Es gibt Leute, die derart
in ihrer Zeit aufgehen, daß sie in ihr verschwinden, also eigentlich
unsichtbar sind - diverse Kombattanten des tertiären Sektors zum
Beispiel oder die Inhaber der hinteren Reihen eines Parlaments. Andere
wieder leben intensiv in etlichen Zeiten zugleich: Ihre Wahrnehmung
verlangt mehr als einen Blick und macht Arbeit.
Lutz Fleischer ist ein schmaler Typ - "1.72 bei Schuhgröße 42" -
kleidet sich öfter dunkel und geht etwas vornübergeneigt. Das Haar,
grau bis weiß, trägt er knapp schulterlang, gelichtet und jedenfalls
ungekämmt, die Augen hinter der obligatorischen Drahtbrille sind blau -
königsblau, um genau zu sein - und in wechselnder Gewichtung
verschmitzt, fatalistisch, melancholisch und heiter. Lacht er, dann
nach Art koboldesker Verschwörer. Fleischer spricht leise bis sehr
leise, gelegentlich in erratischen Sätzen von verblüffender Schönheit
und u.a. das aus, was er meint. Oder ihn. "Wenn Du etwas über Malerei
wissen willst: Ich hasse grün... Cézanne ist darüber ja auch wahnsinnig
geworden."
Geboren 1956 in Dresden, absolvierte Lutz Fleischer zehn Klassen und
eine Lehre zum Offsetretuscheur. Etwa zeitgleich, 1972-75, besuchte er
die Abendschule an der HfBK Dresden. Da aus dem weiteren Studium nichts
wurde, blieb für etliche Jahre nur das Jobben in diversen Berufen. Erst
eine erfolgreiche Bewerbung beim Verband Bildender Künstler enthob den
Autodidakten 1981 dieser Pflicht. Wenig später fand er sich mit Petra
Kasten und Andreas Hegewald in einer Art fruchtbringenden
Arbeitsgemeinschaft wieder, die sich Leitwolfverlag nannte. Der
Leitwolf war der Kellner, der lief so, sagt Fleischer. "Man mußte im
Osten eine Stammkneipe haben, um überhaupt in eine Kneipe reinzukommen.
Da saßen wir nun oft drin und da gab's also Frust. So hat das
angefangen mit dem Zusammenzeichnen und dem Schreiben. Da kamen
sonderbare und wunderbare Dinge zur Sprache, Sachen, an die niemand
gedacht und über die niemand gesprochen hat. Man geht schließlich nicht
zum Spaß in die Kneipe und sitzt dort rum." Frucht dieser gemeinsamen
Arbeit waren die Leitwolfhefte, deren respektabler Kern 1996 in Dresden
als Buch erschienen ist: Leitwolfverlag 1983-1996.
Vor rund zehn Jahren wandte sich Fleischer von der Malerei ab und
ebenso entschlossen der Collage zu. "Ich habe noch gezeichnet für
Leitwolf - aber ansonsten wird geklebt". Das Material dazu findet er,
ob er es gesucht hat oder auch nicht, auf der Straße, im Abfall, in
Zeitschriften, Büchern. Oder es wird ihm zugetragen. Der Collagebegriff
ist dabei fließend, die Grenze zwischen Collage und Objekt verwischt.
"Wenn man verschiedene Worte aneinander reiht, entsteht im günstigen
Falle ein Satz. Ähnlich: Das Nebeneinandersetzen verschiedener Bild-
und sonstiger fragmentarischer Schnipsel oder Gegenstände ergibt mehr
oder weniger neuen Sinnzusammenhang. Man hat die Freiheit, seine
Grenzen selbst festzulegen; also, sich innerhalb eines selbstbestimmten
Prinzips völlig frei zu bewegen... Man kann dabei also alles benutzen;
Bild, Farbe, Text, Worte, Musik, Gegenstände & Dinge, die scheinbar
nichts miteinander zu tun haben, sämtliche Materialien... Das
wichtigste bei der Collage ist, dass es klebt." Das steht im Katalog
seiner letzten großen Ausstellung "post scriptum", in einer Art offener
Programmschrift des Lutz Fleischerschen "Banalismus". So gesehen sind
auch die jüngeren Gemeinschaftsarbeiten Collagen, das Video "Stummfilm
Herbert S." mit Holger Jackisch und die Arbeiten im Schlüsselbundverlag
mit Petra Kasten, das "Buch Jürgen". Und collagiert sind auch seine
Radierungen, die in der Dresdner Obergrabenpresse seit 1994 entstehen.
"Ich arbeite spontan. Wenn ich eine Idee hab, mach ich was, wenn ich
keine habe such ich mir eine. Es kann passieren, das ein Vierteljahr
nichts wird. Als Grundsituation ist es wichtig, daß man Spaß daran hat
etwas zu machen - Leute die früh um sechs ins Atelier gehen und um
achte wieder raus, sind mir völlig unverständlich."
Wenn er etwas anfange, dann wisse er nicht, worauf das hinauslaufen
wird. Es ist wie beim Leitwolf: ohne Ansatz rangehen wäre der Ansatz.
Ähnlich ist das mit den Collagen, er schiebe die Dinge so lange
zusammen, bis es stimmt. Der Prozeß ist wichtig und sein Abbild ist
wichtig. Ob das gut ist - klar, simpel, einfach - muß dann entschieden
werden. Entweder treibe er es weiter oder es bricht ab. Der Weg dahin
läuft auf Messers Schneide.
"Anreger - das ändert sich mit der Zeit. Da war der Expressionismus,
als ich noch gemalt habe, und den Dadaismus kann ich auch nicht
verleugnen. Banalismus, ob ich mir die Jacke anziehe, hab ich lange
überlegt. Die Verwandtschaft zu dem Schwitters läßt sich am ehesten
darstellen. Am meisten mag ich Duchamp. Auch Max Ernst, mit dem ich
manchmal in einen Topf gesteckt werde. Naja, mich interessiert
Absurdität. Eigentlich ist das ganze sinnlos, was man macht den ganzen
Tag - Kunst, meine ich. Vielleicht hat das einen selbsttherapeutischen
Sinn. Wenn du was machst, und du merkst, daß es gut ist, das ist schon
ein angenehmer Moment. Aber sonst, wenn du denkst, das ändert was...
Daß blöde ist, daß du dir irgendwann nicht mehr vorstellen kannst,
irgend etwas anderes zu machen als diesen Schwachsinn. Eigentlich wäre
ich lieber ein Vogel geworden." (Gregor Kunz, 1998)
Kunstpreise gehen
üblicherweise an junge Begabungen oder dahin, wo schon etwas liegt.
Lutz Fleischer, der am 30. August 2005 den Hans-Theo-Richter-Preis
erhielt, fällt da raus. Die Kategorie Junge Kunst hat er hinter sich
und auch als Sammler von Preisen ist er bislang nicht aufgefallen.
Schon das macht die Entscheidung der Klasse Bildende Kunst der
Sächsischen Akademie der Künste besonders. Wichtiger ist freilich, dass
Fleischer einer von den Guten ist und das nicht erst seit heute. Der
Vorschlag kam von Osmar Osten und vermutlich aus einer verwandten
Seelenlage, die Diskussion soll nicht lange gedauert haben. "Zu rechnen
war damit natürlich nicht", sagt Fleischer, "es hätte auch noch zwanzig
Jahre so weitergehen können".
Lutz Fleischer, 1956 in Dresden geboren, hat in den 70ern
Offsetretuscheur gelernt und etwa zeitgleich den Abendkurs der Dresdner
Kunsthochschule besucht. Einen Studienplatz bekam er nicht. Fleischer
blieb bei der Kunst, jobbte und bewarb sich beim Verband Bildender
Künstler, der ihn tatsächlich 1981 aufnahm. Die Verbandsmitgliedschaft
war Voraussetzung, um als freier Künstler arbeiten zu dürfen.
Fleischer, ein Freund des Absurden in jedweder Erscheinung, dürfte der
Witz an der Sache gefallen haben. Das Jobben kam in den 90ern wieder
dazu.
Am Anfang seiner Arbeit standen Zeichnung und expressive Malerei, dann
wechselte Fleischer ins weite Feld der Collage über. Halb habe es sich
ergeben, sagt er, dann wurde es Beschluss. Einen Anlass lieferte 1985
"Expressivität heute", eine Ausstellung in Berlin, Hauptstadt der DDR.
Sechs Künstler waren auserwählt worden, darunter Fleischer, der sich
dabei weder wohl, noch ernstgenommen gefühlt hat und am Ende ziemlich
überflüssig vorkam. "Es hätten auch 30 sein können. Der Expressionismus
wurde plötzlich hoffähig. Da war das eigentlich abgegessen." Fleischer
legte den Pinsel weg und einige Zeit später den Stift dazu. Sein
Karriereberater, wenn er einen gehabt hätte, wäre wohl gegangen.
Künstler wird, wer nicht anders kann.
Nach Max Ernst ist Collage die systematische Ausbeutung der zufälligen
oder provozierten Begegnung wesensfremder Realitäten auf eher
ungeeignetem Feld - "und der Funke Poesie, welcher bei der Annäherung
dieser Realitäten überspringt". Fleischers Collagenarbeit kann als eine
Art Netzwerk der Begegnungen beschrieben werden, im ständigen Ausbau
begriffen und montiert aus Collagen aller Art, Druckgrafik, Assamblage,
Plastik, Performance, Film, Buch und wieder Collage. Die Übergänge sind
fließend, die Kategorien öfter unzuständig oder überfordert. Das
Material läuft ihm zu oder lässt sich finden, indem es "Hallo!" sagt.
Systematik waltet dabei allenfalls partiell, die Spontaneität steht
voran und Humor ist immer dabei. Humor ist kein Spaß. "Diverse Teile,
die sich von der Zivilisation, respektive der automobilen Gesellschaft
verabschiedet haben und weggeflogen sind, konvertieren in eine neue
Daseinsform und werden dem geneigten Kunstfreund, in zumeist ästhetisch
verbrämter Form, vor Augen gehalten." Der Funken Poesie jedenfalls
springt zuverlässig, wenn die Dinge sich am Ende berühren und ihre
Energie zu fließen beginnt.
Wenn er etwas mache, sagt Fleischer, dann wisse er erst einmal nicht
worauf das hinauslaufe. Er mache Entdeckungen. Diese entdeckten
Kunst-Dinge, die Fleischer dem weiten Feld der Collage entnommen wie
hinzugefügt hat, stehen erstaunlich ruhig beisammen, mit dem Rücken
halberwege zur Welt, wispernd mit ihren Angelegenheiten beschäftigt.
Bei aller Materialfülle - neuerdings ist auch Musik dabei - ist die
Familienähnlichkeit in Charakter und Auftreten nicht zu übersehen. Sie
realisiert sich im Miteinander der Dinge, die oft so einfach sind, dass
sie Raffinesse vermuten lassen: ein Lochblech und Schrauben
beispielsweise, oder elektrisches Licht im Wasser. Wobei das Reagieren
nicht endet, wenn die Arbeit fertig ist. Ein Betrachter, der sich
darauf einlässt, wird diese Erfahrung machen.
"Vielleicht", fragt der Künstler, "ist der Schwachsinn, den ich all die
Jahre gemacht habe, doch nicht so schwachsinnig?" Der geneigte
Kunstfreund verneigt sich noch etwas tiefer.
(Gregor Kunz, 2005)