Vom Auffinden des Rätselhaften: Hans-Jürgen Reichelt



Der Neubau in Dresdens Neustadt ist ein häßliches Ding, hier abgestellt vermutlich, weil grad Platz war. Aber die Aussicht ist schön. Schaut Hans-Jürgen Reichelt aus seinen rückwärtigen Fenstern, sieht er die Sächsisch-Böhmische Schweiz mit dem Hohen Schneeberg und im Anschluss ein Stück östliches Erzgebirge.
Reichelt kommt aus der Gegend, noch ein Stück weiter westlich, aus Olbernhau. Da wurde er geboren, 1956. Er hat in Potsdam Restaurator studiert, das Fach Wandmalerei, und eine Weile in Seiffen fest im Beruf gearbeitet. Sein Ding, sagt er, war das Restaurieren aber nicht. Maler wollte er werden - "das war das große Ziel" - aber wie so vieles war das in der DDR nicht einfach. Künstler wird, wer Künstler werden muss, aber um vom Beruf leben zu können, war die Aufnahme in den Berufsverband vorgeschrieben. Das für ihn zuständige Chemnitz, erzählt er, war ein Zentrum der Abstrakten und die wollten ihn nicht. Kitsch, so definierte einst in Potsdam ein alter Restauratorenkollege, ist immer das, was die Kollegen machen. Der Mann wird das Leben gekannt haben.
Reichelt ist Restaurator geblieben und Künstler geworden. Er hat viel versucht, Mittel, Sichten und Methoden. Angekommen ist er in den 80ern bei den alten Höfen des Erzgebirges, bei der genauen Zeichnung und bei der Druckgrafik. Er versteht sich als Autodidakten und Realisten, die Akademie ist für ihn das Andere. "Es musste nicht nach Kunst aussehen", kommentiert er heute seinen Weg über die Dokumentation: "Aber ich muss das selbst gern angucken". Er suchte die verlassenen Höfe auf, zeichnete über zehn Jahre hinweg ihre Orte, die Räume von außen und innen, und setzte sie um, in Dunkel und Hell. Eine alte Schusterwalze ergab die technische Basis, die Art der Aquatintaradierung lehrten Bücher und die Praxis.
Das Gesehene zu transportieren, nutzt Reichelt Skizze, Foto und Gedächtnis; das Motiv baut sich dann in einem längeren Prozess über die Zeichnung und das Aquarell. Was auf die Platte gebracht werden soll, ist wieder eine genaue Zeichnung. "Du kannst beim Radieren nichts mehr ändern, auch Abdecken hilft nicht viel. Die Kupferstecher sind da noch genauer, da ist mein's noch eine Skizze." Die Zeichnung überträgt er dann in einer Art Pausverfahren auf die Platte, mit Hilfe eines harten Bleistifts und einer Schicht Pastellkreide. Sein nächstes Werkzeug ist die Nadel, eine Stopfnadel, schräg in einen Pinselstiel versenkt. "Schief geht am allerbesten", sagt er, "das Metall darf nicht geritzt werden, nur der Ätzgrund". Der Ätzgrund ist schwarz, das Metall sollte also hell sein. Reichelt verwendet Messing. Ist die Ritzung fertig, kommt die Platte für rund eine Stunde in Eisendreichlorid. Die fertige Platte druckt er dann selbst.
Jeder Arbeitsschritt ändert das Bild und vermutlich ändern auch die nötigen Pausen. Am Ende sind Reichelts Räume Zeitkammern, aufgefunden und aus Strichen gemacht, aus Licht, aus Dämmern und Verfall, getaktet vom Ticken der Großen Uhr. Es gab sie so, wenn er sie so gesehen hat, und es gibt sie, weil er sie so gesehen hat. Was in ihnen an benutzten Gegenständen steht und liegt, hat er hereingetragen. Auch, was in ihnen erzählt, herumgeht in winzigen Schritten. Magie braucht Geister; so kommen die Bilder zu ihrem Eigenleben und spinnen sich fort. Die Höfe und Ruinen stehen in den Druckblättern als Moment von eigener Schwere, getreu in vollem Licht. Die Räume geben Vorstellungen und Vorlagen ab, bis heute.
In den 90er Jahren kamen Landschaften dazu und Porträts, impressive Malerei und freie Blätter. Eins heißt "Der Küstenvermesser". Es enthält den großen Kopf eines Karpfens und sein Restskelett, dahinter steht der Titelgeber, klein vor das Meer gestellt. Ein anderes findet "Paulus und Antonius" ins Gespräch vertieft, im hohen Küstenwald eines imaginären Neuguinea. Das "Sommerhaus des Antiquars" erzählt von Wünschen und Erinnerungen, im "Bahnhof des Antiquars" wird die Wüste demnächst erwartet, mit dem nächsten Zug vermutlich... Realismus ist in einer Definition Reichelts das Auffinden des Rätselhaften im Banalen. "Ich treib's voran, dann lass ich's wieder liegen... man muss gut drauf sein dafür, sonst liegen die Platten. Man macht das für sich selber..."
Ein angezwecktes Foto im Arbeitsraum zeigt ein stufiges Gebäude, eine alte Mühle an der Wesenitz, seit Jahren Ruine. "Das war mal eine Walkmühle, so steht's noch in den Karten. Und man sieht's am Mauerwerk. Die ist dann aufgestockt worden, umgebaut, vermutlich für das billige amerikanische Getreide... Das Malwerk passt dazu, ich hab mich kundig gemacht." Reichelt erzählt gern die Geschichten seiner Blätter. Die Zeichnungen dazu, die Aquarelle, die Radierung haben das Gebäude von innen, den Blick in den Mahlboden, das, was am Ende Sache des Betrachters ist. "Das ist meine Lösung vom Erzgebirge, die erste Radierung östlich der Elbe..." Dann lacht er.
In Dresden lebt Hans-Jürgen Reichelt seit 1999. Leicht gefallen ist ihm der Wechsel nicht, aber nach 40 Jahren Erzgebirge "musste es jetzt noch einmal Stadt sein" Nach der Wohnung hat er lange gesucht, sie ist für ihn ein Glücksfall. Ein Haus am Hang hatte es immer sein sollen, jetzt, in der Anderwelt hat er diesen Blick... "Ich hätte nie im Tal wohnen können. Früh bis zum Horizont blicken können, das ist gut für die Seele." (Gregor Kunz, 2003)

Mehr unter: Links

zurück