Kathrin Schmidt
He, Gagarin, alter marxistischer Grieche!

  Wenn ich Gedichte von Gregor Kunz lese, denke ich unwillkürlich an Peter Weiss. Im ersten Band der Ästhetik des Widerstands führt Weiss in der Beschreibung des Pergamon-Altars auf der Berliner Museumsinsel, die zunächst geradezu zeitlos erscheint, allmählich in die konkrete historische Ausgangssituation seines Romans ein, in der drei junge Kommunisten im Jahr 1937 in die Betrachtung des Altars vertieft sind und ihn allegorisch zu ihrer eigenen Situation zu sehen beginnen.Der Kampf der Götter gegen die (erdgeborenen) Giganten hätte nicht siegreich verlaufen können ohne einen Sterblichen – Herakles. Der aber fehlt auf dem Fries, nur seine Löwen-Pranke ist zu sehen. Herakles hätte den Sieg der Giganten bewirken können, hätte er nicht seine irdischen Anteile „verraten“, was die Götter ihm nach seinem Tod mit der Erhebung in den Olymp dankten. Seine Pranke aber bleibt ein Instrument, das zu nutzen nun, in Abwesenheit seines Körpers, den Giganten freistünde: Sie könnten ihr Schicksal wenden, indem sie sie ergreifen und damit zuschlagen. Diese Verheißung durchzieht den gewaltigen Roman von Peter Weiss bis zum Ende. Auch Gregor Kunz tut sich in der griechischen Mythologie dergestalt um, dass er es nicht einfach bei der Erwähnung von Herakles belässt, sondern es zieht ihn Nach Lerna, wo Herakles der Sage nach mit der Hydra kämpfte; er zoomt nach Arkadia, wo ein Leben jenseits gesellschaftlicher Zwänge verklärende Gestalt gewann und die Idee individueller Freiheit ihren Anfang nahm; er spricht Von den Inseln, die er womöglich in der Arktis ansiedelt und mit dem antiken Namen Thera versieht, in der Mehrzahl, deren Existenz aber, gleich der des Sannikowlandes, nicht unwidersprochen bleibt. Dennoch sieht mein inneres Auge das griechische Archipel Santorin, wie es entsteht und vergeht im Gedicht. Und so siedeln sich viele seiner Gedichte (bei mir) in Griechenland an.
Dafür spricht nicht nur die Kargheit und Ausgedörrtheit ihrer Landschaften, das Raue und Rissige ihrer Oberflächen. Vielmehr scheint mir die Suche nach archaischen Mustern, nach denen das moderne Leben sich nach wie vor selber strickt, das Bezeichnende seiner Texte. So erklärt sich schnell die völlige Abwesenheit von Moden, das Beharren auf dem einmal gefundenen Ton, das fleißige, sehr beharrliche Arbeiten, das aus den Worten spricht. Ich gebe zu, dass etwas Abweisendes ausgehen kann von der selbstverständlichen Verwendung griechisch-mythologischen Vokabulars, wenn man sich selbst nicht sicher ist in dessen Verwendung oder aber das auch gar nicht sein will. Wenn man jedoch das zu Klärende für sich geklärt hat (und dazu reicht, Verzeihung, Google aus in diesem besonderen Fall, denn es geht weniger um die antike Ideengeschichte als um die „ewigen“ Präzedenzfälle), dann sind diese Gedichte regelrechte Offenbarungen menschlicher Grundsituationen. Atmen. Essen. Sprechen. Trinken. Sehen. Handwerken. Mitleiden. Ackern. Verschwenden. Verschwinden…

Was nie verschwindet, ist der Dichter. Dass er eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit Karl Marx aufweist, scheint nur gerecht. Das Primat menschlichen Seins gegenüber dem Bewusstsein wird hier auszuloten versucht bis an die schmerzliche Verfallsgrenze des Marxismus. Dass einer das macht, ist mehr als lobenswert, es ist unabdingbar. Auch an dieser Stelle bin ich an Peter Weiss erinnert. Und so möchte ich, in Anlehnung ans Gedicht, rufen: He, Gagarin, alter marxistischer Grieche!

Meine Hochachtung geht ungebrochen an die kleine Edition POESIE SCHMECKT GUT in Jena, die uns das Heft Versensporn Nr. 7 mit neunzehn Gedichten von Gregor Kunz zugänglich gemacht hat. Meine Hochachtung für den Dichter übersteigt andererseits das Rätsel bei weitem, dass für eine wirklich umfängliche Edition seines wirklich umfänglichen Werkes noch immer kein Interesse aufkam im deutschen Verlegerwald. Siehe oben.

Junge deutschsprachige Lyrik. Lagebesprechung (46), Ostra-Gehege 70/ 2, 2013, S.35

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