Randbemerkungen zur Deutschen Ideologie: Rainer Görß



Rainer Görß ist Jahrgang 1960, stammt aus Neustrelitz und lebt in Berlin. Die Textsammlung "Die deutsche Ideologie" entstand 1845-47 und erschien 1932. In dieser Auseinandersetzung mit Hegel und seiner Schule formulierte Karl Marx erstmals die Grundlagen des historischen Materialismus. Geschichte wäre demnach wesentlich ein Entwicklungsprozess menschlicher Praxis und sozialer Beziehungen, und nicht, wie bei Hegel, als Entwicklungsgang des Geistes zu fassen. Das Sein bestimme das Bewusstsein; im üblichen Denken einer Epoche agieren deren spezifischen Lebens- wie Produktionsverhältnisse und artikulieren sich vorrangig der Herrschenden Interessen. Marx: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken..."
Görß' Randbemerkungen gehen von Randzeichnungen auf einer faksimilierten Manuskriptseite aus, der er unlängst begegnet ist. In ihrer linken Spalte steht zu lesen, was am Tag X zum Thema zu sagen war, rechts bilden Köpfe im Profil ein dichtes Netz. Während Marx am Denken war, zeichnete die Hand, eigenmächtig oder im Auftrag. Dieses Wimmelbild hat Görß untersucht, zerschnitten und ergänzt, in Verhältnisse gesetzt und mit Fundstücken wie Kunstarbeiten vergesellschaftet. Herausgekommen ist ein hochkomplexer Raum im Aufbau, eine Art wartende Werkstatt.
Rechter Hand steht das Manuskriptblatt lebensgroß in einer großflächigen Textcollage aus Notaten und Titeln auf grauem Marmorkarton. Max Stirner, der bei Marx unter "Sankt Max" firmiert, ist durch die Frottage seiner Grabschrift unübersehbar. Seinem untergründigen Wirken ist der fast versteckt angebrachter Buchtitel - "Der Einzige und sein Eigentum", 1846 - freilich näher. Hinzu kommen eine Vitrine mit Görß'schen Projekten, ein Herkunftsnachweis, zwei Werkstatthocker und ein Kiste frischer Kunstblumen aus Sebnitz, eingepackt in den 1980ern.
Gegenüber zieht sich eine collagierte Grafikfolge in Grau, Gelb und Braun über die gesamte Wand. Aus den Schlieren des Kartons wachsen assoziativ Landschaft und imaginäre, zeichenhafte Architektur. In formierten Gruppen sind winzige Figuren unterwegs, schwarzen Schriftzeichen ähnlich. Die Marx'schen Köpfe sitzen hier auszugsweise in einmontierten Fenstern. Handschriftliche oder auf schwarze Streifen montierte Zitate von Marx und Stirner kommentieren ein Geschehen, aber nicht unbedingt das Blatt: "Der Sparren ist eine fixe Idee, d.h. eine Idee, die den Menschen sich unterworfen hat". Wiewohl alle Bestandteile eines Comics beisammen sind, verweigern die Blätter die Erzählung. Geschichte ist nicht folgerichtig, sieht aber oft so aus.
Geradezu läuft ein Video, eine Endlosschleife aus verfremdeten Personenbewegungen und Zitaten. Die drei erdigen Tafel des "Midgard-Triptychon" daneben sind geronnene Biografie, Teil der Diplomarbeit von 1990 und Ableitungen aus der deutschen Mythologie. Gegenüber geben vier Plakate von 1922 einen vorläufigen Abschluss. Montiert auf die Stundenzettel einer Geldschrankschlosserei verkünden sie in hektischer Typographie und wilder Rhetorik die Enteignung der Enteigner per Überfall. Unterschrieben mit "Aktionsbüro der Roten Armee, Zweigstelle Dresden", dürften sie eher ein Fake sein. Görß nennt sie visuelle Poesie.
Zwischen den Schriftbildern sind Gegenstände aus dem Fundus des Sammlers rottender Geschichte gruppiert: Gewehrlaufrohlinge, explodierte Testläufe aus dem VEB Waffenwerk Suhl, Lettern und Blei aus der Leipziger Druckerei Martin Andersen Nexö, Feldtelefone und eine Reisenähmaschine, ein vor sich hin gärender Gärballon, ein Schimmelbild. Letzteres ist wieder Biografie, ein Relikt der 1990er Kunstaktion "Kultur in den Westen tragen". Als Blickbremse wie Leitplanke quer in den Raum gestellt, erinnert es in seinem Glaskasten an das Fell eines vor Jahrzehnten abgeschossenen Tiers, hart geworden, räudig und nicht mehr ganz wahr.
Else Gabriel, wie Görß in den 80ern aktiv in der Dresdner Performancegruppe Autoperforationartisten, gab 1991 eine schöne Charakterisierung des Künstlers ab: "...wie ein Drachen, der oben fliegt, ohne eine Wertigkeit festmachen zu wollen, ist Görß der, der immer mal schauen kommt". Das könnte immer noch stimmen. (Gregor Kunz, 2007)

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