägigen Fasching, das Geschlecht wechseln, die Art oder wenigstens den Namen. Das wär's doch.
Männer und Frauen sind Kinder von Eltern und nicht nur das Unglück vererbt sich. Das Ich ist etwas Flüchtiges, sein Aufenthalt sind Prozesse, wenn man das weiß, lebt es sich besser. In der Regel aber haust man sich ein in gedehnter Panik, im behaupteten oder angenommenen Ich, im Puppenhaften, zappelt am Draht. Ups! Wer durch die Finger sieht, sieht was?

Eleonora, so wie sie dasteht, fast allein mit dem Prinzip Blume, ist ein Bild der Tapferkeit. Wenn sie einmal da sind, kann man Kinder auch lieben, sich und andere an der Hand nehmen und beim Wort. Ein Mensch bedarf des anderen, erst recht seit Gott tot ist. Und die Zahlen? Es gibt sie. Wohin wird sie gehen, die Frau mit ihrer Pistole? Forschen Schritts jemandem entgegen, in ein anderes Leben, gewiss. Entkommen wird sie sich nicht, aber der Versuch wird sie verändern.
Jeder Aufruf eines konkreten Weltzustands enthält Alternativen, noch in der Leere des Vollzugs steckt ein Rest Utopie, positiv und negativ, stecken Sehnsucht und Verlangen, gut verlarvte Alternativen, die sich entzogen haben oder abgewählt worden sind. Kesslers Blätter, meine ich, beziehen einen Teil ihrer Energie von daher, aus dem Widerspruch, wenn sie auch stets Distanz wahren.
Kessler, so sieht es aus, delegiert Annahmen und Fragen an Farbe und Struktur, die Bilder antworten nach bestem Wissen, womöglich mehr und jedenfalls auch anderes, als der Künstler weiß. Kunst füge der Welt Wesentliches hinzu, was anders nicht zu haben ist…


Jürgen G. Keßler ist Jahrgang 1951. Er stammt aus Freital bei Dresden, hat von 1977 – 82 an der HfBK Dresden studiert und lebt seit 1984 in Kassel.

(Gregor Kunz, 2011)

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