Gregor Kunz
Odysseus-Notizen
Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit.
Sonst und schwererwiegend: die Furcht.
Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos

1. Namen

Zuerst erzählt ein Namen eine Geschichte: Odysseus. Zur Gestalt geworden mit notwendigen Eigenschaften und in Begebenheiten, Handlungen, Bildern heimisch, zieht Odysseus Geschichten an und verknüpft sie, erzählt sein kollektiver Mund Geschichten in Geschichten fort, vielstimmig. Nicht alle bleiben/werden deutlich, aber da sind sie. Doch habe ich immer angenommen, es werde herkommen ein Mann, ein großer und schöner, angetan mit großer Stärke. Jetzt aber ist es ein Geringer und Nichtiger und Schwächlicher, der mich am Auge blind gemacht hat, nachdem er mich mit Wein bezwungen. Doch auf, hierher, Odysseus! (Od.9, 513f)
Der Name muss sehr alt sein, schon weil niemand mehr weiß, was er bedeutet. Vermutlich war Odysseus schon da, als wanderde Gruppen ihre Rinder ins Land trieben und in einer Art Finger-Griechisch die einheimischen Bauern fragten, was das denn wäre, vor ihnen, blau und grau und weiß und laut, das unendlich Bewegte, Nasse, Salzige, bös und wunderbar... Wer fragt, kriegt Antwort: Thalassa, das Meer. So haben es sich die Griechen gemerkt und den Namen behalten. Ja, klar doch, Thalassa, kennst Du das Meer nicht?
Namen sind Griffe an der Welt, die sonst keine hat, Griffe der Bemächtigung. Doch passt kein Ding in seinen Namen ganz und jedes beim Namen aufgerufene Bild ist mehr als der Name und noch einmal mehr als es selbst. Aber was will man machen? Zu groß wie es ist, ist das Meer doch noch einfach. Man hatte sich schnell geeinigt und gut war's: Thalassa. Weniger einfach sind schon Löwe, Mond und König. Und was heißt Glück? Es ist schon so, Namen agieren und reagieren, verändern das Gemeinte und werden vom Gemeinten verändert. Was also tun? Schon immer erzählten Leute Geschichten, deuten die Welt noch einmal, und die tauglichen Geschichten blieben, ein Muster/Normenkatalog, um sich wieder zu finden, wenn nicht an seinem, dann doch an einem Platz.
Odysseus muss etwas bedeutet haben, etwas Wichtiges, das nicht vergessen, aber nicht mehr zu verstehen, doch neu zu formulieren war. Es klang vertraut, nach Ärger Zorn und Groll, und kam von Odysseus her und auf Odysseus zu: Der Verhasste, Der Zornige. Nur wer den richtigen Namen weiß, wird nicht betrogen. Und der richtige Name war ja da, so musste dem Mann doch geglaubt werden... „Kyklop! Du fragst nach meinem berühmten Namen. Nun denn! So will ich ihn dir sagen! Du aber gib mir das Gastgeschenk, so wie du es versprochen hast! Niemand ist mein Name, und Niemand rufen mich Vater und Mutter und all die anderen Gefährten.“ So sprach ich. Der aber erwiderte mir alsbald mit ungerührtem Mute: „Den Niemand werde ich als letzten verspeisen unter seinen Gefährten, die anderen zuvor: das soll mein Gastgeschenk sein!“ (Od.9,364ff)
Gut war die List und wert des Rühmens, besser noch war der Scherz, jedoch auch prophetisch. Wenn die Götter strafen, erfüllen sie Wünsche. Das Rühmen fasste nach, es wollte seinen Namen und bekam ihn ganz. Der wurde teuer: spät komme er heim auf schlimme Weise, nachdem er verloren alle die Gefährten, auf einem fremden Schiff, und finde Leiden in seinem Hause! (Od.9, 531f) So lebt der Mensch, nicht nur im Ernst des Mythos fort. Odysseus = Niemand. Der Mann hat etwas von einem Stellvertreter, nicht nur hier.


2. König

Bei Homer ist Odysseus Basileus, in Übertragung und Nacherzählung wird daraus meist ein König. Könige herrschen idealerweise über Volk und Land und verkörpern sie überdies. Was tut Odysseus? Er kämpft zehn Jahre unter dem Befehl des Königs Agamemnon vor Troja und bleibt weitere zehn Jahre verschollen. Sechzehn Jahre lang scheint das fast niemanden zu kümmern, dann aber stehen die potentiellen Nachfolger Schlange. Wo? Bei seiner potentiellen Witwe, Penelope.
Wie es aussieht, ist Homers Basileus ein Rang, den Güter, Herkunft und Klientel/Gefolge begründen, und in einigen Fällen ein Amt, an dem Einkünfte und Pflichten hängen. Es gäbe viele königliche Männer auf Ithaka, sagt Telemachos, und einer möge das Amt haben, wenn Odysseus tot sei. Zur Not würde auch er es übernehmen, sogar gern: König zu sein, ist gar nicht übel. Schnell wird das Haus ihm reich, und er selber wird höher geachtet... (Od 1, 391f)
Genommen als das, was er tut, erscheint Odysseus als Vasall und abhängiger Heerführer, seltsam unverankert in seinem väterlichen Land (Od.13,188), wie eingesetzt in das autonome Teilgebiet eines anderen. Ikarios, Vater der Penelope und Basileus von Akarnanien, bietet sich an. Sein Gebiet lag nordöstlich von Ithaka auf dem Festland und überschnitt sich an der Küste mit dem des Odysseus.
Ebenso nah liegt ein bindendes Verhältnis zu Agamemnon von Mykene, dem Mächtigsten der Könige, der einzige unter den Griechen, den Homer einen Anax nennt. Die Überlieferung weiß von einem Eid des Odysseus, geschworen bei Tyndareos in Lakedaimon von 30 Basileis, aufgestellt in den offenen Leibern geopferter Pferde. Tyndareos, des Ikarios großer (?) Bruder, war Basileus von Sparta und hatte gleichfalls Töchter, begehrt von vielen: Klytaimnestra und Helena. Die eine nahm sich Agamemnon mit Gewalt, die andere erwarb er seinem Bruder Menelaos. Ikarios und Tyndareos mussten nicht in den Krieg, den Agamemnon für Menelaos betrieb, der verlorenen Helena wegen, wenn es denn stimmt. Aber die Beistand geschworen haben, sind alle dabei, und noch einige mehr, 48 Basileis in 29 Kontingenten. Wer die zehn Jahre durchhielt, fand sich am Ende wieder in einem Pferd. Es ist aus Holz und eine Idee des findigen Odysseus, die letzte Chance, das elende Unternehmen Troja zu beenden. Erfolgreich, nicht glücklich, auch wenn es etlichen Überlebenden am Morgen nach dem finalen Gemetzel so scheinen mochte.

Odysseus führte die Kephallenen, die hochgemuten, Die Ithaka hatten und das blätterschüttelnde Neriton-Gebirge, Und die Krokyleia bewohnten und die rauhe Aigilips, Und die Zakynthos hatten, und die Samos rings bewohnten, Und die das Festland hatten und die gegenüberliegende Küsten bewohnten: Die führte Odysseus, dem Zeus gleich wiegend an Einsicht, Und ihm folgten zwölf Schiffe mit menningfarbenen Wangen. (Il.2, 631f) Zwölf Schiffe sind wenig, wenn Odysseus auch Zakynthos und Same (Kefalenia) vorgestanden hat, doch für Ithaka allein gerade genug. Denn auch das Ithaka vergleichbare Salamis stellte zwölf Schiffe für den Krieg. Je nach Größe ruderten ein Schiff zwischen 120 und 20 Krieger=Gefährten, die Odyssee (Od.8,35) lässt Platz für 50. Dazu kamen einige engere Gefolgsleute wie Eurylochos, Schwager des Odysseus und sein zweiter Mann, dann die Nichtkämpfer: Köche, Diener, Handwerker, ein Herold (rund in den Schultern, dunkelhäutig, ein Krauskopf, Eurybates... Od. 19, 246) und die kostbaren Steuerleute, zwei für jedes Schiff. Odysseus fuhr demnach mit vielleicht 700 Männern nach Troja.
Er wollte nicht und demonstrierte das deutlich, aber es half ihm nichts, er musste; Agamemnon kam selbst und holte ihn. Palamedes – wenn es denn wahr ist – half dabei. Einmal im Krieg, dient Odysseus dem Agamemnon klaglos als Adjutant, Gehilfe und Bote. Als Späher ist er gut, in der Schlacht schlägt er sich, wie ein Heros soll, meistens jedenfalls. „Wohin fliehst du, den Rücken wendend, wie ein Feigling in der Menge? Daß dir nur keiner im Fliehen den Speer in den Rücken bohre! Aber bleib! Daß wir von dem Alten hinwegstoßen den grimmigen Mann!“ So sprach er, doch nicht hörte darauf der vielwagende göttliche Odysseus, Sondern eilte vorbei zu den hohlen Schiffen der Archaier. (Il. 8, 92ff)
Der Alte heißt Nestor, Hektor ist der grimmige Mann und der Sprecher Diomedes, Freund des Odysseus und Partner bei dessen Aufträgen und nächtlichen Unternehmungen.
Diomedes kämpft, wie Odysseus atmet; Odysseus weiß zu viel und wäre gelegentlich gern anderswo. Ihre Reaktion auf Agamemnons Was steht ihr abseits geduckt und wartet auf die anderen? (Il.4, 340) zeigt sie als komplementäres Paar. Odysseus verwahrt sich scharf und beschweigt den Vorfall künftig, Diomedes zuckt die Achseln, wird die Geschichte aber gegen Agamemnon verwenden. Beiden steht Athene nahe und in jedem steckt ein Aspekt ihres Wesens, doch sympatisiert sie mehr mit Odysseus, dem Schwächeren der beiden. Ihr gefallen seine Lügen/Weltbilder/Geschichten und er erinnert sie, vielleicht an ihre Jugend. Klug müßte der und diebisch sein, der dich überholen wollte in allen Listen, und träte auch ein Gott dir gegenüber! Du Schlimmer, Gedankenbunter, Unersättlicher in Listen! So wolltest du denn nicht einmal, wo du doch in deinem Lande bist, aufhören mit den Betrügereien und mit den Reden, den diebischen, die dir von Grund auf eigen sind? Doch auf! Reden wir nicht mehr davon, die wir doch beide die Listen kennen! (Od.13, 292f) So spricht sie auf Ithaka.

Den Tag nach der Zerstörung Trojas sieht Odysseus von der Höhe seines Ansehens. Groß ist sein Anteil an schwerer Mühe und gerade noch erreichtem Erfolg und groß ist die Beute, größer der Ruhm; Agamemnon und Menelaos sind ihm Zeit ihres Lebens verpflichtet; wenn Reichtum, Luxus, Macht glücklich machen können, wird er glücklich sein. Was sonst? Er ist jung, ein Basileus von 30 Jahren, der es weit gebracht hat und noch weiter bringen wird. Ich bin Odysseus, Laertes' Sohn, der ich mit meinen allfälligen Listen die Menschen beschäftige, und es reicht die Kunde von mir bis zum Himmel. Ich wohne aber auf Ithaka... (Od.9, 19f)
Mit zwölf Schiffen und immer noch wenigstens 625 Männern beginnt die Heimfahrt, an Bord den Gewinn aus zehn Jahren, Sklavinnen, Gold, Bronze und Trophäen. In zwei Wochen oder drei wird er die felsige Ithaka sehen, seine Frau und das Kind, Vater und Mutter, und seine Männer die ihren, das jubelnde Volk der Ithakesen.
Doch es werden Monate, dann Jahre in der unsicheren Wirklichkeit einer verhängten Reise nach Dortwo. Es verschlägt ihn nach Libyen und ins westliche Mittelmeer, dann vollends ins Anderland gefräßiger Inseln. Schiffe und Beute gehen unter, die Männer verlieren ihr Leben. Mit jeder Station wird Odysseus weniger, vollends allein, fällt er für sieben Jahre aus der Welt, geht verloren an die einsame Herrin von Ogygia: die listige Kalypso, die flechtenschöne, die furchtbare Göttin. Und es hat keiner mit ihr Umgang, weder von Göttern noch sterblichen Menschen. (Od.7, 245f)
Verschwunden ist der Mann, der Ithaka verließ, und auch jenen, der das brennende Troja verlassen hat, gibt es nicht mehr. Nach weiteren zehn Jahren steter Gefährdung, aufreibender Mühsal landet ein Mann in Phaiakien, der kaum mehr weiß, wer er ist, ein nackter Bettler, der Geschichten erzählt und Geschichten hört: von Odysseus, dem Verschollenen, von Odysseus, dem Städtezerstörer. Odysseus = Niemand steht vor seinem Bild und weint. Er hört vom Unglück Troja und den Taten toter Männer, hört seinen Namen im Gesang des blinden Demodokos. Dann nennt er seinen Namen und erzählt/singt selbst, was er für wahr hält und wahr halten muss. Ich wohne aber auf Ithaka...
Die Phaiaken glauben ihm und vermutlich glaubt er auch selbst, was er sagt. In Ithaka wird er zum Zweiten erfahren, wer er gewesen und wer er noch ist. Vater eines Sohnes, Fremder ohne Freunde. Wenn Penelope ihn annimmt, wird er wieder, was er war, doch nur in einem: Ein oder der Basileus und jedenfalls der ihre. Doch wird er vorher jene töten müssen, die ihm bei ihr folgen wollten. Brüder und Söhne der Gefährten, die ihm gefolgt sind nach Troja und in die Irre. Freunde! Wahrhaftig, ein gewaltiges Werk hat dieser Mann den Archaiern ersonnen! Die einen hat er in den Schiffen mitgeführt, die vielen und edlen, und die gewölbten Schiffe zugrunde gerichtet und zugrunde gerichtet auch die Männer. Die anderen aber hat er getötet, als er herkam, die weit besten unter den Kephallenen. (Od.24, 426ff)
Wer geht, kommt nicht wieder. Wer kommt ist der Andere. Auf wen hat die kluge Penelopaia in 20 Jahren gewartet? Sie weiß es, aber sagt es nicht, nennt einen Fremden beim Namen: So ist der Name richtig. Sei mir nicht gram, Odysseus... Die Götter haben uns Jammer gegeben, die uns mißgönnt haben, daß wir beieinander bleiben und die Jugend genießen und zur Schwelle des Alters kommen sollen. (Od.23, 209f)
Odysseus? Ja, doch, kann schon sein... Nur Götter sind leicht zu erkennen.

3. Kurze Beine

Endlose Kriege und Irrfahrten sind möglich; Sklaven, die Sklaven halten, unfähige oder überforderte Hierarchen, den Triumph partikularer Interessen zum Schaden aller kennt auch die Gegenwart. Aber auch die Ungeheuer, bezwungene und nicht bezwungene, sind von dieser Welt, und selbst Götter, wenn sie geglaubt/gebraucht werden, sind es.
Odysseus Welt ist nicht das Märchenland, sondern das Mögliche, abgeleitet aus Erfahrung und Mythos, aus gehärtetem Menschheitswissen, erzählt in bedeutsamen Geschichten.
Odysseus agiert auf Homers Gegenwart zu und in menschlichen Grundsituationen, die noch die unseren sind. Er liebt und liebt nicht, kämpft, tötet, verrät, lügt, arbeitet und altert, sucht seinen Vorteil und verliert. Stets handelt er nach den Gegebenheiten seiner Geschichten, nicht über ihre, seine Natur hinaus. Wenn kein Weg vorbei führt an Skylla und Charybdis, dann müssen er und seine noch 44 Männer zwischen beiden hindurch. Charybdis schlürft das Meer ein, mitsamt dem verbliebenen Schiff und allem darauf, die andere tötet unfehlbar sechs Männer; Kampf, sagt Kirke, sei sinnlos. Diese ist dir nicht sterblich, sondern ein unsterbliches Übel, furchtbar und schmerzlich wie auch wild und unbekämpfbar, und da ist keine Abwehr: vor ihr zu fliehen ist das Beste. (Od.12,118f) So wählt Odysseus, doch sagt er keinem, was bevorsteht, steigt aber in die Rüstung und will kämpfen. Er kommt nicht dazu: Jäh fassen die sechs Köpfe Männer, reißen sie nach oben, er steht dabei und sieht es, nutzlose Speere in den Händen, hört sie schreien. Das war das Jammervollste... (Od.12,258)
Herakles, der göttliche Heros, besiegte Ungeheuer und tötete sie, wenn er konnte. Vom Mythos einer jüngeren Generation zugeschrieben, entkommt Odysseus den Ungeheuern gerade noch und nie unbeschadet. Ohnmacht, Schuld und Scheitern sind sein Teil, nicht aber „Sechs auf einen Streich“, der Bocksprung über Weltzustände. Eine mögliche Definition des Ungeheuers nach Homer wäre demnach: Etwas, dem niemand schadlos entkommt. Erst auf Ithaka leistet Odysseus das Unmögliche, er tötet 108 Männer im Kampf, fast allein und die Folgen vor Augen; Väter, Brüder und Söhne der Toten werden sein Blut und das Blut der seinen fordern. Das heißt: Die Göttin ex machina setzt ein Ende, das zuletzt Vergessen und Versöhnung heißen soll. Happy? Aber warum denn. Es ist nur das Ende dieser Geschichte und der Anfang anderer. Zu gewollt ist der Schluss, zu unwahrscheinlich, um geglaubt, zu reich auch an Erwartung absehbarer Folgen, um akzeptiert zu werden. Homer und die Mythographen um ihn waren kluge Leute.

Weder Odysseus, noch sonst eine wichtige Figur ist von Homer erfunden, auch kein Attribut und keine wichtige Handlung. Die Geschichten waren Gemeingut, geordnet, geformt und tradiert über Generationen, sehr alt. Homer wählte und gestaltete den Ausschnitt, schob ein, trennte, setzte zusammen, ließ die Gestalten fühlen, denken, sprechen, sich erinnern und berichten, gab ihnen Gründe oder nahm sie... Am Bestand aber war nichts zu ändern, er wäre ausgebuht worden und mit Dingen beworfen, wie ehedem der arme Odysseus.
So liegt in den Geschichten Älteres, Altes und Uraltes beieinander, gelagert und aktiv, und mehr noch in den Gestalten. In Göttinnen, Frauen und Heroen, im Sonnengelichter, in der Irrfahrt und selbst noch in den kurzen Beine des Odysseus reden Zustände, erinnert und nicht mehr erinnert, unverstanden, umgewertet, aber noch da.
Doch wenn sie sich unter die versammelten Troer mischten, Ragte, wenn sie standen, Menelaos hervor mit breiten Schultern, Doch wenn sie beide saßen, war der Stattlichere Odysseus. Sobald sie nun aber Gedanken webten vor allen, Wahrhaftig! Da redete Menelaos geläufig, Nur wenig, doch mit sehr klarer Stimme, denn er war nicht wortreich Und kein nichtiger Schwätzer, und war doch von Geburt der Jüngere. Aber wenn nun der vielkluge Odysseus aufsprang, Stand er da und schaute nach unten, die Augen auf die Erde geheftet, Und bewegte den Stab nicht rückwärts und nicht vorwärts, Sondern hielt ihn starr in der Hand, einem linkischen Manne gleichend; Du hättest sagen mögen, daß er stumpf sei und ganz unverständig. Doch sobald er die Stimme, die gewaltige, aus der Brust entsandte Und Worte, Schneeflocken gleichend, winterlichen, Dann hätte es mit Odysseus kein anderer Sterblicher aufgenommen. (Il.3, 193ff)
Klug ist Odysseus, beredt, vielwissend, erfindungsreich, listig und verschlagen, ein geschickter Handwerker außerdem und ein Erfinder, der kurze Beine hat. Übliche Eigenschaften eines Heros sind das nicht. Überdies steht er in unguter Verbindung mit dem klugen, vielwissenden Palamedes, dem Erfinder-Heros „von den Handgriffen und Kunststücken“ (Karl Kerényi), einer Figur, die an Daidalos erinnert. Odysseus bringt Palamedes mit einer finsteren Intrige zu Fall und unter die Erde, aus Neid, wie es heißt. Aus Neid bringt auch Daidalos den Talos um, seinen Neffen und Lehrling. Palamedes und Daidalos haben Verbindungen mit Kreta und aus Kreta kommt Odysseus immer dann, wenn er behauptet, ein Anderer zu sein. Bekanntlich kamen aus Kreta die Künste und Künstler, Erfindungen und Handwerk. Daidalos ist überdies ein Name des Hephaistos, des lahmfüßigen, starkbehaarten Gottes der Schmiede und Handwerker. Und er selbst schreitet wie ein Widder die Reihen der Männer entlang. Einem Bock vergleiche ich ihn mit dichter Wolle...(Il.3,196f) So sieht Homer vor Troja den Odysseus.
Alt ist auch die Bindung an Athene. Bei Homer ist sie die eulenäugige Jungfrau, mutterlos, geboren aus dem Kopf des Zeus, eine Göttin des Krieges, der Handwerke, der Künste und des Verstandes. Doch weist der vorgriechische Name auf eine Erscheinung der dreifachen Mutter-Göttin und wussten auch Spätere noch von einem Sohn in Attika, dem Schlangenkind Erichthonios, gezeugt von Hephaistos. Zur frühen Athene wird eine hephaistosähnliche Gestalt gehört haben, Mann, Sohn oder beides zugleich, womöglich im boiotischen Alalkomenai geboren wie sie. Tatsächlich geistert Alalkomenai als ein Geburtsort auch des Odysseus durch die Überlieferung, ein vagabundierender Name, aus Verlegenheit versetzt nach Ithaka.
Wenn es denn wahr ist: Ähnlich gehörte der Herakles zu einer frühen Vorstellung der Hera, oder Iason zu Hera/Demeter/Hekate, ein kleiner Gott zu einer großen Göttin. Als die Griechen den Herakles bei Hera durch Zeus ersetzt hatten, wurde die Verbindung zur Göttin als Feindschaft fort erzählt, die Liebe/Freundschaft verschoben zu Omphale. Oder geteilt. Wohlwollend, wenn auch wenig konsequent, stehen die olympischen Göttinnen dem Iason und dem Odysseus bei, doch Liebe und Leid fallen an andere, an Heroinen, die Göttinnen waren und noch sind, Medea, Kirke, Kalypso, Penelope, und schwer genug auf die Gefährten.
Es ist diese Verbindung, die Odysseus zu einem Reisenden macht, zuerst und vor allem, dann auch und aus denselben unsicher gewordenen, verdrängten, fast vergessenen Gründen zu einem Diener der Frauen, wie es Herakles und Iason lange waren. In den „Arbeiten“ des Herakles lässt sich noch gut ablesen, was dieses Reisen einmal bedeutet hat. Jede Arbeit/Station ist Initiation, ein Schritt in die Anderwelt und in den Tod und wieder hinaus, Kampf mit dem Tod und Dienst an der Göttin. Ein Weg über die Grenzen der Welt und wieder zurück: Was Odysseus den Phaiaken erzählt, ist eben das.

Ilias und Odyssee begründen die Irrfahrt nicht. Odysseus und seine Ithakesen plündern und verwüsten die Stadt der Kikonen – eine übliche Handlung an einem bekannten Ort – dann werden sie jäh verschlagen vom Nordwind, zehntageweit nach Irgendwo im Süden. Dort schlägt Odysseus das Vergessen bei den Lotophagen aus, für sich und seine Leute, dann führt er einen Trupp vor den Kyklopen. Erst hier, in dieser Anderwelt, zieht er den Zorn des Poseidon auf sich, da er den Polyphemos blendet in Notwehr. Doch Folgen hat das keine: Obwohl der Gott zürnte voll Eifer (Od.1, 20), enthält er sich lange jeder direkten Aktion, wie, ebenso sonderbar, auch Athene. Erst am Ende des 10ten Jahres zerstört Poseidon das Floß des Odysseus in Sichtweite Phaiakiens und greift die Göttin wieder ein, inkognito in Phaiakien und erkennbar auf Ithaka.
Allein das Proömium versucht es mit Gründen: Den Mann nenne mir, Muse, den vielgewandten, der gar viel umgetrieben wurde, nachdem er Trojas heilige Stadt zerstörte. Von vielen Menschen sah er Städte und lernte kennen ihre Sinnesart; viel auch erlitt er Schmerzen auf dem Meer in seinem Gemüte, während er sein Leben zu gewinnen suchte wie auch die Heimkehr der Gefährten.
Jedoch er rettete auch so nicht die Gefährten, so sehr er es begehrte. Selber nämlich durch ihre eigenen Freveltaten verdarben sie, die Toren, die die Rinder des Sohns der Höhe, Helios verzehrten. Der aber nahm ihnen den Tag der Heimkehr. Davon – du magst beginnen, wo es sein mag – Göttin, Tochter des Zeus! Sage auch uns! (Od.1, 1ff)

Ehrlich, wie eine Muse soll und die Kunst sein muss, erzählt die Odyssee es anders. Im Kampf mit den Kikonen sterben 72 Männer, sechs tötet der Kyklop, 572 fressen die Laistrygonen, dann fällt Elpenor vom Dach der Kirke und bricht den Hals, fasst die Skylla zu und leert sechs Ruderbänke... Schuldig? Es bleibt ein Rest, um schuldig zu werden und dann zu verschwinden, noch 38 Mann.
Die Männer kamen in die Geschichte, als die Erzähler den Odysseus zum Basileus in Ithaka machten und in den Krieg nach Troja schickten. Dann aber mussten sie aus der Geschichte fort, weil sie dem alten Wissen von der Irrfahrt im Weg sind und überdies den Realitätssinn Homers und seiner Zuhörer/Leser stören. Denn 625 rudernde Männer müssen essen und trinken, täglich und gut; ihre weitere Reise wäre verlaufen wie die Begegnung mit den Kikonen von Ismaros, als blutiger Kampf um Fleisch, Brot, Wein und Käse. Was haben sie denn von den Laistrygonen gewollt und was gesucht in der Höhle des Kyklopen? Keine Abenteuer. Da flehten mich die Gefährten an mit Worten, daß wir zuerst von den Käsen nehmen und wieder gehen, dann aber geschwind die Zicklein und Lämmer aus den Pferchen hinaus zu dem schnellen Schiffe treiben und fahren sollten auf die salzige See. Jedoch ich ließ mich nicht bereden – es wäre doch viel besser gewesen! - damit ich den Mann selber sähe und ob er mir Gastgeschenke gäbe. (Od.9, 224ff)
Den Odysseus stellt dieses Sterben aller Gefährten in ein böses Licht, den Basileus zuerst und dann auch den Heros. Es ist möglich, dass auch dieses Licht schon älter ist.
Herakles und seine kleinere Inkarnation Iason verändert der Weg zwischen den Welten. Grimmig verwandelt kehrt Herakles aus dem Hades zurück, zieht als Marodeur und Mörder fortan durch die Lande, ein Unglück, das Herakles heißt. Bis endlich das Feuer ihn erlöst, aufteilt in den ewig bereiten Schützen und einen Gott, ohne Aufgaben noch immer (Version Od.11,601). Iason pflügt in der Anderwelt bei den Toten und gewinnt das Goldene Vlies, beides nur durch die Hilfe der Medea, an die er gebunden ist, von der ersten Begegnung an. Nach der Reise verrät er die Enkelin der Sonne und verliert Königtum, Frau, Braut und Kinder, sich selbst. Allein, von Göttern und Menschen gehasst, stirbt ein Wrack unterm Wrack der Argo. Sonderbar ähnlich in seinen Reaktionen und Handlungen belässt die Erzählung nur den Odysseus, obwohl auch er im Hades war und nun ein zweites Mal sterben muss, wie Kirke, die Sonnentochter sagt, während andere Menschen nur einmal sterben. Aber Tod ist vorher schon um ihn, für Feinde, Gegner, Konkurrenten, Freunde und Gefährten, als wäre er, der Verhasste/Zornige, das, was er bringt, zuletzt auch nach Ithaka.

4. Inseln

Aiaia, Thrinakia, Ogygia und Scheria treiben umher zwischen Troja und Ithaka, Inseln der Anderwelt im realen Meer, die auf Odysseus warten wie Penelope, ortlos und notwendig. Jede bietet ein gedehntes Dazwischen, ein anderes Leben und überdies Fragen, schwer zu beantworten und auch nicht eindeutig. Leben in Verwandlung, in verlorener/anderer Identität, im Tod, heißt das: aus der Welt sein? Er könne ein Tier werden und bleiben, bot Kirke, ob er das wolle? Dann, nach der deutlichen Antwort: laß uns beide sogleich auf unser Lager steigen, daß wir, in Lager und Liebe vereinigt, zueinander Vertrauen fassen! (Od.10, 333f)
Penelope und den Phaiaken wird er es anders erzählen, aber es muss gut gewesen sein, wenigstens für Odysseus. Nicht er, die Gefährten drängen nach einem Jahr auf ein Ende und treiben zur Abfahrt. Kirke reagiert gelassen, als hätte jetzt auch sie genug, von Odysseus, dem Satten, und seinen hungrigen Männern: Geht nur. Vorher aber schickt sie Odysseus in den Hades, seine Zukunft fände er dort. Zurück auf Aiaia zeigt sich, das dies nicht der Grund war, denn auch Kirke weiß, was auf Odysseus wartet. Wie schon Tereisias im Hades warnt auch sie: Er solle auf Thrinakia die Hände lassen von den Herden des Sonnengottes Helios, ihres Vaters. Überträte er das Verbot oder ließe er die Übertretung zu, verlöre er sein Schiff und die Männer den Tag ihrer Heimkehr.
Danach ist Thrinakia eine Tür, offen für Odysseus und scheinbar ebenso den Gefährten, Eingang, Falle und Ausgang. Sie sind ihm lange gefolgt, in den Krieg und durch die Katastrophen der Irrfahrt, immer einverständig und stumm, hier wie da willfährige Opfer/Komplizen seiner Entscheidungen. Zur eigenen Sprache kommen sie erst auf Aiaia, in Gestalt und Stimme des Eurylochos: Ah! Elende! Wohin gehen wir? Was habt ihr Verlangen nach diesen Übeln, daß ihr zu der Halle der Kirke gehen wollt, die uns allesamt zu Schweinen oder Wölfen oder Löwen machen wird, daß wir ihr das große Haus, ob auch gezwungen, bewachen mögen – so wie der Kyklop sie eingesperrt hat, als sie zu ihm in sein Gehege kamen: unsere Gefährten, und es war dieser kühne Odysseus mit ihnen! denn durch seine Vermessenheit sind auch jene umgekommen! (Od.10, 431ff)
Was er sagt, ist wahr, und weil es wahr ist, gefährlich für Odysseus. Laut genug denkt er an Mord: ob er gleich ein gar naher Verwandter...(Od.10, 441) Keiner der Männer folgt dem Vorwurf, doch stehen sie dicht um Odysseus und reden ihm zu – erwünscht doch wohl? - das rettet den Mann.
Vor Thrinakia aber ist es genug; müde des Erleidens geht die Mannschaft zu Eurylochos über und erzwingt die Landung. Vier Wochen widrige Winde lassen aus Dürftigkeit Hunger werden, aus Hunger folgt der Eidbruch. Mit dem verbotenen Griff nach den Rindern beendet Eurylochos endgültig die 13 Jahre des treuen Gefolgsmannes; er wählt ein anderes Leben, wie kurz immer es sei, wählt unter Beifall die Art seines Sterbens, für sich und alle. Verhaßt sind alle Tode den elenden Sterblichen, doch Hungers zu sterben, ist das Erbärmlichste... Doch wenn er (Helios), zürnend um der aufrecht gehörnten Rinder wegen, das Schiff gewillt ist zu vernichten, und es folgen ihm die anderen Götter, so will ich lieber den Mund aufsperren gegen das Gewoge und mit eins den Lebensmut verlieren, als lange hinzusiechen auf der öden Insel. (Od.12, 341ff)
Thrinakia trennt den Heros vom Basileus, von Troja und Ithaka, stößt ihn in ein Vergangenes, das er selbst nicht mehr und auch sonst niemand kennt. Allein, ohne Männer und Fahrzeug, ist Odysseus der Mann mit den leeren Händen = Niemand. Den schwemmt das Meer in die Mitte der Welt, nach Ogygia und zu Kalypso. Sie nahm mich auf und tat mir sorgsam Liebes an und ernährte mich und sagte, daß sie mich unsterblich und alterslos machen wollte alle Tage. (Od.7,255f). Ohne Biographie und Aufgaben, gebunden an ihre Insel und mächtig nur hier, bietet Kalypso ihre Ewigkeit, fern von allem. Er solle ihr Mann werden, aufgeben, was er war, noch ist und gegebenenfalls sein wird. Odysseus verweigert, was er nicht kann, will oder aushält. Aus geteilter Einsamkeit wird für sieben Jahre eine doppelte, ein verzweifeltes Verharren, hoffnungslos, stumm. Er ruhte die Nächte nur gezwungen in den gewölbten Höhlen, ohne Wollen bei ihr, der Wollenden. (Od.5, 154f) Allein und abgeschieden von allem, sind Menschen und Götter wie Tote: Fast nicht.
Scheria ist bei Homer ein Land der schönen Ordnung, gebaut um den Fährbetrieb der leidlosen Geleiter (Od.13,174), ein Reservat der Wünsche, aus Vor- und Rückgriffen errichtet. Ohne Krieg und Mühsal leben die Phaiaken zwischen den Welten, solange ihr Geleit noch gewünscht wird oder geduldet. Auch hier wird der Eintritt angeboten, wieder von einer Frau, von Nausikaa. Aber Odysseus lehnt ab; nicht Erlösung, nicht diesen Dienst und diesen Frieden kann er haben. Sein Teil ist das, was er bringt: Leid. So erzählt er sich zurück in sein Leben und erhält seinen Namen, indem er ihn nennt: Von den Geschenken das Größte, seinen Geleitschein - gültig indes nur mit den anderen Gaben, dem Gold, der Bronze und den Gewändern der Phaiaken.
Im Schlaf verlässt er Scheria - ein unerwecklicher, ganz süßer, dem Tod am nächsten... (Od.13, 80) - und im Schlaf erreicht er Ithaka, denn so muss es sein. Als er endlich erwacht, erkennt er seine Insel nicht. Um ihn im Sand liegen die Dinge für sein nächstes, das kommende Leben und in ihm diese Erfahrung: Von einer Welt in die andere gehen ist schwer und schwerer noch der Schritt zurück. Oder unmöglich.

5. Penelope

Kein Wunder wär's, er kommt, der Fremde. Hier kennt er Fels und Raben,
noch die Bäume, wo sie standen, weiß vom Vieh; und was er war pulsiert
      im Dunst,
was wir hätten werden können, glücklich alt, genannt mit Namen, unbestohlen.
Wenn Greise glücklich werden und das Glück ertragen: Ich hab davon gehört.
Wäre er durch mich und hieße. Du. Laß uns die Dummen sein. Niemand
      ist Odysseus.

Worum ist es gegangen in Troja? Um Helena, sagt Homer, der hat es von anderen, die wussten es sicher. Denn Agamemnon erschlug den Tantalos, Sohn des Thyestes, tötete dessen neugeborenes Kind und nahm mit Gewalt dessen Frau Klytaimnestra, da ging es um Mykene. Seinem Bruder Menelaos erwarb er Helena, da ging es um Sparta. Klytaimnestra heiratete den Aigisthos, während Agamemnon im Krieg war, Aigisthos erschlug Agamemnon am Tag seiner Ankunft und blieb für sieben Jahre in Mykene König. Nicht um Mykene ging es, als Orest, Sohn des Agamemnon, den Aigisthos erschlug, da ging es um Rache. Als Orest Erigone, die Tochter des Aigisthos heiratete, da ging es wieder um Mykene. Und als er Hermione nahm, ging es um Sparta, denn Hermione war die Tochter der Helena und des Menelaos. Um diese Helena kämpften vor Troja die Griechen, also für Sparta. So ist es gewiss.
Helena bekam Menelaos, doch Sparta vorerst nicht wieder, so wenig wie Idomeneus Kreta zurück, Diomedes Argos, Teukros Salamis, Menestheus Athen oder sonst wer sonst etwas, außer Nestor, der Alte, der seine Altersruhe in Pylos bekam. Ruhm und Unglück, mehr war in Troja nicht zu holen.
Sagt mir nun, Musen! Die ihr die olympischen Häuser habt – Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles, Wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts - : (Il.2, 486) Worum ist es gegangen in Ithaka? Um Penelope, das ist sicher; also worum? Zurück am Ort ihrer Abfahrt, standen fast alle Überlebenden des Unglücks Troja vor verschlossenen Häusern, fanden ihren Platz vergeben von den Frauen und besetzt. Einzig Penelope hatte in 20 Jahren den Platz behalten, klug und umsichtig und mit eisernem Herzen, frei für Odysseus, wie es hieß: wenn er denn je war! (Od.19, 315). Zuerst für den, der weggegangen ist, dann für den Fremden, der zurückkehren würde zu ihr, der Fremden, dann auf einen, der vielleicht Odysseus hieße oder Niemand, der käme, seinen Namen einzulösen. Denn auch wieder in dieser Nacht schlief er bei mir, ihm ähnlich, so wie er war...(Od.20, 88)
So wie er war und hätte sein können: Das gibt es nicht. Der Mann war weg, nicht erst nach 10 Jahren Krieg, nach 10 Jahren Umtrieb, Bummelei und Weltenwechsel, nach einem Jahr schon war der getilgt von dem, was er tat. Klug, wie Penelope war, wusste sie das. Klug wie sie sein musste, hat sie nicht gewartet auf Odysseus, nur allenfalls auf einen Mann, der Frau und Sohn und sich selbst verloren hatte vor Troja und in der Welt, einen Mann der roten, rissigen Hände, voll Stolz/Scham und Entsetzen, mit Alpträumen im Schlepp und Geschichten, auf dem Buckel einen Sack voll Schweigen... Seltsamer! Nicht bin ich stolz noch geringschätzig noch gar zu verwundert, sondern weiß gar wohl, wie du warst... (Od.23, 174f)
Doch gewartet haben soll sie, so weiß es Homer, der hat es von anderen, die wussten es sicher, vielleicht von Odysseus. Warten, wenn es so heißen soll, war eine Drohung, die täglich materialisiert hinter ihrem Stuhl stand: In Odysseus, so wie er war. Dieses Warten, wenn es so heißen kann, war aktiv, deckte das Tun und Lassen, hier für Telemachos, für sich selbst und gegen die Ansprüche anderer, der Basileis auf den Inseln vor allem und des Vaters Ikarios, der Brüder. Wer wartet ist nicht Witwe. Es musste demnach weiter Warten heißen, für alle, was immer sie tat.
Auch für Odysseus. Doch hatte der noch andere Gründe. Er brauchte den festen Punkt in der Ionischen See, um Ich sagen zu können, und dafür ein zweites Ja der Penelope, gut verpackt im ersten. Ohne Penelope kein Ithaka. Als sie es gibt, kann sie bleiben, was sie geworden, und werden, was sie schon ist, gesichert für die nächsten zwanzig Jahre: Basileia Odysseus. Als er es hat, kann er gehen, das Ruder auf der Schulter, gewiss weil er muss. Wohin? Alles würde gut, fände er Leute, die das Meer nicht kennen. Fände er Leute, die kein Salz essen, dann kehrte er um ins gemeinsame glückliche Alter...

So wäre das Glück eine Insel? Es scheint, auch die Göttinnen wissen nicht alles.

(Zitate aus Ilias und Odyssee nach Wolfgang Schadewaldt)

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