Straße nach Dortwo
Von Südwest nach Nordost, Nichts, Nichts.
Geradezu steht Wald, von Glockentürmen perforiert, wächst, rottet,
flieht das Eis über die Schüssel des Meeres oder schwindet die Schwerkraft.
Sand, Blaugras, Kraut, einige Birken und Schutt, der Wind.
Wüsten, Wüsten...
Erst festgetreten, dann gefaßt von Pfählen, Brocken, Platten,
von den Füßen gehalten.
Gestein gestellt zu Gehäusen, gebrannte Erde gelegt
allmählich hangauf über Knochen: Soldatenknochen, Pferdeknochen, Geröll.
Fassaden, aneinander und fremd, festgerückt fremder,
aufeinander, gestellt und gepreßt,
was lebte notgedrungen und begeistert lebt.
Der Himmel indes zusammengedrängt in immer kleineren Stücken,
geschnittenes Löschpapier, die verwaschene Schulschrift spiegelverkehrt.
Wie in den Rückspiegeln das Mädchen, der Hund und der Regen vom Montag.
Was geht mich der Himmel an?
(Hinter den Glasscheiben die Stimmen, der schweißige Sand,
die Schatten der Kinder von Kindern und der sehr alten Vögel;
die Stimmen des Fleischers, die Stimmen der Witwe,
der Grünfink im Käfig, tief unten. )
Nichts, Nichts.
Bliebe da nicht, zwischen Anfang und Ende,
noch Platz für ein Wunder oder weniger, fast alle vergessenen Fragen:
Wer spricht?
Für zwei Minuten Schweigen, zwischen Bordstein und Bordstein,
Ein Wachsen, ganz langsam: Quarz, Feldspat, Glimmer.
(Städte, schrie der Ingenieur, wies mit dem Finger, Gelichter,
schreit er noch immer, zwischen den Polen, da, eine Straße.
Andrae ohne Knochen seither in den Lüften
mit seinen Gefährten, die still sind, sehr still.)
...
Weiß nah am Rot steht und im Schein toter Gräser, fahl wie Januar.
Graugelb schwingt Steinlicht, mit Baumstaub vermischt.
Rauchrot oben und Regenrot, feinverriebener Rost, von Blicken verschmiert.
Schwärze, ruppig aufgerissen und starr wie das Fell
eines erfrorenen Hundes.
Grau von Metallen, überlaufen nach Wochen und Tag, brotfarben blaßblau
die Schrift: viele Masken.
Rot mit Silber, so kommen Gelegenheiten, geht der April.
Wind weht Gefunkel.
Hindurch drüberweg und dazwischen
bewegt sich Bewegtes, von Sonne und Schatten.
Öl brennt und sie sehen sich an,
Centauren, das künftige Erz.
Hände, die ihr Hemd nicht kennen,
Füße auf der Suche nach Wasser.
Bewegt von Sonne und Schatten, der nackten Zahlung.
Na wenn schon: bewegt.
Viel liegt an den Fenstern.
Wären sie weniger müde - die Blicke, die Kriege, die Tücher, das Licht -
sie machten sich auf, nicht in den Süden, nach Dortwo,
gefolgt von den Häusern, fast allen.
Die Häuser in lockerer Formation auf dem Weg in den Wald:
Du brauchst nur die Augen zu schließen.
Die Türen, wenn sie ihr Schweigen brechen, werden dir sagen,
was Du zu tun hast.
(Trösten immerhin können sie: Wie schreibt man Vergessen?)
Bewegt werden, versponnen, in Fäden gehüllt.
Am Leben, wie man so sagt.
Wenn wer recht hat und atmet.
Kalt in der Sonne.
Hier: So teilen Distanzen Distanzen.
Axt, Stechbeitel, Hammer und Meißel, die Messer, die Gabeln...
Alles ist da. Nur die Hände fehlen.
Nicht die Handschuhe, zusammengedrängt auf dem Fensterbrett zitternd.
Wünsche, und es wird dir vergeben.
Wünsche, und die Acht wird dich grüßen,
beiden Schulterblättern ein Zeichen geben;
der Herbst, der Oktober im März und der Rücken werden dich mögen,
die Zigarette, das Ei und der Zettel im Rinnstein.
Kugeln und Quadrate, das Licht, wie es buckelt.
...
Zahlen gehen übers Pflaster und raschelnde Worte,
Vokale, jäh beschleunigt, Geschosse, Gejaul:
Ich und Du, Ja, Nein, die Anderen da, O Du mein Vaterland,
mein angebissenes Brot.
Einsame Worte, krank, noch vom letzten November,
die Zahl auf dem Rücken des Briefträgers, stets eine andere.
Worte allein unterwegs, an den Ecken gestellt, zottig und beladen,
mit Kletten im Haar;
gelangweiltes Wüten mit Zähnen und Klauen.
Zu viert oder zu fünft unterwegs, zielstrebig, verwirrt und unbehaust,
Worte wie Pflastersteine, Papierfetzenworte und Ahornworte, noch grün,
aber trocken.
Ob sie das Meer kennen werden?
Und die 17 Mann in des Toten Manns Kiste,
sie würden spucken, wenn sie noch könnten.
Jugend ist Trunkenheit. Wie schön sie war, eh sie sich umwandte.
Zwei Schritte der Beschreibung voraus, in der sie gefangen,
zwei Schritte den Schritten voraus.
Sie wird ihr Gesicht in den Spiegel kleben, ihm folgen
ins Alter
Sag nichts. So singen sie, werden, werden...
Im Frühtau zu Bergen das Haar steht.
Und sie sagte es, mit dem Kamm in der Hand.
Die Sonne im Glas verschwindet, hinter Gardinen das Licht.
Ein Kippen verglimmt. Was nun, Partisan?
...
Ungesehen verblassen die Ziegel, sacken die Dächer, der Abend, die Pflicht.
Auch auf der Treppe ein Glas, leere Schuhe, ein winziges Pferd.
Noch weiter oben Dachdecker und Mauersegler, Wäscheklammern,
Katzentritte.
Und der Tod schwitzt im Mauerwerk, bedrängt von der Stirnen Stöhnen,
von schwitzendem Stöhnen, polierten Schatten.
Naturnah resopalidentisch, warum immer ich?
Die Tiere stellen sich weniger an, die Dummen aber und die Hungrigen;
Ach, wäre ich taub. (Verdrossen, der Tod, kaut an den Nägeln)
Zärtlich das Einhorn springt, blau auf der Haut, im Genick des Polizisten,
Preisboxers, Passanten,
nickt wie er immer hat nicken sollen, verdrossen im Erdgeschoß.
Er streichelt seinen Penis, den Regenschirm, das halbvolle Glas,
endlich, da sie ihn haben, die Tätowierungen, die Nägel, die Schrift.
Wie immer, im schlüpfrigen Griff, Interessen, ein unscharfes Wir.
(Uniformierte, nicht einmal den Tod haben sie ganz für sich,
im Mund den Zahnstocher, ihre Zunge:
Nicht zu verwechseln.)
Die Leserin gibt dem Mörder einen Wink: Vamonos! Das Glück wartet nicht.
Und noch weiter unten die Dachsegler, die Mauerdecker, Knöpfe und Teer.
Und jene 18, rudernd im Licht des Glaubens ihren Fingerhut, zwischen Sonntag
und Sonntag.
Wen sollen sie beneiden?
Und jener 19te mit dem Hebammenkoffer - es sind Seufzer drin, Wünsche
und andere illegale Substanzen -
er kannte die Gegend als sie noch jung war, noch nicht geboren.
Spinnentiere im Eck, sagt er, es geht seinen Gang.
(Er verträgt keine Stille. Sein einziger menschlicher Zug.)
...
Leere Bierflaschen, leere Zigarettenschachteln, Briefumschläge und Brot.
Wünsche in Flaschen, Wünsche mit Vogelfüßen, Wünsche
mit dunklem Geruch...
Wünsche aufgestört, weggetreten, von den Schritten verzehrt.
Schließlich, was kostet es arm zu sein: von fünf Tagen sechs
und zwei Drittel der Haut.
Der Friseur kehrt die Haare zusammen, die Knöpfe, das Garn,
folgt ihm auf die Straße. Wie gesagt, das Unglück, es wartet nicht.
Vater, Tochter, Sohn von Jemand, Mutterkörper, der zunickt und zuckt
seinem Alter voraus;
Heimweh war oder wird es wahrscheinlich, Weh war es sicher,
gemacht und in den Knochen beschlossen. Den deinen.
Scheißerchen mit rostigem Löffel, so die Blutsuppe spricht:
Liebe, Arbeit, Tod (zu wenig immer und von vielem zu viel,
hinter der Ecke, der nächsten... ):
Viele Masken.
Stühle warten, im Zeitungspapiergestöber die Rationen des Unglücks.
Auf Wunder und daß es Abend wird, warten die Wunder und atmen.
Beharrlich die Händler nachtauf, den Kopf unterm Arm.
In der Brotmarke wartet die Friseuse, im Apfel die Arzthelferin,
in den Stirnen das Eisen.
Hastend, der Kakteenzüchter wartet, den Kaktus an der Leine,
studentenhaft der Student im Studenten, die Angst an der Leine.
Das Warten selbst noch in Eile zwischen den Atemzügen, es zuckt.
In den Aquariumaugen der sehr jungen Frauen ein Riff.
In den Korallenaugen der späten Mütter ein Fisch.
Tang in den Augen der jungen Männer, Tang und betrunkene Kinder.
Jener Sterndeuter aber, der den Kopf endlich hob
und die Bäckerin mit den weitreichenden Fingern:
Wie schön sie lächeln.
...
In Stücken bewegt, auf den nächsten, den Fluß zu,
Dachsplitt und Brotkrumen, langsame Bleche, Vogelschatten, die Farbpartikel
im Schwarm der Jahreszeiten...
Das alles beiseite.
Da mein Tier seinen Tierkummer hat
und vermessen seinen Menschenkummer mein Mensch,
farbecht gummiert und an die gefiederten Füßen geschnallt.
Mein zufällig geborenes Fünfzehentier Notiz ist im Kalender: Zufälle
gibt's nicht.
Mensch nach dem Kataster, ein zu kleines Kind
(noch im glücklichen Greis wird es klagen...),
geboren mit Eßbesteck und bewimperten Knochen.
Arm nach dem Augenschein, reich nach dem Gehör,
da das Wasser zu Tisch ging und die Kohle zu Bett.
Hier nach Wunsch und wessen Wille
gut zu erkennen im Gehen,
während die Gabel vom Fleisch nimmt und das Fleisch frißt vom Messer.
Endlich bin ich fremd hier.
Das Metall stirbt im Stanniol, das Holz in der Kohle, die Kohle an Seife
und Essig.
Die Asche steht im Gehölz, schläft ein in der Drossel, erwacht in der Katze,
als Türblatt. Hinten drauf kleben Photographien, zwei Etiketten,
eine Briefmarke,
steht ein Name geschrieben, der meine, von früher.
Bitte für uns.
Daß hier ein Hang war, Häuser, die Läden der Fenster im Luftzug
vom Luftzug geschlagen...
Wer wird sich erinnern über dem Kartenblatt des Kalenders?
Wehe, am Berg liegen Steine.
Dieser Donnerstag, weißt du, ist ein praktischer Gürtel.
Dieses Ameisenknopfloch unter der Schleife,
dieser Donnerstag, weißt du, aufgetrennt bis zum Hörsturz, wem
wird er fehlen?
...
Zeitruß überm starken Licht der Träume, der Träume in der Mehrzahl,
nie zu Ende geträumt,
der Wünsche im Vagen geschüttelt,
geschwenkt im Getöse der Uhren, im schnellen Lauf über den Markt.
Stabssäuberlich von Gnaden gefleckte Leinengänger
von Liebe, Erfolg, Erlösung zwanglos aus dem hohlen Hals
in die Hand husten: Äscho, äscho…
Aber auch das ist beiseite gesprochen, am Ende
abgenickt und behauptet, arschüber.
Sagen wir: Vom Perlhuhn im Kopf, dem geborgten, der kleinen Vernunft.
So weht für sich weiter der Mantel, das Haar des Tiers, steht in Flammen,
lodert auf und davon. (Am Horizont die Giraffe, sie wächst noch, weißt du?)
Schließlich, es sterben die Reichen nicht am Zuviel, und die Armen,
den Magen geballt um die Faust, abgewandt das Gesicht
und im Kasten verschlossen.
Das Herz? Ja das Herz... Manchmal tut's weh, weißt du?
Wenn's blättert, weiß von oben nach unten, nachfolgt die Schminke,
vorangeht der Zucker. Wem sag ich's?
Noch der Tod war dem Tod nicht zu entreißen.
Würden sie seine Namen kennen! Könnten sie wenigstens singen...
Was jede Uhr spricht: Sekunden im Welken
das Haar färben, mit Gerede die Münder das Jahr.
Handlungen das Haar färben, formen Gesichter,
grundieren das Denken, die Kurbel drehn, vor und zurück.
Wenn ich ein Vöglein wär, Tochtersohn nicht Jedermanns, reich und berühmt,
verlaufen im Wald.
Komm zurück: Alles ist verziehen.
Lass mich hier liegen: Ohne mich schaffst du es vielleicht.
Mein Gott: Sag, daß es nicht wahr ist.
Das sind alles Märchen.
Also nicht wahr.
Heul doch.
...
Dunkelheit, Schneetreiben, die Hunde kurz vor den Wölfen.
Menschentiere gehalten vom Asphaltsee, Worte geschrien,
schwarz und quadratisch.
Feuerwerk, Laub und Gelächter.
Und jene 365 im Jetzt, von Sternen und Kugeln, von Namen geführt,
Nation unter Nationen, getrieben vom Ah und geschoben vom Oh,
von der Ringmuskeln Bitten um Liebe, den Wünschen der Hände danach...
Noch die Steine springen bergauf, wie sie's gelernt,
die Märzmetalle atmen, das Sommerholz im Gesternpullover
und der Ameisenstrom wächst zu sechs Beinen, Silbe für Silbe -
Am Ort fiktiv, wie Schmerzen wahr, wie Eisen eingerichtet.
Verdammtes Erbstück, die Wärme ist Reibung, mitgebrachter Buckel.
In Stücken geht nicht Zeit, geh ich zu Bruch.
Aufatmen wird das Salz in den Möbeln des Frühjahrs, der Wald
seinen Schritt machen am Ort.
(Der Wald im Unbetretenen aufsteht, mit seinen Tieren, kaum
schließt die Augen der Rücken.)
Räuspern und spucken in den Herbstschuhn werden Fett und Kleber,
treffen wird der Pfeil unter der Zahl, der Schuß aus dem Aktendeckel,
wieder und wieder, das Gras. Kein Trost.
Bewegt werden. Ich gehe nicht gern.
Wenn Glück möglich ist,
nie selbstlos,
sich herzählt über Körper und Rede.
Wie in der Freude die Tür,
in der Straße nach Dortwo.
(Menschen, schrie der Ingenieur,
schreit er noch immer, da, auf der Straße.
Weist mit dem Finger auf seine Gefährten, die still sind, sehr still.)
Rethimno-Mezni Louka-Dresden-Berlin, 2005-2007
Gregor Kunz
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